Der Messengerdienst „NIMes“ der niedersächsischen Polizei – eine über die Datenschutzbedenken der LfD Niedersachsen hinausgehende Kritik: Hohes Missbrauchspotential durch rechte Gruppen und Strömungen in der Polizei durch Unkontrollierbarkeit privater Verbreitung und der Nutzung der Polizei-App

12.9.2020, Hannover: Ein Polizist aus Göttingen filmt mit einem Smartphone (rechtswidrigerweise) eine friedliche Demonstration.

Ein paar Schlagzeilen aus jüngerer Zeit (eine fast beliebige Auswahl von noch viel mehr!):

19.9.2020: Mecklenburg-Vorpommern – Polizisten wegen rechtsextremer Chats suspendiert

29.10.2020: Hessen – 77 Verfahren nach rechtsradikalen Verdachtsfällen bei der Polizei

2.12.2020: Rechte in Polizei und Sicherheitsbehörden – Die dunkle Macht der Chats

14.12.2020: Nun mehr als 200 Verdachtsfälle – NRW-Skandal um rechtsextreme Polizisten-Chats weitet sich aus

29.12.2020: Rechtsextreme Chats? Erneut Durchsuchungen bei Polizisten [Osnabrück, Niedersachsen]

2.1.2021: Verdacht auf rechtsextreme Aussagen – Fast 50 Disziplinarverfahren bei Berliner Polizei

5.1.2021: Polizei mahnt Kollegen: Vorsicht bei privaten Chats

Aber unverständlicher- und verstörenderweise auch:

9.2.2021: Rechtsextreme Chats bei Polizei? Straf-Ermittlungen gestoppt [Osnabrück, Niedersachsen]

„Einzelfälle“?

Nach monate- bis jahrelanger Auseinandersetzung titelte die Niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte (LfD) in einer Pressemitteilung gestern nun (Hervorhebungen durch uns):

LfD Niedersachsen beanstandet Polizei-Messenger NIMes wegen Einsatz auf privaten Geräten

Die Landesbeauftragte für den Datenschutz (LfD) Niedersachsen hat gegenüber dem Niedersächsischen Innenministerium eine Beanstandung des polizeilichen Messengers NIMes ausgesprochen. Die LfD bemängelt vor allem, dass der Messenger auf privaten mobilen Endgeräten der Polizistinnen und Polizisten betrieben wird. Dieser Ansatz des „Bring your own device“ (BYOD) bringt Risiken und Gefährdungen mit sich, denen die Polizei bislang nur mit unzureichenden Sicherungsmaßnahmen begegnet. (…) „Durch den BYOD-Ansatz ist im laufenden Betrieb eine unüberschaubare Kombination von verschiedenen Geräten, Betriebssystemen, sonstiger Software und Konfigurationen im Einsatz“, kritisiert Barbara Thiel. „Gleichzeitig ist der jeweilige Anwender dafür verantwortlich, sein privates Endgerät vor Schadprogrammen zu schützen. Das wird dem Schutzbedarf der bedrohten Daten in keiner Weise gerecht.“ Die Übertragung von Text-, Bild-, Ton- und Standortdaten kann theoretisch jederzeit durch Schadsoftware angegriffen werden, ohne dass Dienstherr oder Anwender es bemerken. Ein privates Endgerät mit NIMes ist so vom Grundsatz nicht wesentlich besser geschützt als jedes herkömmliche Smartphone mit halbwegs aktuellem Betriebssystem. Zwar führt die Polizei bei NIMes-Anwendern anlasslose Kontrollen durch, doch auch diese helfen durch das BYOD-Prinzip nicht weiter, da private Geräte explizit davon ausgenommen sind. (…) Verbieten kann die LfD Niedersachsen der Polizei den Einsatz von NIMes auf privaten mobilen Endgeräten nicht, da ihr dafür die nötigen Befugnisse fehlen. Zur nun ausgesprochenen Beanstandung ist das Innenministerium gemäß der gesetzlichen Vorgabe zur Stellungnahme aufgefordert worden.

Das ist eine inhaltlich sehr beschränkte und aus unserer Sicht eingeengte Kritik. Dem haben wir noch einiges an brisanten Bedenken hinzuzufügen, hatten dazu Ende 2020 recherchiert und nachgefragt.

