Wolf-Dieter Narr ist tot

Wolf-Dieter Narr war nahezu das genaue Gegenteil dessen, was man gemeinhin als Phrasendrescher oder Dummschwätzer bezeichnet.

Wer mit ihm sprach, wer mit ihm schrieb, der merkte das schnell. Seine Mitteilungen waren kompakt und schnörkellos. Seine Beiträge auf großer Erfahrung, breiter Kenntnis und Erkenntnis beruhend. In der Kommunikation war er direkt, schonungslos ehrlich und war zugleich menschenfreundlich und mit der nötigen Selbstironie ausgestattet. Eben jenes Maß an Spott über sich selber, das einen Austausch mit so einem gescheiten Menschen nicht unerträglich werden sondern – ganz im Gegenteil – zum bereichernden Vergnügen geraten lässt. Wohl auch mit Blick auf sein Alter und seinen Gesundheitszustand verweigerte sich Narr allen kurzlebigen oder oberflächlichen, aktionistisch geprägten Strömungen und Bewegungen – und scheute sich nicht davor, dieses klar mitzuteilen.

Wolf-Dieter Narr ist am letzten Samstag gestorben.

Mit ihm ein Mensch großer inhaltlicher Tiefe und menschlicher Güte, so dass ihn diejenigen vermissen werden, die mit ihm zu tun haben durften oder seine Beiträge zum Politischen verfolgt haben.

Das Feld der Nachrufe sei anderen, kompetenteren überlassen. Wir möchten hier lediglich auf Wolf-Dieter Narr als einen außergewöhnlichen Menschen und auf sein Wirken hinweisen. Auf den Seiten einiger seiner Weggfährten gibt es eine umfangreiche Übersicht über seine Beiträge der letzten Jahrzehnte und einiges davon ist online in den bereits veröffentlichten CILIP-Ausgaben in Gänze nachzulesen – den Aktiven und Engagierten hier wie dort bei dieser Gelegenheit vielen Dank für deren Arbeit!

Jeder Beitrag von Wolf-Dieter Narr hat das Potential, anregend und erweiternd zu wirken – aufklärerisch im besten Sinne. Narrs Texte möchten wir als Lektürenempfehlung für jede*n geneigte*n Leser*in dieses Blogbeitrags ans Herz legen.

Das umfangreiche Themenspektrum seiner Arbeit auszubreiten steht uns nicht zu, wir möchten aber insbesondere auf die wertvollen Beiträge Narrs zur Demonstrationswirklichkeit in Deutschland hinweisen und auf seine kritische Einstellung zu Begriffen wie „Wehrhafte Demokratie“, „Innere Sicherheit“ und „Freiheitlich-demokratische Grundordnung“, die er im Kontext der Geschichte Deutschlands wie kaum ein anderer einzuordnen und zu kommentieren wusste.

Die nachfolgenden Ausschnitte aus öffentlichen Beiträgen Wolf-Dieter Narrs können nichts anderes als Bruchstücke seines Denkens wiederspiegeln.

 

„Das repressiv geneigte Missverständnis des Konzepts der „abwehrbereiten“ bzw. „streitbaren Demokratie“ als Instrument von Verboten durchzieht die Geschichte der Bundesrepublik. Jedoch ist für den Schutz der Grundrechte und die Lebendigkeit der Demokratie im Gegenteil entscheidend, dass und wie Bürgerinnen und Bürger und die etablierten Institutionen sie (aus-)üben. Mit Verboten, mit Mangel an Meinungsstreit ist kein liberales und demokratisches Gemeinwesen zu schützen. Und seien die Meinungen anderer noch so ekelhaft, ja voll der Diskriminierungen oder gar menschenrechtswidrig wie Antisemitismus und die (offiziell zum Teil mit beförderte) Ausländerfeindlichkeit. Die „Botschaften“ aus der Weimarer Republik verlangen keine Einschränkungen von demokratisch grundrechtlicher Praxis. Sie tun das glatte Gegenteil. Rechtsextremismen, so schlimm diese sind, oder andere Äußerungsformen bekämpft man nicht mit Verboten, sondern indem man sie zur Kenntnis nimmt, sich auseinandersetzt, ihre Ursachen behebt. Das ist freilich anstrengend.“ (Aus: CILIP Nr. 72, „Demokratie und Demonstration – Notizen zur unendlichen Demonstrationskontroverse“, August 2002)

