Vom Unsinn der Dienstausweise von „Erhebungsbeauftragten“ des Zensus 2022

Die mehr als 100.000 von den statistischen Ämtern zu Erhebungsbeauftragten erhobenen Menschen (soweit vorhanden) laufen seit Mitte Mai von Tür zu Tür, um Auskünfte von den von der Volkszählungs-Lotterie beglückten Einwohner*innen einzuholen.

Wie wollen die Behörden verhindern, dass im Zuge dieser Volksbefragung kein Missbrauch betrieben wird? Also – beispielsweise – sich unbeauftragte oder selbsternannte „Erhebende“ Zugang zu Daten oder Wohnungen von Menschen verschaffen?

Die Lösung der Zensus-Verantwortlichen:

Alle zur Befragung Ausgewählten sollen im Vorfeld ein Ankündigungsschreiben erhalten, in dem der Termin der Befragung (vor der Haustür oder im Treppenhaus oder gerne auch in der Wohnung der Betroffenen) sowie der Name der/des Befrager*in genannt werden.

Diese sollen sich dann beim Erscheinen zur „Existenzfeststellung der Befragten“ mit Personalausweis und „Dienstausweis“ legitimieren.

Zur Frage, woran die Befragten denn die Echtheit des „Dienstausweises“ erkennen können will oder kann das Statistische Bundesamt auch auf mehrfaches Nachhaken hin keine Antwort geben.

Dabei wäre die Antwort einfach:

Die Echtheit eines Volkszählungs-„Interviewerausweises“ kann gar nicht festgestellt werden. Dieser besitzt nämlich keine fälschungssicheren Echtheitsmerkmale und ließe sich – bei „Bedarf“ – problemlos fälschen. Siehe dazu anhaltspunktmäßig die Bilderstrecke, die „echte“ Zensus-Dienstausweise aus Hessen und Niedersachsen zeigen und daneben einen „nicht echten“, also gefälschten Nicht-Dienstausweis.

Zusammengefasst:

Der Zensus-Dienstausweis ist unnütz und genau genommen sinnlos. Die „Legitimierung“ der Zensus-Interviewer*innen erfolgt über Personalausweis in Kombination mit dem zuvor zugesendeten Ankündigungsschreiben. Inwiefern letzteres „fälschungssicher“ ist bzw. Nachahmungen und Fake-Ankündigungsschreiben verunmöglicht sei dahin gestellt.

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Rise of the Police: Niedersachsens Polizei erhält einen neuen „Survivor“-Radpanzer von Rheinmetall

Ein ebenfalls neuer Polizeipanzerwagen Niedersachsens – ein „Enok“ der bayrischen Firma ACS. Eigentlich sollte dessen Existenz geheim gehalten werden. Die Polizei sah sich zur Öffentlichkeitsarbeit gezwungen, nachdem wir ein Bild des Fahrzeugs bei einer Fahrt durch Hannover veröffentlicht hatten. (Bildmaterial aus dem Pressematerial des Nds. Innenministeriums, Bildrechte ebendort)

Erneut möchte die Polizei Niedersachsens nicht, dass die Öffentlichkeit über die Anschaffung eines weiteren gepanzerten Polizei-Fahrzeugs (Radpanzer) erfährt:

Aufgrund einer Nachfrage auf der Rheinmetall-AG-Hauptversammlung am 10.5.2022 erfuhren wir davon, dass das Niedersächsische Innenministerium einen weiteren Radpanzer der Baureihe „Survivor“ eingekauft hat.

Unsere dann an das Ministerium gestellte Presseanfrage wurde nun karg beantwortet. Die Antworten – soweite gegeben – und weitere Informationen aus öffentlich zugänglichen Ausschreibungsportalen kurz zusammengefasst:

  • Die Polizei möchte ihr neues Gefährt nicht „Radpanzer“ sondern lieber als „sondergeschütztes Fahrzeug“ bezeichnet haben. Als offizielle Bezeichnung hat man sich gar den Titel „sondergeschütztes KFZ Aurora“ ausgedacht. Aurora ist lateinisch und bedeutet „Morgenröte“. Das klingt wohl weniger martialisch. Die offziellen Kategorienbezeichnungen der Ausschreibungsplattform lauten dagegen: „Mannschaftstransportwagen, gepanzertes Kampffahrzeug„.
  • Das Fahrzeug ist für das SEK Niedersachsen und hat rund 1,34 Millionen Euro (brutto) gekostet – grob 100.000 Euro (netto) mehr, als ursprünglich geplant. (Warum/wofür auch immer.)
  • Der Zuschlag erfolgte am 1.12.2021. Die Auslieferung und Indienstnahme steht – anders als vom Chef der Rheinmetall AG behauptet – noch bevor.
  • Das gesamte Fahrzeug (!) wurde als „geheimhaltungsbedürftig“ eingestuft.
  • Auch alle weiteren Informationen über den Polizei-Radpanzer sind als „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ klassifiziert worden.
  • Öffentlichkeitsarbeit scheint es zu dem Fahrzeug bislang keine gegeben zu haben.