Aufgrund der Aktualität hier nun die zusätzliche Kritik am NIMes-Projekt stichpunkthaft und in aller Kürze:

  • „NIMes“ ist ein Messenger-Dienst, der von dem Unternehmen „stashcat GmbH“ programmiert und vertrieben wird. Diese gehört zur „heinekingmedia GmbH“ und die wiederrum zum Madsack-Konzern, der organisatorisch und personell vielfach mit der Landeshauptstadt Hannover und dem Land Niedersachsen und seiner Landespolitik verquickt und verstrickt ist. Jenseits des „BILD“-Blättchens betreibt Madsack u.a. ein Zeitungsmonopol für Hannover (Hannoversche Allgemeine Zeitung und Neue Presse) und beweist sich in diesem Zusammenhang des öfteren als unkritischer Polizeiticker-Wiederkäuer.
  • „Stashcat“ hat ein „hübsches“ Werbevideo für seine Polizei-Anwendung produziert. Tatkräftig unterstützt von der Polizei Niedersachsen. So erfolgten die Dreharbeiten am 23.1.2019 auf dem Gelände der Zentralen Polizeidirektion an der Tannenbergallee in Hannover, auch wirkten einige Polizist*innen in dem Film als Darsteller mit. Hochrangige Polizisten und der CDU-Innenpolitiker und Landtagsabgeordnete Adasch stellten sich als wohlwollend äußernde „Experten“ zur Verfügung. Und das alles für lau: „Die Firma stashcat GmbH stellte für alle Beteiligten Snacks und Getränke bereit. Darüber hinaus wurden der Zentralen Polizeidirektion Niedersachsen Nutzungsrechte an dem Video (zur internen Verwendung) eingeräumt.“ Oh, wie nett! Das könnte man auch als Subvention durch die Hintertür bewerten.
  • Es gibt eine Reihe an Sicherheitsmeldungen zu stashcat/NIMes. Stashcat bewertet dies durchweg als „unkritisch“. Andere IT-Kundige sehen das ganz anders. Darauf angesprochen reagiert das Nds. Innenministerium ausweichend bzw. will keine eigene Stellungnahme abgeben. Das ist selbstkommentierend.
  • Auf NIMes sind wir übrigens überhaupt erst aufmerksam geworden, als wir einen Polizeibeamten aus Göttingen am 12.9.2020 dabei erwischt haben, wie dieser rechtswidrigerweise während seiner Arbeit mit einem Smartphone Aufzeichnungen von einer friedlich verlaufenden Demonstration angefertigt hat (Video). Bald tauchte die Frage auf, ob es sich dabei tatsächlich um sein eigenes oder um ein Polizei-Smartphone handelte und ob er möglicherweise in diesem Kontext die NIMes-App verwendet hat. Die Antworten auf diese Vorgänge sind bis dato übrigens alle noch offen.
  • Die Polizei Niedersachsen betreibt derzeit ca. 470 Tablets und 1.630 Smartphones (Typ: Sony Xperia X Smartphones (Suzu) und Sony Z 3 Compact Tablets). Insgesamt sollen es mal 5.000 Devices werden. Die Polizei-Geräte lassen sich von außen nicht ohne weiteres als Polizeieigentum erkennen, es kann also von außen nicht unterschieden werden, ob ein*e Polizist*in ein eigenes oder ein Behörden-Smartphone in den Händen hält und nutzt.
  • Mit Stand September 2020 sind zehn Polizei-Smartphones und vier Polizei-Tablets abhanden gekommen. Erst nach Bekanntwerden und Meldung des Verlusts können die Geräte gegen den rechtswidrigen Zugriff auf Polizeidaten via NIMes gesperrt werden. Ein Detail, das noch viel mehr Aufmerksamkeit verdiente, worum es hier aber nicht gehen soll.
  • Aber: NIMes kann und darf (so jedenfalls die Meinung des Innenministeriums) auch auf den privaten Smartphones und Tablets der Polizisten und Polizistinnen per App betrieben und genutzt werden! Die NIMes-App ist nach Angaben des Innenministeriums auf rund 20.800 (!) privaten Geräten installiert – Stand 15.9.2020. Das ist eine gegenüber der ca. 2.100 Polizeigeräten enorm viel und darf als exessive Nutzung interpretiert werden.
  • Wer die Erlaubnis zur Einrichtung von NIMes auf seinem eigenen Smartphone erhalten hat kann auf bis zu zwei weiteren Geräten (hoffentlich eigenen!) diese App ebenfalls installieren!

