Verfassungsrechtliche Flickschusterei in Niedersachsen – SPD und CDU planen Änderungen im noch frischen Nds. Polizeigesetz NPOG – Stellungnahme des freiheitsfoo dazu

Das erst im Frühjahr 2019 verabschiedete und in Kraft getretene neue – und sehr umstrittene – Polizeigesetz Niedersachsens („NPOG“) soll nach Willen der Niedersächsischen Landesregierung (Groko aus SPD und CDU) nachgebessert werden (siehe dazu die Landtags-Drucksache 18/4852).

Doch trotz der vielfachen und breiten Kritik und ebenso schwerwiegenden verfassungs- wie menschenrechtlichen Bedenken will die Landesregierung lediglich an zwei Stellen nachbessern: Zum einen sollen die Regelungen zu (mehr oder weniger) anlaßlosen Identitätskontrollen wie auch zum anderen die gesetzlich festgeschriebenen Randbedingungen zur Durchführung polizeilichen KFZ-Kennzeichen-Scannings nun so geändert werden, dass sie den noch recht frischen Urteilssprüchen des Bundesverfassungsgerichts genügen.

Noch bis kurz vor NPOG-Verabschiedung hatte die Landesregierung mit Bezug auf die Kennzeichen-Scanning-Gesetzgebung die Meinung vertreten, dass keinerlei Nachbesserung nötig sei.

Wie auch immer: Die verfassungsrechtliche Kritik an allen anderen wunden Punkten des NPOG wollen SPD und CDU auch weiterhin nicht wahrhaben, ignorieren diese. Das taten die Groko-Parteien schon immer, ja sogar direkt im Anschluss an die vorgebrachte massive Kritik des landtagseigenen Gesetzgebungs- und Beratungsdienst (GBD) am 16.8.2018. Dessen Kritik und juristische Expertise führte zu einer späteren Fast-Neufassung des Gesetzentwurfs. Dennoch schwang sich der CDU-Innenpolitiker Lechner damals zu der irrationalen und ebenso absurden wie frechen Behauptung auf:

„Grundsätzlich fühlen wir uns mit unserem Gesetzentwurf bestätigt.“

[Kurzer Filmclip dazu]

Das freiheitsfoo wurde neben 11 anderen Gruppen und Personen zur Abgabe einer Stellungnahme zu den geplanten Gesetzesänderungen aufgefordert. Aufgrund unserer Sorge und Erfahrungen, dass derartige Stellungnahmen als (partei)politisches Feigenblatt missbraucht werden (können) haben wir uns entschlossen, in unserer Stellungnahme breiter als gewünscht Stellung zu beziehen.

Soweit uns bekannt, will der Innenausschuss des Nds. Landtags bislang auf eine mündliche Anhörung zum Gesetzgebungsverfahren verzichten.

Nachfolgend dokumentiert unsere Stellungnahme (auch als pdf-Dokument verfügbar):

 

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freiheitsfoo-Stellungnahme zur LT-DS 18/4852

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir danken für Ihre Einladung, eine Stellungnahme zu den geplanten Änderungen am NPOG abgeben zu dürfen.Landtags-Drucksache 18/4852

Zugleich sind wir nicht dazu bereit, uns den Fokus einer Stellungnahme auf die beiden konkreten Änderungsvorschläge verengen zu lassen und den weiteren Blick auf die politische Entstehung und Fortentwicklung des NPOG darüber hinaus zu verlieren.

Daher gliedern wir unsere Stellungnahme wie folgt und fordern Sie, die Mitglieder des Innenausschusses hiermit dringend dazu auf, der Einholung schriftlicher Stellungnahmen eine breite mündliche Anhörung zur Ermöglichung einer öffentlichen Diskussion folgen zu lassen:

1. Der Einfluß der intransparenten und aus unserer Sicht undemokratischen Arbeit der IMK (und dessen AK II) auf das NPOG
2. Die Entstehung des NPOG im Lichte eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber rechtsextremen und rechtspopulistischen Strömungen im öffentlichen Diskurs, im Landtag (nicht nur!) vertreten durch die AfD
3. Das NPOG als Schößling einer in Parteien und Landtag dominanten Polizei-Lobby
4. Die Blindheit des NPOG gegenüber Polizeigewalt und politisch extremen Strömungen innerhalb der Polizeiorganisation
5. Vom Verdruß über die Ignoranz der Nds. Landesregierung gegenüber der vielfach verheerenden Sachkritik am NPOG durch GBD, LfD und Zivilgesellschaft
6. Zu den geplanten Änderungen des § 12 (6) NPOG
7. Zu den geplanten Änderungen des § 32 (5) bzw. § 32a NPOG