Weitere folgende Informationen ließen und lassen sich der zuvor erstellten Ausschreibung entnehmen (Zitate, Hervorhebungen durch uns):

  • Das Land Niedersachsen, vertreten durch das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport, dieses vertreten durch die Zentrale Polizeidirektion Niedersachsen (ZPD), beabsichtigt aufgrund der anhaltenden Bedrohungslagen die Beschaffung eines gepanzerten Fahrzeuges.
  • Gegenstand der Ausschreibung ist der Abschluss eines Liefervertrages (mit einem Unternehmen) gem. § 2 Abs. 1 VSVgV über die Beschaffung ein zulassungsfähiges, ballistisch geschütztes Offensiv-Fahrzeug für die Nutzung durch Organisationseinheiten der Polizei Niedersachsen. Basierend auf einem serienmäßigen, am europäischen Markt verfügbaren zweiachsigen LKW-Fahrgestell mit Allradantrieb, muss ein Aufbau für den ergonomischen Transport von mindestens 10 Personen/Einsatzkräften + Besatzung in entsprechender persönlicher Schutzausrüstung, realisiert werden. Im Aufbau, müssen in Fahrtrichtung gesehen, jeweils 2 Türen links und rechts, sowie eine Tür am Heck für den Personenzugang vorhanden sein. Die technisch zulässige Gesamtmasse in beladenem Zustand darf 20 000 Kg nicht überschreiten.
  • Der (Haupt-) Einsatzraum umfasst das gesamte Land Niedersachsen. Das bedeutet, dass der potentielle Einsatzraum sich nicht nur auf urbane Gebiete beschränkt, sondern auch anspruchsvolle, zum Teil nicht befestigte Gelände einschließt. Niedriggewässer müssen daher durchfahren werden können, weite Lehm-, Sand- und Geröllböden mit wenigen Erhöhungen müssen durchfahren werden können. Der südliche Teil des Landes Niedersachsens, wird dem Bergland zurechnet. Hier finden sich zum Teil markante Steigungen, die überwunden werden müssen. Das Bergland ist grundsätzlich aus Festgestein allerdings mit einer lockeren Sandschicht überzogen. Dies bedingt eine möglichst hohe Wattiefe und Steigfähigkeit des Fahrzeugs, sowie ein bereits sich mehrfach bewährtes Fahrgestell.
  • Für die besonderen Anforderungen der Polizei Niedersachsen, wird eine sehr direkte und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Auftragnehmer erwartet. Das bedeutet eine ständige Betreuung dieses Projektes durch möglichst nur einen Hauptansprechpartner des Auftragnehmers, sowie einem Kernteam für die Hauptfertigungsschritte des Fahrzeugs.
  • Zusätzlich wird eine Abrufoption im Liefervertrag für ein zweites, baugleiches Fahrzeug vereinbart werden. Diese Option ist dann innerhalb von 36 Monaten nach der Zuschlagserteilung abrufbar.

 

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Rheinmetall-Hauptversammlung 2022: CDU-Parteispenden, Survivor-Radpanzer für Niedersachsen, neue Drohnenproduktion, ein neues Airdefence-System für die VAE, eine Sicherheitsstudie für den FC Bayern München und ein unbemanntes Kampffahrzeug mit Kamikaze-Drohnen-Werfern

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: Der Rheinmetall-Chef Armin Papperger mit seinen Mitarbeitern Franz Josef Jung (CDU, ehem. Verteidigungsminister) und Dirk Niebel (Ex-Generalsekretär der FDP und ehem. Entwicklungshilfeminister) bei der Rheinmetall-Hauptversammlung 2018.

Am 10.5.2022 fand die diesjährige Hauptversammlung des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall AG statt, erneut leider nur „virtuell“ – ein Format, was kritische Fragen zwar nicht ausschließt, aber die noch wichtigeren Nachfragen und einen echten Austausch zwischen Konzernlenkern und kritischen Aktionären erschwert und fast verunmöglicht. Doch darum soll es hier nicht gehen.

Wir haben aus unseren Reihen heraus eine Liste von Fragen an Vorstand und Aufsichtsrat von Rheinmetall stellen können und dokumentieren diese und die (teilweise Nicht-)Antworten dazu.

Bevor wir noch auf ein paar – aus unserer Sicht – interessanten Fragmente aus den Anworten der Rheinmetall hinweisen bzw. diese auflisten möchten, sei noch der Hinweis auf andere Berichterstatter/Fragende der Hauptversammlung erlaubt, für am Thema Interessierte ebenfalls lesenswert:

Nun unsere Fragmente:

  • Rheinmetall hat in 2021 66.000 Euro an Parteien und 5.000 Euro an parteinahe Organisationen gespendet. In den vergangenen zwei Jahren darunter 9.500 Euro Spenden an den CDU-Kreisverband Celle. Das ist der Kreisverband von Herrn Henning Otte. Dieser ist „ordentliches Mitglied des Verteidigungsausschusses und stellvertretendes Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und damit deren verteidigungspolitischer Sprecher und zudem ordentliches Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung der NATO.“
  • Neben den 55 (+ weiteren Optionen) bestellten „Survivor R“ für das BMI für die Bundespolizei hat Rheinmetall bereits weitere Survivor-Panzerfahrzeuge geliefert an: die Polizei Österreich und die Landespolizeien Sachsen, NRW, Berlin und Niedersachsen. Dass Niedersachsen solch ein Fahrzeug erworben und ausgeliefert bekommen hat ist uns zumindest bislang nicht bekannt gewesen.
  • Zum Jahreswechsel 2021/2022 hat Rheinmetall den deutschen Drohnenhersteller EMT übernommen. Zwar will die AG nicht sagen, wie hoch der Einkaufspreis des Unternehmens war, aber interessant ist immerhin, dass EMT angeblich keine einzige Drohnen in den letzten fünf Jahren an deutsche Polizeien geliefert haben will und dass im letzten Jahr auch kein Export von Drohnen in das Ausland stattgefunden hat. EMT arbeitet dagegen an der Weiterentwicklung der Luna-Drohne, nun als „Luna NG“ bezeichnet und hat bereits „ein Pilotsystem“ des neuen Typs, bestehend aus fünf Drohnen und einem Satz Steuerungssysteme an die Bundeswehr geliefert.
  • Gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten hat Rheinmetall ein neues Airdefence System namens „Skyknight“ entwickelt.
  • Für den FC Bayern München hat Rheinmetall eine Sicherheitsstudie für das Stadion in München durchgeführt.
  • Hat Rheinmetall auf seiner Hauptversammlung 2021 sich noch um die Verantwortung zu drücken versucht, unbenannte Fahrzeuge (Militärische geländegängige Drohnenfahrzeuge) mit Kamikaze-Drohnen-Werfern auszurüsten und zu fertigen, so gab der Kriegskonzern nun offen zu, gemeinsam mit dem polnischen Hersteller WB-Group ein solches Fahrzeug für die polnische Armee zu entwickeln. Angebliche weitere Bestellungen hierzu aus Italien und dem Nahen Osten meinte Rheinmetall dementieren zu können.
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Zensus 2022 – Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dann mal für anderthalb Jahren (in Teilen) abgeschafft