 

„Seit 25 Jahren ist eine ungebrochene Kontinuität des [polizeilichen] Aus- und des Umbaus zu beobachten. Trotz zweifelhaftem Erfolg einer Kette von vorbeugenden Verbrechensbekämpfungsprogrammen und den aus ihnen gefolgerten Ermächtigungen begründen ihre Mißerfolge gleich die nächsten, nebst ausgeweiteten Verallgemeinerungen der Aufgaben- und insbesondere der Befugnisnormen. Das Vierteljahrhundert „Innere Sicherheit“ wird durchgehend von einer Kehre bestimmt. Sie gilt der Ausrichtung der Polizei in Richtung unspezifizierter, zukünftiger Gefahren: Prävention statt Repression. Da Polizei und Geheimdienste letztlich auf Bestandsschutz mit informationeller und physischer Gewalt ausgerichtet sind, bedeutet die präventive Kehre notwendigerweise, daß die Grundrechtsverletzungen potentiell zunehmen. Von einem „System Innerer Sicherheit“ kann insofern gesprochen werden, als dasselbe trotz aller internen Differenzierungen, trotz aller institutionellen Konflikte und Leerläufe über eine bemerkenswerte Eigendynamik verfügt und so etwas wie eine „Welt für sich“ darstellt. Diese Eigendynamik und „operationelle Geschlossenheit“ (Luhmann) wird durch die politische Umwelt verstärkt. Zum Zirkel der „Inneren Sicherheit“ und seiner professionellen Propagandisten gehört, daß das, was konkrete bürgerliche Sicherheitsleistung bedeutet, unklar gelassen wird. So gerinnen sehr unterschiedliche Sicherheitsbegriffe und Sicherheitsleistungen im unausgewiesenen Begriff „Innere Sicherheit“. Die angenommene Statik des Gewaltmonopols erweist sich als überaus dynamisch. In diesem Sinne bildet sie kein „Gegengift“ gegen die beschleunigt auseinanderlaufende Gesellschaft. Im Gegenteil. Die dynamisch veränderte, technologisch hochgerüstete Polizei und die Geheimdienste lockern den dringenden bürgerlichen Bedarf nach Rechtssicherheit. Sie machen Kontrolle schier unmöglich. Skandale haben deswegen zur Folge, daß sie keine tatsächlichen Folgen haben, sondern eher Ministerrücktritte statt organisatorische Änderungen zeitigen.“ (Aus: CILIP 48, „Das ‚System Innere Sicherheit‘ – Eine erstaunlich kontinuierliche Karriere“, August 1994)

 

„„Die Polizei der Zukunft ist unterwegs“, lautete die Gegenwartsprophetie 1980. „Die seither, seit der Konsolidierung des modernen Staates primär repressiv ausgerichtete Polizei wird durch eine Polizei der Prävention modernen Typs abgelöst … Geschah früher im Wesentlichen … die Prävention durch die Repression, wird heute in zunehmender Weise die Repression präventiv vorverlagert. Zugespitzt gesprochen: Die Verlaufsform der Repression ist heute die Prävention.“ Im Vollzuge dieses „Griffwechsels“ treten an die Stelle aktueller Gefahren „Gefahren“, die „noch nicht genau verortet werden können“. Darum wird „geopolizeilich“ im Sinne einer „Raumdeckung“ verfahren. „…die Polizei wird zu einer Verkörperung der Gesellschaftspolitik und ‚sickert‘ demgemäß in alle Poren der Gesellschaft.““ (Aus: CILIP 100, „Der liberale Rechtsstaat als Fassade – Bürgerrechte im Schatten polizeilicher Gewalt“, November 2011)

Dieser Beitrag wurde unter Bericht veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.