Zusammenfassend stellen wir allerdings fest, dass die Forderungen und Feststellungen aus unserem Gutachten vom 28.7.2018 seitens der Landesregierung fast komplett ignoriert wurden. Die dort erfolgten Hinweise und Feststellungen gelten also fort. Wir werden im Folgenden einige der Forderungen aus diesem Gutachten wiederholen, bekräftigen aber hiermit, dass unsere Kritik von letztem Jahr in Gänze fortbesteht oder sich an einigen Stellen sogar verschärft hat. Insbesondere möchten wir ins Gedächtnis rufen:

Freiheit ist ein Recht, was dem Staat abgetrotzt werden muss und gegenüber dem Staat bewahrt werden muss. Erweiterte Polizeibefugnisse schützen keine Freiheit, sie schränken sie ein. Im Gesetz passiert das an vielen Stellen […] (freiheitsfoo, Gutachten vom 28.7.2018, S. 6)

Die nun vorgeschlagenen Änderungen führen diese Linie der Freiheitseinschränkung fort.

Im Detail:

 

Der Einfluß der intransparenten und aus unserer Sicht undemokratischen Arbeit der IMK (und dessen AK II) auf das NPOG

 

Die Innenministerkonferenz (IMK) versammelt die Innenminister des Bundes und der Länder, um innenpolitische Themen zu behandeln und zu diskutieren. Dieses hinter verschlossenen Türen und bei größter Intransparenz, was Diskussionsverlauf und -ergebnis betrifft. Informationsfreiheitsanfragen an die IMK verlaufen aufgrund eines Konstruktionsfehlers des IFG generell im Sande.

Zwar besitzt die IMK formal keine gesetzgebende Kräfte und ist auch demokratisch nicht dazu legitimiert. Faktisch ist es allerdings so, dass das, was die Innenminister (derzeit ausnahmslos den Parteien CDU, CSU und SPD zugehörig) im Geheimen vereinbaren und beschließen, später oft in den jeweiligen Koalitionen auf Bund- und Länderebene durchgesetzt wird.

In 2017 beauftragte die IMK ihren so genannten Arbeitskreis II (AK II) damit, einen Rahmenentwurf für ein Musterpolizeigesetz zu erarbeiten. Auch das ohne jede Öffentlichkeit.

Mag die Arbeit an diesem Entwurf derzeit auch ins Stocken geraten und die dahinter stehende Absicht, damit bundesweit für eine fundamentale Vereinheitlichung der Polizeigesetze zu erzielen, in weitere Ferne gerückt zu sein, so stellt doch die mit Bayern als Vorreiter beginnende Reform der Polizeigesetze und die damit verbundene grundsätzliche Neuausrichtung der Polizeiarbeit („Paradigmenwechsel“) tatsächlich nichts anderes als die praktische Umsetzung der Musterpolizeigesetz-Absicht in vielerlei Hinsicht dar.

Wir fordern von der Niedersächsischen Landesregierung, sich endlich für Offenheit und Transparenz der IMK einzusetzen und diese selber zu praktizieren.

 

Die Entstehung des NPOG im Lichte eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber rechtsextremen und rechtspopulistischen Strömungen im öffentlichen Diskurs, im Landtag (nicht nur!) vertreten durch die AfD

 

Der öffentliche Diskurs um die sogenannte „Innere Sicherheit“ wird seit vielen Jahren in Teilen abgelöst von nüchterner Betrachtung von Fakten und Forschungsergebnissen geführt. In der Folge dieser Politik – mitunter reine Symbolpolitik, siehe bspw. die Verschärfung der §§ 113-115 des StGB im Frühjahr 2017 – sind die Befugnisse staatlicher Behörden und Institutionen immer wieder zu Ungunsten von Menschenrechten erweitert worden.

Eine besondere Verschärfung dieser Strömung erfolgte mit dem zunehmend öffentlichen Auftreten rechter Gruppen und Parteien, wie der AfD. Seit deren Aufstieg und sich ständig steigernder Radikalisierung in Sachen menschenverachtender und faktenbefreiter Stimmungsmache ist festzustellen, dass andere Parteien – ausnahmslos! – in Sachen Schätzung und Bewahrung von Menschenrechten und einer freiheitlich orientierten Gesellschaft mehr und mehr an Haltung verlieren und sich den Positionen der AfD und anderer rechten Stimmungsmacher annähern.

In diesem Lichte ist auch die Entstehung des NPOG zu betrachten. Die Eile, in der dieses äußerst komplexe wie freiheitszersetzende Gesetzesvorhaben vorangetrieben worden ist, ist dem Druck der AfD und ihrer Anhänger geschuldet, von dem sich SPD und CDU mangels Rückgrat haben beeindrucken lassen.