Volkszählung 2022 – Ihre Betroffenenrechte sind für anderthalb Jahre abgeschafft …

In wenigen Tagen, am 15. Mai, beginnt in Deutschland die nächste Volkszählung, der sog. „Zensus 2022“. Es wird die erste Volkszählung, die unter DSGVO-Regeln stattfindet. Oder zumindest und theoretisch unter diesen Regeln stattfinden könnte. Denn in Niedersachsen z.B. schließt die SPD-CDU-Groko die sog. Betroffenenrechte für den Zeitraum von anderthalb Jahren einfach mal aus:

Für die Dauer der angestrebten Ergebnisbereitstellung 18 Monate nach Zensusstichtag wird die Wahrnehmung der Betroffenenrechte nach den Artikeln 15, 16, 18 und 21 der [Datenschutzgrundverordnung] bei der Durchführung des Zensus 2022 i. S. von Artikel 89 Abs. 2 DS-GVO ausgeschlossen.“

Quelle: Runderlass des Nds. Innenministeriums vom 22.7.2021 (Hervorhebungen durch uns)

Die „Betroffenenrechte“ umfassen hier neben dem einfachen Auskunftsrecht („Was ist über mich gespeichert?“, Art. 15) auch die Rechte auf Berichtigung, Einschränkung der Verarbeitung und das Widerspruchsrecht gegen die Verarbeitung der auf die eigene Person bezogenen Daten (Art. 16, 18 und 21). Es handelt sich sozusagen um Datengrundrechte (evtl. auch. Persönlichkeitsrechte zur Durchsetzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung) von Menschen in der EU. Die hat eins automatisch. Außer während der Volkszählung.

… denn die Volkszählung könnte die Behörden überlasten

So weit, so schlecht. Die Begründung aber überrascht und irritiert erst recht. Die Ausübung von Betroffenenrechten könnte nämlich zu Arbeitsüberlastung der Behörden führen:

„Die Einschränkung der Betroffenenrechte bei der Durchführung des Zensus 2021 ist angesichts der angestrebten Ergebnisbereitstellung nach Stichtag [15.5.2022, d. Red.] erforderlich, weil die Geltendmachung der Rechte auf Auskunft, Berichtigung, Einschränkung der Verarbeitung und Widerspruch die zügige und vollständige Erhebung der benötigten Angaben ernsthaft beeinträchtigen kann. Die interne Bearbeitung der Betroffenenrechte der Auskunftspflichtigen stellt einen unzumutbaren Verwaltungsaufwand dar. Dieser Verwaltungsaufwand würde der zeitnahen Ergebnisbereitstellung widersprechen. Aus diesem Grund müssen die Rechte der Betroffenen für den Zeitraum eingeschränkt werden.“

Quelle: Entwurf zum Niedersächsischen Ausführungsgesetz zum Zensusgesetz 2021, S. 17

Fassen wir zusammen: Wenn Menschen ihre Rechte als Betroffene nach der DSGVO wahrnehmen, stellt dies [offenbar immer und grundsätzlich – während einer Volkszählung] einen „unzumutbaren Verwaltungsaufwand“ dar. Eine beachtliche Behauptung für eine staatliche Stelle. Daher könnte das die Datenerhebung insgesamt „ernsthaft beeinträchtigen“ und deshalb müssen die Rechte ausgeschlossen werden.

Viele Bundesländer neben Niedersachsen haben ähnlich klingende Begründungen in ihre Gesetze und Verordnungen geschrieben. Die Textbausteine scheinen dabei teils aus der gleichen Quelle zu stammen.

Müssen die das? Dürfen die das?

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Polizei Hamburg mal wieder: Unterschriftensammlung als Straftat, oder: Warum die Hamburger Polizei Nachhilfe in Sachen Versammlungsrecht bitter nötig hat

Bei der Hamburger Polizei nicht beliebt: Unterschriften sammeln gegen biometrische Massenüberwachung (Bildquelle: anna elbe)

Am Sonntag, dem 8.5.2022 haben Menschen der Hamburger Initiative anna elbe Unterschriften für die Europäische Bürger.inneninitiative „Reclaim Your Face“ gesammelt. Jedenfalls haben sie es versucht. Die Polizei störte die Unterschriftensammlung aber. Sie versucht die Sammlung nun als unerlaubte Versammlung hinzustellen und die Engagierten damit zu diskreditieren.

ReclaimYourFace richtet sich gegen biometrische Überwachung in der Öffentlichkeit und wird europaweit von vielen Grundrechtsorganisationen, insbesondere im digitalen Bereich unterstützt (siehe auch unseren Beitrag aus dem März 2021 dazu). Für eine erfolgreiche Europäische Bürger.inneninitiative werden 1 Mio. Unterschriften benötigt.