So weit, so bedenklich. Doch es kommt noch schlimmer:

  • Mit NIMes kann man Textnachrichten, Fotos und Videos teilen.
  • Es können „Channels“ eingerichtet werden – und das von jede*m, die/der die NIMes-App auf seinem Gerät installiert hat!
  • Derzeit gibt es ca. 5.000 (!) Channels innerhalb von NIMes.
  • Die Channels sind unmoderiert, sie werden auch nicht von polizeiinternen Instanzen kontrolliert, ja es gibt noch nicht einmal die technische Möglichkeit dazu!
  • Auf die Frage, wie dann gesichert werden kann, dass die Channels nur zu dienstlichen Zwecken genutzt werden heißt es ziemlich lapidar und wirkarm: „Dies wird organisatorisch im Rahmen der Akzeptanz der Benutzervereinbarung durch die Nutzenden sichergestellt.“ Freiwillige Selbstkontrolle also.
  • Über den Inhalt, geschweige denn dem Wortlaut der dazugehörigen Dienstvereinbarung hüllt man sich trotz Nachhakens in Schweigen. Als Begründung für die Geheimhaltung schiebt man das „Personalvertretungsgesetz“ vor.
  • Auch die Datenschutzfolgeabschätzung will man noch nicht einmal teilgeschwärzt öffentlich werden lassen.
  • Neben „Channels“ erlaubt NIMes auch die Einrichtung eigener (dienstlicher, technisch möglich aber auch privater!) Chats. Auch die Einrichtung eines solchen geschlossenen Chats ist durch jede*n Nutzer*in möglich. Und auch hier: „Chats als auch Channel können nur durch die jeweiligen Teilnehmer eingesehen werden.“ Und schlimmer noch: „Die Anzahl der bestehenden Chats ist nicht auswertbar.“

Unser Fazit:

Mit NIMes hat die Polizei Niedersachsen ein digitales Kommunikationsmittel bereitgestellt (und bezahlt dafür schätzungsweise rund 80.000 Euro pro Monat alleine nur an laufender Software-Nutzungsgebühr!), über dessen Nutzung (oder Missbrauch) es die Kontrolle verloren hat, ja niemals Kontrolle hatte.

Die Sorge, dass dieses von staatlicher Seite alimentierte und geschützte und in Zusammenarbeit mit verstrickter Privatwirtschaft betriebene Kommunikationswesen für beispielsweise rechte Gruppen (hoffentlich: Splittergruppen) innerhalb der Polizeibehörden für eigene Zwecke missbraucht wird, ist groß.

Das wirft jenseits der berechtigten datenschutz-juristisch begründeten Kritik der LfD Niedersachsen viele Fragen auf, die eine weitere Nutzung von NIMes nicht nur unzulässig, sondern unerträglich werden lässt.

Wer wie das Innenministerium auf fachliche Fragen rund um IT-Sicherheitsfragen naiv und blauäugig meint antworten zu können und zudem die Risiken des Missbrauchs dieser digitalen Werkzeuge ganz auszublenden vermag, dem sollte man dieses Instrument besser aus der Hand nehmen!

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In eigener Sache: freiheitsfoo-Mailingliste ist aktuell „außer Betrieb“ – „Reparatur“ oder Ersatz ist in Arbeit.

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Im Gefahrenrausch

[Ein Gastbeitrag eines Menschen aus der Polizei.]

1947 noch kein Problem: Schlittschuhlaufen ohne vorherige polizeiliche Erlaubniserteilung. Offensichtlich angstfrei. (Bild 183-2005-0825-510 des Bundesarchivs, CC-BY-SA 3.0)

Es war mal wieder so weit: Der Winter zeigte sich von der eher extremeren Seite, es wurde („bitter“) kalt und zwar gleich so sehr, dass die Wasserflächen von Seen und Tümpeln gefroren. Schon sind sie da, die Schlagzeilen und Warnungen vor dem Betreten der Eisflächen. Selbstverständlich verbunden mit den allerschönsten Schreckensszenarien, die dem Einbrechen ins Eis folgen können. Schon Wilhelm Busch hat sich in seiner Geschichte „Der Eispeter“ der damit offenbar verbundenen Urängste in Wort und Bild eindrucksvoll angenommen. Alle Warnungen schlägt er aus, der Eispeter. Mit bloßer Unvernunft schnallt er sich die Schlittschuhe unter, um Spaß auf dem Eis zu haben. Prompt und wie im Grunde gar nicht anders zu erwarten, bricht er ein und kann von den unerschrockenen, sich selbst den enormen Gefahren der Natur aussetzenden Helfern nur noch als Eiszapfen geborgen werden. Schreckliches Leid bringt er mit seinem Hedonismus über die Familie, denn nach dem Auftauen am heimischen Ofen bleibt nichts übrig vom Eispeter als ein dampfender Brei, der mit der Suppenkelle aufgenommen, in einen Topf gefüllt gut eingemacht zur Mahnung und Warnung nur noch im Vorratsschrank beim Käse und bei Gurken zu verwahren ist. Praktisch in direkter Linie vom Eispeter setzt dann auch die hannoversche Neue Presse an und titelt am Montag danach für die Region Hannover im Brustton der Entrüstung „Trotz Verbot: Alle heiß auf Eis“. Im Text ist von der lieben (und in diesem Fall vergeblichen) Mühe der Polizei zu lesen, „die Menschen vom Eis zu holen“.