Übrigens bei dieser Gelegenheit auch bemerkenswert: Haben die Vertreter der AfD im Innenausschuss dem letzten NPOG-Entwurf noch allgemeine Zustimmung signalisiert, so vollzog die AfD dann in der parlamentarischen Diskussion und Abstimmung zur Sache einen vollständigen Haltungswandel, hing ihren Mantel in den Wind und übte sich erneut in populistischer Kritik und Ablehnung gegenüber dem NPOG.

 

Das NPOG als Schößling einer in Parteien und Landtag dominanten Polizei-Lobby

 

Nicht genug, dass der Vorsitzende des Innenausschusses, Herr Adasch von der CDU, und einer der innenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Herr Becker, als ehemalige Angehörige der Polizei im Innenausschuss eine Gewichtung ihrer Arbeit befürchten lassen.

Der Blick auf die Liste derjenigen Gruppen und Personen, die von den Landtagsfraktionen zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme zum NPOG-Entwurf zum August 2018 eingeladen worden sind offenbart eine äußerste starke Präferenz von CDU und SPD von Vertretern der Polizei und Polizeiinteressen.

Den traurigen Höhepunkt bildete die Einladung des Rechtsaußen-Populisten Rainer Wendt durch die niedersächsischen CDU. Wer an dieser Bewertung des Herrn Wendt Zweifel haben sollte, der möge sich dessen öffentliches und heimliches Wirken und Auftreten in Ruhe zur Gemüte führen.

Polizeigesetze haben nicht die Aufgabe, der Polizei ein möglichst einfaches und bequemes Arbeiten zu bereiten. Dieses zumindest nicht primär und nur unter der Prämisse des Bürgers als Souverän unserer Gesellschaft. Wenn Grund-, Freiheits- und Menschenrechte drohen beeinträchtigt oder beschnitten zu werden, dann muss im Zweifel und mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit der Schutz dieser Rechte vor der Vereinfachung der Polizeiarbeit haben. Diesen Eindruck konnte man aber nicht gewinnen, wenn man sich den Vorgang der NPOG-Gesetzgebung in Gänze und im Detail ansieht.

Während die Polizeien und ihre vielfältigen, in SPD und CDU unterschiedlich stark verorteten Gewerkschaften eine starke Lobby bei der Landesregierung besitzen und dort ihre Interessen und Wünsche anbringen können brachten es weder SPD noch CDU fertig, auch nur wenigstens einen Vertreter der Zivilgesellschaft zur Stellungnahme zum NPOG-E einzuladen, dagegen aber 13 (!) Vertreter des Polizeiapparats. Deswegen:

Wir sehen das NPOG als Schößling der im Niedersächsischen Landtag dominanten Polizei-Lobby.

 

Die Blindheit des NPOG gegenüber Polizeigewalt und politisch extremen Strömungen innerhalb der Polizeiorganisation

 

Das NPOG stellt sich als ein Gesetz dar, dass der Polizei erneut neue und weitere Befugnisse zugesteht, ja sogar einen wesentlichen Paradigmenwechsel in der Polizeiarbeit begründet. Dies haben wir bereits in unserer Stellungnahme zum NPOG-E ausführlich beleuchtet.

Umso tragischer, dass zugleich diejenigen Möglichkeiten, die unrechtes Tun seitens der Polizei nicht nur nicht umgesetzt, sondern sogar weiter beschnitten werden:

Nach wie vor keine (gerne pseudonyme) Kennzeichnung der im öffentlichen Raum agierenden Polizeibeamten und -beamtinnen. Eindampfung der Beschwerdestelle für polizeiliches Fehlverhalten. Keine unabhängige Stelle für die Ermittlung und Verfolgung von Polizeigewalt, ganz unabhängig von der Frage, mit welcherlei Kompetenzen diese ausgestattet werden müsste. Ignoranz gegenüber der (sachlich nicht verwunderlichen) rechten Strömungen und dem Entstehen rechter Netzwerke innerhalb der Polizei. Stattdessen für die Öffentlichkeit völlig unverständlich die Einstellung von Ermittlungen gegen Polizeigewalt selbst bei offensichtlich klaren Sachverhalten, die Verleumdung friedlicher Proteste und die Nichtbekämpfung von Rassismus und Gewalt an schutzbefohlenen Geflüchteten innerhalb der Polizeibehörden. Ach ja, und dann noch der Vertreter der niedersächsischen Polizeigewerkschaft, der im Innenausschuss des Niedersächsischen Landtags selber meinte behaupten zu können, dass es in der Landespolizei gar kein Racial Profiling gebe und zugleich rassistisch anmutende Töne zum Besten gab.