Die Aktivisti von anna elbe zogen nach eigenen Angaben zu zweit (!) vor das Stadion des Hamburger Fußballvereins `Altona93`, um diese Unterschriften zu sammeln. Dabei hätten sie, nach üblen vorherigen Erfahrungen mit der Hamburger Polizei, noch nicht einmal ein Schild hochgehalten.

Das Sammeln von Unterschriften für Europäische Bürgerinitiativen ist besonders auf Papier-Formularen sehr kompliziert, da Europäischen Behörden viele formale Anforderungen stellen, die die Durchführung so einer Bürger.inneninitiative besonders schwierig gestalten. Umso mehr Respekt verdient das Ansinnen der Hamburger.innen trotzdem Menschen zur Unterzeichnung zu bewegen.

Doch sie sollten weitere Steine in den Weg gelegt bekommen. Die bald auftauchende Polizei nahm sich heraus, die Unterschriftensammlung als Versammlung zu interpretieren, die mindestens 24 Stunden vorher hätte angekündigt werden müssen. Nun stehen die Unterschriftensammler.innen mit einer Strafanzeige wegen unerlaubter weil nicht angezeigter Versammlung da.

Die Initiative wehrt sich gegen den Vorwurf der Polizei:

„Wir haben jedoch keine Versammlung abgehalten. Wir haben Unterschriften gesammelt. Wozu wir uns spontan am Morgen entschieden hatten.“

Auf Fotos ist zu sehen, dass der „Vorwurf“ der Versammlungsbildung tatsächlich ans Lächerliche grenzt. Besonders perfide ist dabei die neuerliche Instrumentalisierung der Versammlungsfreiheit als Repressionsinstrument durch die Polizei. Die Versammlungsfreiheit ist ein besonders hochrangiges Grundrecht und die Polizei – so die Theorie – hat die Aufgabe, dessen Durchsetzung zu ermöglichen, Versammlungen also zu befördern und zu schützen. In der Praxis aber beschädigt sie es immer mehr, wenn ein Versammlungsgesetz missbräuchlich gegen friedlich und demokratisch agierende Menschen als Repressions- und Schweigemittel eingesetzt wird. Die Polizei muss erklären, was sie mit so einem vollkommen überflüssigen Machtgehabe bezwecken wollte und klarstellen, dass Unterschriftensammlungen in Hamburg künftig staatlich unbelästigt erfolgen können.

Die Behauptung, dass es sich bei der Unterschriftensammlung um eine „Versammlung“ im Sinne des Artikel 8 Grundgesetz gehandelt habe, ist offensichtlich absurd (a). Und selbst unter der Annahme, dass die Polizei das, was sie damit behauptet, selber geglaubt hat, ist der Umgang der Polizei mit der Situation schlicht fehlerhaft gewesen (b).

(a) Der Brokdorf-Beschluss vom 14.5.1985 (Herzlichen Glückwunsch zum baldigen 37.!) beschreibt Versammlungen „als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung“ und ist zudem eine Ausprägung ausgeübter Meinungsfreiheit (Randnummer 61). Die Unterschriftensammlung zielt dagegen auf etwas ganz anderes ab. Und dass es im Kontakt mit Passanten und Interessierten möglicherweise zu Unterhaltungen und Diskussionen kommen kann darf den Unterschriftensammelnden nicht zulasten als Indiz für das Stattfinden einer Versammlung anheftet werden – man stelle sich nur vor, was eine derartige Interpretationspraxis zur Folge hätte: Jede private Diskussion zwischen zwei oder mehr Menschen wäre demnach eine „anzeigepflichtige“ Versammlung …

(b) Es gilt das Opportunitätsprinzip: Selbst im Glauben, bei der Unterschriftensammlung hätte es sich um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes gehandelt, hätte die Polizei versammlungsfreundlich reagieren müssen. Das Verbot oder die Auflösung einer Versammlung bedingt wichtiger Voraussetzungen: Das unmittelbare Bevorstehen von (oder bereits erfolgte) Gewalttätigkeiten oder der Begehung anderer bestimmter Straftaten. Oder eine ausreichend gewichtige „Störung der öffentlichen Ordnung“. Alles das war offensichtlich nicht der Fall. Somit wäre die Polizei verpflichtet gewesen, die beiden Menschen nicht nur als Versammlung zu bewerten, sondern auch als solche zu würdigen: Aufzufordern, eine.n Versammlungsleiter.in zu benennen, ggf. Auflagen zu erteilen und die Versammlung dann gewähren zu lassen, ja zu schützen! Das tat die Polizei aber alles nicht.

anna elbe beklagt ebenfalls die autoritäre Einschränkung zutiefst demokratischer Prozesse durch die Hamburger Polizei und bringt es auf den Punkt:

„Wir sehen uns in der Ausübung unserer demokratischen Rechte beschnitten und sind empört darüber, dass Menschen, die sich in den demokratischen Prozess einbringen, dermaßen von der Polizei gegängelt werden. Das ist zutiefst undemokratisch und passt zu autoritär regierten Ländern, aber doch nicht in eine Demokratie, in der laut Grundgesetz sowohl Meinungs- wie auch Versammlungsfreiheit bestehen und alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen soll. Dazu gehört auch, für eine offizielle Bürgerinitiative Unterschriften sammeln zu können, ohne dies 24 Stunden vorher anzumelden.“

Sollte die Polizeiaktion Einschüchterung zum Ziel gehabt haben, so ist sie jedenfalls grundlegend gescheitert. Eine Aktivistin ergänzt:

„Ich bin ja der Ansicht, dass diese Hinderung bei der Ausübung unserer demokratischen Rechte am besten dadurch bekämpft wird, dass wir uns davon nicht einschüchtern lassen und gesehen wird, dass wir uns gegenseitig – über Bundesländergrenzen hinaus – unterstützen.“

Bitte unterschreibt gegen biometrische Überwachung öffentlicher Räume. Jetzt erst recht. Formulare gibt es bei anna elbe oder unter https://reclaimyourface.eu.

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Zum 100. Geburtstag von Otl Aicher

Otl Aichers „Rotis Semi Sans“ – Bild von Esteboix unter CC-BY-SA 3.0 Lizenz.

Otl Aicher, Gestalter, Denkender, Schaffender und Universalgelehrter und -lernender mit Rückgrat wäre heute 100 Jahre alt geworden, wäre er nicht schon 1991 nach einem Motorradunfall gestorben.

War es die letzten Jahrzehnte medial ruhig um ihn, wird er nun, da er sich nicht mehr gegen die Art und Weise seines Gedenkens wehren kann, vielfach gerühmt und gewürdigt. Erwartbar, dass die unbequemen Seiten seines Wesens in diesem Zuge unterbelichtet und untergewichtet – wenn übrerhaupt erwähnt – bleiben.

Nachfolgend ein paar kurze Auszüge aus seinem zusammen mit Josef Rommen verfassten Buch „typographie“ aus 1988,  im Verlag ernst&sohn erschienen. Otl Aicher verzichtete aus guten Gründen weitestgehend auf Großbuchstaben.

„der innenminister ist für mehr sicherheit. heute genügt es nicht mehr, verbrechen zu verurteilen und verbrecher zu bestrafen. es geht darum, bereits das umfeld zu kontrollieren, in dem verbrechen entstehen. es geht darum, personen und gruppen zu erfassen, die beim zustandekommen von verbrechen wirksam werden.

der schlüssel dazu ist eine ausweitung von beobachtung, informationsermittlung und informationsverarbeitung. die technologie der datenermittlung und datenverarbeitung drängt, ob man sie braucht oder nicht, auf den markt, auch auf den, der sich schutz der demokratie nennt.

(…)

der unbescholtene bürger hat keine angst vor seinem leumundszeugnis. sagt der innenminister. er übersieht allerdings, daß er damit auf dem weg in den überwachungsstaat ist.

die demokratische struktur zerfällt, immer mit dem argument, dem bürger zu dienen. ein wohltätiger postfaschismus entsteht mit einem umfassenden kontrollsystem. wobei allein das wertsystem des kontrollapparates und nicht das des kontrollieren, des demokratischen subjekts über die bewertung der kontrollen und die auswertung der daten entscheidet. das grundmotiv dieser hilfestellung für den bürger und seine sicherheit ist der satz: gemeinnutz geht vor eigennutz.

ließe sich die richtigkeit eines solchen satzes verifizieren, so wäre zum mindesten zu fragen: wer bestimmt, was gemeinnutz ist? der innenminister?

(…)

kann der staat überhaupt ein bild des idealen bürgers haben? woher weiß er, was der richtige bürger zu denken und zu tun hat und worin seine sicherheit besteht? ein staat besitzt keine intelligenz, höchstens interessen. und er hat so viele bürger, wie er einwohner hat. den bürger an sich gibt es nicht. er ist eine wortblase, vorzüglich geeignet, vom thema, nämlich den einzelnen bewohnern eines landes, abzulenken.

jeder bürger ist ein individuum, hat eigene vorstellungen und lebt sein eigenes leben, allein, mit anderen, in einer gesellschaft, aber immer als einzelne person, sein leben besteht aus handeln, sich verhalten, aber nicht im befolgen von gesetzen. der gesetzesgehorsam ist für ein gemeinwesen unerläßlich, er ist aber kein lebensziel. jeder bürger entwickelt sein leben selbst auf seine weise.“

Jedes Buch Otl Aichers ist lesenswert.

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Kommunikationskonzern Ströer verweigert Kommunikation, und doch kommt raus: Unlimitierte Aufrüstung für Hannover mit Riesen-Digital-Screens vereinbart, 50 Bauanträge liegen schon vor

Seit Dezember 2021 bitten wir den Medienkonzern Ströer um die Beantwortung einer Presseanfrage. Es geht darin – wie schon berichtet – um Fragen zur Ausweitung der Werbemaßnahmen im öffentlichen Raum der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover (LHH).

Die sonst professionell agierende Medien-AG (und zugleich schattenhaft agierender Influencerkonzern) will uns dazu nicht antworten und reagiert ungewöhnlich dumb:

Wir werden zunächst vertröstet, dann von Hannover an die rheinländische „zentrale Unternehmenskommunikation“ verwiesen und dort wird uns nach zwei Telefonaten mit der geduldigen und höflichen Bitte um Beantwortung unserer Anfrage bei weiteren Anrufen nun nur noch eine Handy-Mobilbox zugeschaltet. Gefühlt wurde unsere Redaktion auf eine schwarze Ströer-Liste unerwünschter Anrufer eingetragen. Unsere auf dem Anrufbeantworter des Kommunikationsprofis aufgesprochenen Bitten um Rückmeldung verhallen dementsprechend unbeantwortet. Noch nicht einmal zu einer Absage zur Bitte um Antworten kann sich der Konzern durchringen.