Das alles erzeugt den Eindruck, als sei die Polizei und die für die Polizeiarbeit zuständigen parlamentarischen Gremien blind gegenüber Polizeigewalt und rechten Strömungen. Das NPOG untermauert diesen Eindruck in seinen Ausprägungen und im Fehlen potentieller struktureller Korrektive gegenüber diesen Entwicklungen und Haltungen.

 

Vom Verdruß über die Ignoranz der Nds. Landesregierung gegenüber der vielfach verheerenden Sachkritik am NPOG durch GBD, LfD und Zivilgesellschaft

 

Dass der NPOG-Entwurf der derzeitigen Landesregierung aus juristischer Sicht fachlich grobschlächtig und schlecht war ist das eine. Dass und wie die Zuständigen in den verantwortlichen Ministerien und Gremien dann aber Kompetenz des Gesetzgebungs- und Beratungsdienst (GBD) unwertgeschätzt und missachtet haben, das lässt den neutralen Beobachter mit offenem Mund staunend zurück – und erinnert an den vergleichbaren Skandal im Zuge des Gesetzgebungsprozesses zum Niedersächsischen Versammlungsgesetz unter CDU und FDP in 2009 und 2010.

Es soll nicht der Eindruck in Vergessenheit geraten, der am Ende des zweiten Anhörungstages im August 2018 entstand, wonach die Landesregierung den GBD samt seiner unabhängigen Expertise meinte sogar gänzlich unbeachtet lassen zu können!

Dieses und die weitere Ignoranz gegenüber den von GBD, LfD und Vertretern der Zivilgesellschaft vorgetragenen sachlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit und Zulässigkeit weiter Teile des NPOG-E führt bei nicht obrigkeitsstaatlich geprägten, mündigen Bürgern zu nichts anderem als Verdruß über das herrschende politische System. Und ist damit Teil desjenigen Nährbodens, auf dem Rechtspopulismus und -extremismus gedeihen.

 

Zu den geplanten Änderungen des § 12 (6) NPOG

 

Mit dem neuen § 12 (6) versucht die Landesregierung, die derzeit gültige und offensichtlich verfassungswidrige Regelungen zur Befugnis der Kontrolle von sich im öffentlichen Raum bewegenden Menschen zu flicken.

Die vollends anlaßlose Kontrolle wird dabei räumlich beschränkt, wenn dieses auch summa summarum ein weiterhin räumlich umfangreiches Gebiet Niedersachsens umfasst, besonders aber Gebiete, die von besonders vielen Menschen alltäglich passiert und im Zuge der sozialen Teilhabe an unserer Gesellschaft genutzt werden.

Erfreulich, dass die Begründung des Gesetzentwurfs klarstellt, dass es sich beim Terminus der „Einrichtungen des internationalen Verkehrs“ um einen rechtlich unbestimmten Begriff handelt. Weit weniger erfreulich, dass es ebendort nach einer Aufzählung möglicher Orte, die zu diesem Begriff gezählt werden können heißt: „Dabei handelt es sich nicht um eine abschließende Aufzählung.“ (Seite 5f. der LT-DS 18/4852) Ganz offenkundig kann oder will die Landesregierung den Makel der Unbestimmtheit nicht beseitigen und schafft damit Unsicherheit bzw. die Möglichkeit einer potentiell willkürlichen Auslegung dieser Regelung.

Dass die Regelungen des § 12 (6) zur vorbeugenden Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität „erforderlich“ sei, wie auf Seite 6 des Gesetzentwurfs behauptet wird, kann getrost angezweifelt werden. Sie mag hilfreich und aus Sicht der Polizei wünschenswert sein – ganz ohne Frage. Erforderlichkeit lässt sich daraus allerdings nicht herleiten, auch wenn dieses eine unbequeme und zur Begründung der Regelung untaugliche Wahrheit ist.

Als nach wie vor unbestimmt und der Willkür polizeilichen Handelns und polizeilicher Auslegung des Gesetzestextes ausgeliefert erscheinen uns die in Satz 3 genannten Voraussetzungen zur anlaßlosen Kontrolle von Menschen im öffentlichen (Lebens-)Raum:

„Im sonstigen öffentlichen Verkehrsraum kann eine Person nach Satz 1 kontrolliert werden, wenn polizeiliche Erkenntnisse (insbesondere über Tatorte, Begehungsweisen, Fahrwege, Täterstrukturen und Tatzusammenhänge) vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass sie im Zusammenhang mit der Vorbereitung, Begehung oder Entfernung vom Tatort einer Straftat von erheblicher Bedeutung mit internationalem Bezug angetroffen wird.“