Was trotz alledem seitens der Pressestelle der Stadt Hannover und anderer, hier im Detail nicht weiter benennbarer Quellen rauskam:

Die Stadt Hannover hat dem Ströer-Konzern bezüglich der Ausweitung der Werbeanlagen durch Umbau von festen oder rollierenden Plakatschildern auf digitale Leinwände einen Freifahrtschein erteilt:

„Vertraglich ist keine Gesamtanzahl an Anlagen festgelegt.“

Mit anderen Worten: Ströer kann so viele der massighaft vorhandenen Groß-Werbeanlagen in Digital-Screens umbauen, wie es will. Und derzeit liegen bereits rund 50 Bauanträge dazu vor, wie uns zugetragen wurde. Auch ohne die uns gegenüber verweigerte Auskunft von Stadt und Konzern haben wir bereits knapp 20 neue oder im Bau befindliche Anlagen registriert (Liste).

Dass derlei vertraglich ungehemmte Ausweitung der Verseuchung öffentlichen Stadt-Lebensraums mit unausweichbarer Dauer-Werbe-Beflimmerung möglichst gar nicht erst öffentlich diskutiert werden soll ist nachvollziehbares Interesse der Ströer-Drahtzieher. Dass man sich dabei aber über das Recht und die Bedürfnisse der Bewohner dieser Stadt auf Erholung einfach hinwegsetzt, das ist die andere Seite der Medaille.

Bei der Forderung zu „Hannover werbefrei“ geht es um das Recht, im öffentlichen Raum unbelästigt zu bleiben und in Ruhe gelassen zu werden – es geht um ein Ende des Verkaufs von erzwungener Aufmerksamkeit von Menschen. Es geht aber weiter auch um Klimaschutz, denn jedes einzelne der neuen Riesendisplays soll angeblich so viel elektrische Energie verschwenden, wie 15 2-Personen-Haushalte. Wenn Ströer & Co. dann argumentieren, dass man doch nur regenerativ erzeugte elektrische Energie verbrauche, so versucht man damit nur abzulenken oder hat nicht verstanden, dass die Devise der Zukunft das Einsparen von Energie lauten wird. Die von den grellen Anzeigen ausgehende massive Lichtverschmutzung ist dann nur noch ein weiteres, bislang totgeschwiegenes Problem der Werbeaufrüstung.

Während das Thema in der Landeshauptstadt derzeit noch kaum Gemüter bewegt, hat sich (nach „Berlin werbefrei“) in Hamburg das Bündnis „Hamburg werbefrei“ etabliert und startklar gemacht, um mittels Gesetzentwurf und Volksinitiative eine werbeärmere und dafür lebenswertere Hansestadt zu erzielen.

Die Haltung hannoverscher Lokalpolitiker wird dem gegenüber durch folgende Ausschnitte aus einem Zeitungsbeitrag aus 2019 deutlich und soll hier weitgehend unkommentiert – weil selbstbelichtend – bleiben:

Werbung gehört seit Generationen zum Stadtbild der Landeshauptstadt Hannover und sollte daher in einem vernünftigen Maß betrieben und fortgeführt werden“, sagt Stadtsprecher Dennis Dix. Die Werbung im öffentlichen Raum leiste einen „erheblichen Beitrag“ zur Finanzierung der weitgehend kostenlosen öffentlichen Toiletten. (…) Hannovers Marketing- und Tourismuschef Hans Nolte sieht in Werbung „einen Beleg für die Kaufkraft und die Lebendigkeit einer Stadt“. Sie dürfe Menschen „nicht an jeder Ecke belästigen“. In Hannover habe man aber einen guten Kompromiss gefunden. Das sieht auch SPD-Mann Lars Kelich so. „Es gehört zum städtischen Leben dazu. Es muss ja nicht aussehen wie in Las Vegas“, sagt er. Auch aus Sicht von FDP-Fraktionschef Wilfried Engelke „wird eine Stadt belebt von Werbung.“

Nur soviel dazu:

Wer Hannover kennt, gerät beileibe nicht ins Schwärmen über genügend allgemein zugängliche Toiletten. Und tatsächlich belästigt die Ströer-Werbung die Hannoveraner eben doch so gut wie „an jeder Ecke“. Wer das nicht glaubt, soll kommen und sich umsehen. Und das ist alles andere als „ein Beleg für die Lebendigkeit einer Stadt“. Wir fragen uns, wie weltentrückt ein Mensch muss, um so eine Interpretation erfinden zu können geschweige denn diese öffentlich zu äußern und zu vertreten zu wagen …

Redaktionelle Anmerkung zum Schluss:

Die von Ströer selbst bereitgestellte, beeindruckende Kartenübersicht über die Positionen aller Werbeanlagen in Hannover ist nach der Verlinkung in einem Beitrag von uns vom Januar 2021 leider offline geschaltet worden … damals waren es rund 4.600 Ströer-Werbeanlagen alleine in der Stadt Hannover (ohne die Region!), die dort aufgeführt waren.

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(Nichts) Neues zum Tod eines Menschen bei Hannover nach Taser-Einsatz durch die Polizei, keine Taser für die niedersächsische Streifenpolizei, Fortschreibung der Mär vom „nicht-tödlichen“ Elektroschocker und eine geheime bundesweite Auswertung polizeilicher Taser-Einsätze

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Schmerzen eines „getaserten“ Menschen

Am 1.10.2021 gab es in Garbsen nahe bei Hannover einen Polizeieinsatz. Ein so genanntes „SonderSpezialeinsatzkommando“ (SEK) setzte dabei eine Taser-Elektroschock-Pistole ein. Der Mann, der in dem Zuge „überwältigt“ wurde verstarb kurz darauf in ärztlicher Behandlung.

Die Polizei hatte den Einsatz des Tasers der Presse und Öffentlichkeit gegenüber zunächst verschwiegen.

Wir hatten dazu nachrecherchiert und im Oktober 2021 darüber berichtetauch darüber, dass das Innenministerium Niedersachsens dazu mauerte und viele Fragen zum Vorfall aber auch zum Einsatz von Taserwaffen bei der Polizei insgesamt aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht beantworten wollte.

Nicht alle, aber einige unserer Fragen hat dann freundlicherweise die Landtagsfraktion der Bündnis90/Grünen aufgegriffen uns als Kleine Anfrage in den Landtag eingebracht – die Antworten dazu liegen inzwischen vor.

Und? Was kam gehaltlich dabei heraus?

Knapp zusammengefasst, bewertet und kommentiert:

1. Zum nach einem Tasereinsatz gestorbenen Menschen
2. Zum Einsatz von Tasern bei der niedersächsischen Streifenpolizei
3. Nichts gelernt: Taser als angeblich „nicht letale“ Waffe
4. Taser-Statistiken für Niedersachsen
5. Geheime bundesweite Auswertung polizeilicher Taser-Einsätze
6. Fazit

Im Einzelnen:

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Kurz vor dem Stichtag der Volkszählung 2022 („Zensus 2022“): Trügerischer Schein der Reibungslosigkeit

Wie auch schon zur letzten Volkszählung 2011 klaffen die Verlautbarungen der eigens zur Volkszählung eingerichteten PR-Stelle mit der Wirklichkeit zumindest in Teilen weit auseinander.

 

Eine „eher schwierigere“ „Rekrutierung“ von „Erhebungsbeautragten“

Aus dem frisch erschienenen „Newsletter“ des Zensus vom 4.4.2022 (Hervorhebungen durch uns):

„Wenige Wochen vor dem Zensus-Stichtag haben die örtlichen Erhebungsstellen in Deutschland ihre Arbeit aufgenommen. Die örtlichen Erhebungsstellen sind für die Durchführung der Befragungen zur Personener­hebung zuständig. (…) Zu den Aufgaben der Erhebungsstellen zählen die Akquise von Erhebungsbeauftragten, deren Schulung sowie die Einteilung und Zuweisung der zu erhebenden Bezirke auf die einzelnen Erhebungsbeauftragten. (…) IT-Verfahren und Online-Formulare erhalten derzeit den letzten Schliff, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden rekrutiert und in ihren Aufgaben für den Zensus geschult und Erhebungsunterlagen werden gedruckt, um pünkt­lich ab Stichtag 15. Mai 2022 die Feldphase starten zu können. Ab diesem Zeitpunkt werden im gesamten Bundesgebiet über 100 000 Erhebungsbeauftragte durch die Kommu­nen eingesetzt.“

Kein Wort von aktuellen Problemen mit der „Akquise“ bzw. „Rekrutierung“ von 100.000 Menschen, die die Befragungen durchführen sollen.

Dagegen heißt es bspw. in einem an verschiedene Behörden und Unternehmen versandten Brief des Landrats des Landkreises Hildesheim aus dem März 2022 (Hervorhebungen durch uns):

„Dem Landkreis Hildesheim fällt die Aufgabe zu, in seinem Gebiet zum Zensus 2022 die erforderlichen Daten im Rahmen des Zensus 2022 zu erheben. Dazu bedarf es sog. Erhebungsbeauftragter die vor Ort tätig werden. Die zu gewinnen gestaltet sich zur Zeit eher schwierig. Daher wende ich mich an Sie mit der Bitte um Unterstützung. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie in Ihrem Haus unter Ihren Mitarbeiter*innen für diese ehrenamtliche Aufgabe werben könnten. Einen entsprechenden Text habe ich diesem Schreiben beigefügt. Herzlichen Dank für Ihre Hilfe und alles Gute für Sie. Ihr Landrat.“

 

Vorbefragungen: 28% verweigern die Antwort

Ähnlich interessant die folgende Passage aus dem frischen Zensus-Newsletter:

„Eine weitere wichtige Maßnahme der Vorbefragung war die Umsetzung der Online-First Strategie. Möglichst viele Meldungen sollten also über den Online-Fragebogen ein­ gehen. Um dieses nachhaltige und ressourcenschonen­de Ziel zu erreichen, legte die Mehrheit der Statistischen Landesämter den Papierfragebogen erst dem Erinnerungsschreiben bei oder verzichtete ganz darauf. Der Rücklauf betrug bundesweit etwa 72 %. Die Rückmel­dungen zeigen, dass der Online-Fragebogen sehr gut angenommen wurde: Insgesamt haben mehr als drei Viertel aller Befragten online gemeldet. Die Online-Quote war besonders hoch, wenn beim ersten Versand kein Papier­fragebogen beigelegt wurde. Diese wichtige Erkennt­nis fließt in die Umsetzung der Hauptbefragung ein: Um bei der Hauptbefragung der Gebäude- und Wohnungs­zählung 2022 eine hohe Online-Quote zu erhalten, erfolgt der erste Versand der Anschreiben zum Stichtag 15. Mai 2022 ohne Papierfragebogen.

Es wirkt unehrlich, wenn „Nachhaltigeit und Ressourcenschonung“ als Grund dafür vorgeschoben wird, die Menschen mittels des Tricks zunächst nicht beigelegter Papierfragebögen dazu zu bewegen/anzutreiben, die Fragen online zu beantworten. Es geht wohl eher darum, den Statistikern und „Erhebungsbeauftragten“ die Arbeit zu erleichtern und Geld zu sparen.

Und man könnte es aus anderer Perspektive auch als ermutigendes Zeichen anerkennen, dass immerhin mehr als ein Viertel aller im Zuge der Vorbefragungen angeschriebenen Menschen selbst nach Zusendung eines zweiten Schreibens inklusive Papierfragebogens weder online noch offline dazu bereit gewesen sind, diese Fragen zu beantworten.