Die Gesetzesbegründung führt dazu auf Seite 6 aus:

„In Satz 3 wird danach auf eine räumliche Beschränkung verzichtet und werden Kontrollen für den öffentlichen Verkehrsraum zugelassen. Weitere Eingriffsvoraussetzungen dienen der verfassungsrechtlichen Absicherung. So werden polizeiliche Erkenntnisse vorausgesetzt, die in einem Klammerzusatz nicht abschließend genannt sind. Dazu gehören Tatorte, Begehungsweisen, Fahrwege, Täterstrukturen und Tatzusammenhänge, die vorliegen müssen und die die Annahme rechtfertigen müssen, dass die zu kontrollierende Person im Zusammenhang mit der Vorbereitung, Begehung oder Entfernung vom Tatort einer Straftat von erheblicher Bedeutung mit internationalem Bezug angetroffen wird. Diese Verknüpfung der polizeilichen Erkenntnisse mit der zu kontrollierenden Person schafft eine zusätzliche Eingriffsvoraussetzung gegenüber der aktuellen Fassung. Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG wird damit ein verfassungsrechtlich tragfähiger Anlass für den Grundrechtseingriff geschaffen.“

Mit Blick auf Praxis und Wirklichkeit des Lebens und des Alltags erscheint diese formelhafte Beschreibung derart abstrakt, dass einer beinahe willkürlichen Auslegung alle Wege geebnet werden. Und tatsächlich führt diese Regelung stets – auch bei noch so bester Absicht der sie anwendenden und ausführenden Beamten und Beamtinnen – zum mit der Würde des Menschen unvereinbaren Racial Profiling. „Verfassungsrechtlich tragfähig“ ist dieser Paragraph daher mit Blick auf dessen tatsächliche Umsetzung daher nicht und gehört insofern ersatzlos gestrichen.

Zur Verdeutlichung, wie sich Racial Profiling überhaupt erst „dank“ Gesetze wie dem § 12 (6) NPOG in der polizeilichen Praxis verankern kann zitieren wir aus einer Stellungnahme eines Menschen mit beruflicher Nähe zur Polizei im Kontext der Einrichtung einer Kontroll- und Verbotszone am Hauptbahnhof Hannover:

„Verdachtsfreie Kontrollen können und dürfen sich in der Systematik dieser Polizeibefugnis gar nicht gegen Jedermann richten. Also müssen sie mit bestimmten Kriterien verbunden werden, die aber gerade keine konkreten Verdachtskriterien sind und gerade nicht auf einen bestimmten / konkreten Tatbestand einer Normverletzung abheben.

Statt dessen findet die Konkretisierung über Zuschreibungen und äußere personenbezogene Merkmale und mithin über ein durch die Polizei zugeschriebenes Personenraster statt.

Die Problematik ist dabei, dass die Anwendung der Befugnis bei den handelnden/solchermaßen einschreitenden Polizist*innen unreflektiert Vorurteile verstärkt. Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen werden so in der Binnenkultur der Polizei nachhaltig befördert. Dem folgt (verstärkend) eine selbstreferenzielle Ausrichtung in Einstellungen und Handeln. Dass sich in der Folge die Rassismusproblematik in der Praxis-Kultur der Polizei verschärft, liegt auf der Hand.

Das Ergebnis sind Kontrollen auf einer Grundlage stereotyper Verdachtsmuster – die eben vorrangig ethnozentrisch und/oder an ‚Kriterien‘ von Randständigkeit orientiert sind und dabei im Ergebnis immer diskriminierend wirken.

Menschen am Hauptbahnhof werden also durch diese Form der konzeptionellen Ausrichtung der Polizei verstärkt Opfer von Diskriminierung. Darüber hinaus findet in der Praxis eine Sekundärviktimisierung der Betroffenen durch Bagatellisierung der Kontrollpraxis und der damit verbundenen Diskriminierung statt.

Mit Blick auf das neue NPOG: Noch zu Rot/Grün hatte die Landesregierung die Problematik der Verdachtsfreien Kontrollen erkannt und wollte die Befugnis im Kontext der Stärkung von Bürgerrechten streichen oder zumindest stark einschränken. Seit Rot/Schwarz war dann in der Landesregierung davon auf einmal keine Rede mehr.

Und nun zeigt sich gerade anhand solcher „Konzepte“ wie am Bahnhof, wie die immer weitere Ausdehnung polizeilichen Handelns in ein von ihr selbst imaginiertes Vorfeld einer Gefahr (sogenannte polizeiliche Lagebilder) immer weitergehend Eingriffsqualitäten entwickelt. Der Eigentliche Zweck der Befugnisnorm, nämlich die Bürger*innen vor der Willkür staatlicher Institutionen zu schützen, rückt so in immer weitere Ferne.“

Dass es sich bei diesen Kontrollen um eine „offene Maßnahme“ handelt – wie in der Begründung behauptet – wagen wir, nebenbei angeführt, bei genauerer Betrachtung mehr als zu bezweifeln. Denn zumindest der Prozess des Auswählens der zu kontrollierenden Person kann gar nicht offen stattfinden und ebensowenig werden die potentiell von diesen Kontrollen betroffenen Menschen rechtzeitig um Vorfeld auf den Vorgang hingewiesen, was eine „Offenheit“ allerdings stringent voraussetzen würde.

Wir fordern dringend dazu auf, dem Gesetzentwurf eine Evaluationsklausel sowie eine zeitliche Beschränkung der Regelung hinzuzufügen, falls sich der Gesetzgeber – wie von uns erwartet – nicht dazu entschließen sollte, den Absatz 6 des § 12 NPOG gänzlich zu streichen. Diese Evaluation sollte eine Pflicht zur regelmäßigen Veröffentlichung zu Art, Umfang und Details der Kontrollen nach § 12 (6) beinhalten, soweit eben datenschutzrechlich und persönlichkeitsrechtlich dieser nicht entgegenstehen oder Teil-Anonymisierungen der Rohdaten erforderlich machen.

Der Satz 3 des § 12 (6) des Gesetzentwurfs erfüllt unserer Ansicht nach nicht das Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheit. Diesbezüglich verweisen wir auf ein Urteil des OVG Hamburg vom 13.5.2015 (Az. 4 Bf 226/12), in dem es um die Zulässigkeit eines Polizeigesetzpassus zur Einrichtung sog. „Gefahrengebiete“ geht:

„§ 4 II HmbPolDVG a.F. (heute im Wesentlichen § 4 II Satz 1 HmbPolDVG), der Polizei ermächtigt bei Vorliegen konkreter Lageerkenntnisse sog. Gefahrengebiete zeitlich unbeschränkt auszuweisen und dort Identität von Personen festzustellen und mitgeführte Sachen in Augenschein zu nehmen, verstößt gegen rechtsstaatliches Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheit. Mit Erfordernis „konkreter Lageerkenntnisse“ wird eine relevante, die polizeilichen Befugnisse schon auf der Normebene beschränkende Eingriffsschwelle nicht formuliert. Zum einen bestimmt die Polizei näheren Voraussetzungen eines Eingriffs, was Aufgabe des Gesetzgebers ist. Zum anderen wird nachträgliche Rechtskontrolle durch Gerichte weitgehend inhaltslos. Gesetzgeber ist gehalten, weitreichende und wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen bzw. die Zulässigkeit solcher Verwaltungsentscheidungen durch Gesetz ausdrücklich vorzusehen. Er darf sich nicht jeder Vorgaben enthalten und der Verwaltung die Entscheidung darüber überlassen, wie lange ein Gefahrengebiet eingerichtet wird. Verfahrens- und Zuständigkeitsregelungen in Verwaltungsvorschriften sind ungeeignet, um bestehendes Bestimmtheitsdefizit auszugleichen.“
(Quelle: Clemens Arzt, Polizeirecht Rechtsprechung – Aktuelle Übersicht zu für die polizeiliche Praxis und Ausbildung interessanten Gerichtsentscheidungen, Seite 11)

Ebenfalls stellen wir in Zweifel, ob die neu geplante Regelung die Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs in seinem Urteil vom 21.6.2017 (Az. C-9/16) erfüllt. Seinerzeit forderte der EuGH, dass anlasslose Kontrollen nur dann zulässig sein können, wenn eindeutige („hinreichend genaue und detaillierte“) Regelungen und Einschränkungen zur Intensität, Häufigkeit und der „Selektivität“ dieser Kontrollen festgelegt worden sind. Mit Blick auf den Satz des des neu geplanten § 12 (6) sehen wir das nicht als gegeben an.

 

Zu den geplanten Änderungen des § 32 (5) bzw. § 32a NPOG

 

Auch diese Änderungen tragen den Ruch des politischen Willens zur totalen Kontrolle der Menschen. Die von uns vorgeschlagene Alternative, Kfz-Kennzeichen-Scanning einfach zu verbieten wäre die wahrhaft rechtssichere, transparente und menschen(rechts)freundliche Option gewesen. Stattdessen wird juristisch geflickschustert und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bis zur Bruchstelle (und möglicherweise darüber hinaus) hingebogen. Der in der Begründung unter A III angeführten Behauptung, dass es keine Alternative zu diesem Gesetzentwurf gäbe, können wir uns insofern nicht anschließen und wir halten dieses Postulat für unrichtig.