 

Rückblick und Kritikpunkte

Über den Zensus 2022 (vormals: Zensus 2021) berichten wir bereits seit 2017 in loser Folge und versuchen schon seit 2015 ein wenig mehr Licht in das sonst weitgehend unbehandelte Thema zu bringen. Der Hintergrund dafür sind die Erfahrungen aus der Volkszählung 2011 – damals noch im Zusammenhang mit dem damaligen AK Zensus und mit Unterstützung des AK Vorratsdatenspeicherung (siehe das umfangreiche Wiki dort). Die Berichterstattung zur öffentlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zum Zensus 2011 vom 25.10.2017 (siehe hier und noch viel ausführlicher hier) ist dabei ein wichtiger Baustein gewesen – denn die intensive Betrachtung der Verhandlung und die Verhandlungsführung warfen bereits Schatten auf die laufende, sich auf den Stichtag des 15. Mai 2022 beziehende Datenerhebung und -verarbeitung voraus.

Derweil bleibt die ausführliche Kritik am System des „Zensus“ nach wie vor aktuell und so verweisen wir der Einfachheit dazu einfach auf die ausführlichen Texte und Argumentationen zum Zensus 2011. Beispielhaft seien die Volkszählungsfibel 2011, die lose Sammlung von Kritikpunkten im Wiki des AK Vorrat oder ein ebenso altes Aufklärungs-Video genannt. Auch die Folien eines in 2010 und 2011 häufiger gehaltenen Vortrags können einen guten Einstieg in das Thema bieten (als Bild- oder odp-Datei verfügbar). Für Freunde des Podcasts ist die Folge 5 der 6teiligen Podcastreihe zur Volkszählung 2011 hörenswert, die sich eben insbesondere mit der Kritik daran beschäftigt.

 

Der Ukraine-Krieg, der Zensus und die Grundsorge der Statistiker

Derweil versucht die Presseabteilung zum Zensus, die Angst davor zu nehmen, mehr oder weniger offiziell untergebrachte Kriegsflüchtlinge zu melden. Es heißt im aktuellen Newsletter dazu (Hervorhebungen durch uns):

Grundsätzlich gilt, dass für den Zensus 2022 alle Per­sonen erfasst werden müssen, die am Stichtag melde­pflichtig an einer Anschrift wohnhaft sind. Zu zählen sind alle Personen, die meldepflichtig sind – unabhängig da­von, ob sie sich tatsächlich gemeldet haben. Prinzipiell sind alle Personen an ihrem Wohnort meldepflichtig, es gibt jedoch einige Ausnahmen von der Meldepflicht, u. a. eben für Personen aus dem Ausland. Sie dürfen bis zu drei Monate in Deutschland wohnen, ohne sich ­anzu­melden. Dies gilt auch für Geflüchtete aus der Ukraine.

Zynisch ausgedrückt: Die Statistiker*innen sind einigermaßen froh, dass Putin bzw. der russische Machtapparat den Krieg gegen die Ukraine nicht schon einen Monat früher vom Zaun gebrochen hat. Dann nämlich würden einige der vor dem Krieg Geflüchteten nicht mehr unter die genannte Ausnahmeregelung fallen und die Arbeit der Zahlentechniker erschweren oder deren Sorge vor unehrlichen Antworten nähren.

Denn das ist eine der größten Sorgen der Mathematiker*innen: Unehrliche oder fahrlässig falsche/ungenaue Antworten der Befragten aus Mangel an Vertrauen in das Zensus-System und die nur angeblich sichere IT-Zensus-Umgebung. Beispielsweise aus Sorge der Befragten und zur Antwort Gezwungenen davor, dass deren ehrliche Angaben z.B. über die Anzahl und Identität der Mitbewohner*innen anders als verfassungsrechtlich vorgegeben keine negativen Konsequenzen nach sich ziehen werden (Stichpunkt „Rückspielverbot“).

 

Ausblick

Screenshot aus einem offiziellen Kino-Werbespot für den „Zensus 2011“. Mit Blick auf die heutige Wirklichkeit der Wohnungsnot für viele Menschen und den krebsartig wuchernden Immobilien-Kapitalismus sehr ernüchternd …

Wohl erst mit dem Eintreffen der Anschreiben zur Aufforderung der Beantwortung der Fragenkataloge bzw. mit dem Erscheinen der „Erhebungsbeauftragten“ wird das Thema „Zensus 2022“ eine breitere Schicht an Menschen zu interessieren beginnen. Die PR-Abteilung der Zensus-Betreiber wird versuchen, etwa aufkommende Kritik oder Verweigerungshaltungen mittels ihrer „Dialogkampagne“ einzudämmen. Vermutlich nicht ganz ohne Erfolg.

Doch was immer dann noch kommt oder auch nicht kommt:

Das Versprechen, mittels genauerer Zahlen eine bessere, gerechtere und schönere Welt dank besserer politischer Steuerung zu erzielen wird in 2022 wie schon 2011 nichts anderes als eine Illusion bleiben.

Auf manche wirken die Begründungs- und Beteuerungsreden der Statistiker und Politiker daher wie der fortgesetzte Versuch des Reitens eines toten Pferdes.

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In eigener Sache – die bessere Alternative zu Twitter: freiheitsfoo nun im Mastodon-Fediverse

Seit heute senden wir Hinweise zu unseren Neuigkeiten nicht nur auf Twitter, sondern auch via Mastodon:

https://hannover.social/@freiheitsfoo

Hoffentlich das Anfang vom Ende des mit Abhängigkeiten und Intransparenz beladenen Twitter-Kommerzes.

Ein großes Dankeschön an die engagierten Macher von hannover.social!

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