Dass die ursprüngliche Regelung verfassungsrechtlich heikel sei, wurde von mehreren Gutachten im Vorfeld betont (u.a.: freiheitsfoo: Gutachten vom 28.7.2018, S. 19 f., GBD: Vorlage 35 vom 23.1.2019 zu Drs. 18/850, S. 30). Statt einer Streichung der Norm oder wenigstens einer Aussetzung erklärte das MI aber selbstherrlich, dass die Regelung bis zu einer Rechtsprechung des BVerfG beibehalten werden solle. Eine Begründung ist nicht ersichtlich.

Die verfassungsrechtliche Beurteilung durch das BVerfG ist nunmehr erfolgt und im Ergebnis erwartungsgemäß desaströs auch für die niedersächsische Regelung.

Wir erinnern aus diesem Anlass an das Dictum des niedersächsischen SPD-Generalsekretärs von Januar 2019:

„Die niedersächsische SPD hat immer klar gestellt, dass wir kein Polizeigesetz mittragen werden, das gegen die Verfassung verstößt.“

Das hat ja nicht so gut geklappt.

Mit der nun angestrebten Änderung beabsichtigt die Regierungskoalition, eine offensichtlich verfassungsrechtlich unhaltbare Norm wieder in den juristisch und kontrolltechnisch maximal möglichen Rahmen zu bringen. Eine inhaltlich-sachliche Notwendigkeit für Kfz-Kennzeichen-Scanning ergibt sich aus der Gesetzes-Begründung nicht. Nachlässige Hinweise auf Gefahrenabwehr aus dem Wegfall der Grenzkontrollen mit dem Schengen-Abkommen müssen reichen.

Die bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes genannten (und von der Koalition ignorierten) Kritikpunkte waren: die fehlende Bestimmtheit der Norm und die fehlende Dokumentationspflicht. Beides soll nun ausgebessert werden.

Der Bestimmtheit soll u.a. dienen, dass ein Grenzbezug hergestellt wird, der 30 km von der niedersächsischen Landesgrenze zu den Niederlanden umfasst, sowie weiterhin Bundesfernstraßen, Europastraßen, Bundeswasserstraßen sowie „öffentliche Einrichtungen des internationalen Verkehrs“, deren Zufahrten und „unmittelbar daran angrenzenden Bereiche“. In einem umfangreichen Flächenland mit nur relativ kurzer internationaler Grenze bedeutet dies einen „Grenzbezug“ von Orten, die mehrere hundert Kilometer von internationalen Grenzen entfernt sind. Unbestimmt und eine niedersächsische Erweiterung ist auch die Festlegung der „unmittelbar daran angrenzenden Bereiche“. Wir fordern hier wenigstens eine klarere Regelung, etwa „Züge und Bahnhöfe innerhalb des 30 km-Grenzgebiets oder bis zum ersten Halt hinter dieser Zone.“

Unnötig unbestimmt erscheinen uns auch die „Grundlage polizeilicher Lageerkenntnisse“ (§ 32 a, Abs. 1, Satz 1, Nr. 2) sowie der „internationale Bezug“ von Straftaten (ebd.). Es sollte ausgeführt sein, welche konkreten „Lageerkenntnisse“ hier gemeint sein können und der „internationale Bezug“ sollte explizit auf solche Aktivitäten beschränkt werden, die in direktem Zusammenhang mit physischen Grenzüberschreitungen stehen.

Erschreckend allgemein und unbestimmt sind weiterhin § 32 a (2), Satz 2, Nr. 2 d („Personen […] wegen gegen sie veranlasster Maßnahmen der Gefahrenabwehr“ – welche Maßnahmen sind hier gemeint?) und § 32 a (5): Der Einsatz bedarf einer „schriftlichen Anordnung“? Wessen Anordnung? Wo können Betroffene diese „Anordnungen“ einsehen und wie lange werden sie wo und von wem gespeichert? Bei der vom BVerfG verlangten Dokumentationspflicht hat man sich hier einen sehr schlanken Fuß gemacht.

Weiter bleibt uns ein Rätsel, wie das komplizierte Verfahren eines Kennzeichen-Scannings bei Gefahr im Verzuge zum Einsatz kommen soll und wünschen uns daher, wenn es schon nicht komplett verboten wird, dass § 32 a (5), Satz 2 gestrichen wird.

Und ebenso unklar bleibt uns, wie – ganz konkret und praktisch – die „Kenntlichmachung“ des Einsatzes der Kennzeichen-Scanner durchgeführt werden soll (§ 32 a (4) Satz 1). Denn um die „Offenheit“ dieser Maßnahme (§ 32 a (1) Satz 1) zu gewährleisten sind Kennzeichen-Scanner im Einsatz derart zu kennzeichnen, dass es den Menschen möglich sein muss, diesen – bei Bedarf – auszuweichen. Diese Voraussetzung mag aus polizeitaktischer Sicht unerwünscht und kontraproduktiv sein, dennoch ist dieses die verfassungsrechtliche Grundlage. Wir würden uns also insofern sehr über eine Aufklärung in dieser Sache freuen und für den Fall, dass eine Ausweichbarkeit nicht realisierbar ist oder praktiziert wird, darf aus den o.g. Gründen kein polizeiliches Kennzeichen-Scanning durchgeführt werden.

Dass „aus Verhältnismäßigkeitsgründen“ das Kennzeichen-Scanning „nur vorübergehend und nicht flächendeckend“ durchgeführt werden darf, erscheint uns wie ein linguistisches Feigenblatt. „Vorübergehend“ kann – streng genommen – nichts anderes bedeuten, dass zeitliche Aussetzer zwischen ansonsten durchgängigen Scanning-Einsätzen der Bedeutung dieser Begrenzung entsprechen. Und mit „nicht flächendeckend“ kann – auch hier bei genauer Betrachtung der Bedeutung dieser Wortwahl – eben ein „fast flächendeckender“ Einsatz der Kfz-Kennzeichen-Scanner sein. Also: Hätte die Landesregierung eine wirklich in zeitlichen und räumlichen Umfang begrenzten Einsatz der Kennzeichen-Scanner gewollt, dann wären andere Begrifflichkeiten die richtigen gewesen, nicht aber die hier im Gesetzentwurf gewählten, schwammigen.

Was gänzlich fehlt sind Erläuterungen und Regelungen zur Evaluation des polizeilichen Kennzeichen-Scannings. Nur wer sich die – nun endlich! – dokumentierten Einsätze der Kfz-Kennzeichen-Scanner im Detail und in Sorgfalt anschaut, auswertet und (ausschließlich!) daraus resultierende Erfolge bei Prävention und Strafverfolgung untersucht kann letztendlich eine Bewertung vornehmen, ob diese Maßnahme verhältnismäßig und insofern verfassungsgemäß war und ist – oder eben auch nicht.

Wir raten daher dringend zur gesetzlichen Festschreibung einer regelmäßigen, zum Beispiel jährlichen Evaluation und Überprüfung inklusive der Veröffentlichung anonymisierter Rohdaten für die Öffentlichkeit, um eine politisch unabhängige Kontrolle der Maßnahme zu gewährleisten.

Relativ unbeachtet blieb der Öffentlichkeit bislang die Tatsache, dass die Landesregierung gegenüber der bisherigen, alten Regelung einen neuen Tatbestand einführt, der die Befugnis zum Einsatz der Kfz-Kennzeichen-Scanner legitimieren soll: Die Erfassung und Verfolgung von Fahrzeugen ohne oder ohne ausreichenden Versicherungsschutz (siehe § 32 a (1) Satz 1 Punkt 6). Hiermit öffnen SPD und CDU einer der Anzahl nach stark erweiterten Einsatz von polizeilichen Kennzeichen-Scannern Tor und Tür – man könnte auch von einem „Persilschein“ oder von einer „Blankovollmacht“ sprechen.

Die Begründung hierfür verweist auf die Rechtssprechung des BVerfG vom Dezember 2018 und versucht sich damit zu rechtfertigen, dass derartig un- oder unterversicherte Fahrzeuge als „besondere Gefahrenquelle“ deklariert oder zwangsweise mit „gefährlichem oder risikobehafteten Tun“ verknüpft wären. Aus unserer Sicht eine an den Haaren herbeigezogene Begründung, nach deren Schema man auch den Einsatz von Kfz-Kennzeichen-Scannern zur Suche und Kontrolle von Fahrzeugführern (schein)rechtfertigen könnte, die bereits mindestens einmal wegen Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit oder mit Trunkenheit am Steuer auffällig geworden sind. Das jedoch wäre bei den Wählern von SPD und CDU jedoch wohl eher unpopulär und wird wohl nur aus diesem Grund nicht so im Polizeigesetz festgeschrieben …

Um es also auf den Punkt zu bringen:

Wir fordern die gänzliche Abschaffung der polizeilichen Befugnis zum Kfz-Kennzeichen-Scanning. Alles andere ist – übrigens auch mit Blick auf die Unbeherrschbarkeit der Fehlerquoten beim automatisierten Auslesen der Kennzeichen-Schilder: Fehlerquoten im Bereich von weit über 90%! – nicht mit der Idee einer freiheitlich orientierten Gesellschaft vereinbar.

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