Wie steht es eigentlich heutzutage um unseren medial inszenierten Gefahrenfokus im Verhältnis zur Realität am Ende des Tages, könnte man doch nun ex post einmal fragen. Und dann könnte man natürlich exemplarisch auch fragen, woher die Polizei die Auffassung nimmt, auf der Grundlage medialer Panikmache eine Art Selbstermächtigung zur selektiven Gefahrenabwehr zu haben – denn mögliche Gefahren von Freizeitbetätigungen sind nun nicht nur auf dem Eis bekannt, sondern ganz im Gegenteil auch ohne die Einmischung und ein Zutun der Polizei ebenso gegeben wie vorstellbar. Klar: Die Behörden warnten einmal mehr, die Eisflächen seien nicht tragfähig und „mit dreizehn Zentimetern zeigte sich das Eis auf dem Maschsee noch weit entfernt von einer behördlichen Freigabe“. Das kann einer Behörde Grund genug für Gefahrenhinweise sein, um möglicherweise massenhaft auftretender Unvernunft und in deren Folge ebenso massenhaft auftretenden Einbrüchen ins Eis mit einer dann zu besorgenden Überforderung der Rettungsdienste – ja am Ende am Beispiel vom Eispeter der massenhaften Verflüssigung von Eingefrorenen zu Brei von vornherein wirksam entgegenzutreten. Aber ein generelles „Verbot“ (den Maschsee mal ausgenommen) eine öffentliche Wasserfläche zu betreten, so sie denn zugefroren ist, gibt es gar nicht. Kann ein abstraktes Gefahrenkonstrukt also Grund genug dafür sein, dass die Polizei ihren Machtapparat aufrödelt, mit Lautsprecherdurchsagen um Gewässer dödelt und Weisungen erteilt, die Eisflächen unverzüglich zu verlassen? Am Ende gibt es offenbar nur deswegen keine durchgreifend problemlösenden Platzverweise (also konkrete weitreichende Eingriffe der Polizei in Grundrechte), weil angesichts der Menge an Menschen in frischer Luft und auf dem Eis deren Durchsetzung wohl nicht gelingen konnte.

Im allgegenwärtigen Gefahrenrausch werden die Grenzen zwischen abstrakter Gefahrenabwehr auf der einen Seite und unmittelbaren Eingriffen der Polizei in Grund- und Freiheitsrechte zur Abwehr vermeintlich konkreter Gefahren auf der anderen zunehmend außer Kraft gesetzt. Insoweit durften wir im Winterwunderland dieses Wochenendes einmal mehr erleben, wie Gefahrenprognosen im Einklang mit medial aufgeblasenen Horrorszenarien mit den gegebenen Realitäten am Ende des Tages gar nichts zu tun haben. An sich nicht so problematisch, würde die Polizei nicht zunehmend diese Schieflage in ihrem Sinne für vermeintlich unabweisbaren Handlungsbedarf reklamieren und die Politik dem entsprechend immer mehr und weitergehende Befugnisse, zusätzliches Personal, Aufrüstung und Bewaffnung der Polizei fordern und durchsetzen. Insoweit war das Winterwunderland dieses Wochenendes exemplarisch für den Stand der Dinge. Die Mechanismen der Detektion von Gefahren haben sich in nur wenigen Jahren grundlegend gewandelt. Der Bedeutungszuwachs des Sicherheitsgedankens ist enorm. Die „Gefahr“ selbst ist praktisch viral gegangen und aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Und doch trotzten am vergangenen Wochenende Tausende der vermeintlichen Lebensgefahr und gingen überall in der Region aufs Eis. Tatsächlich wird von massenhaften Einbrüchen ins Eis in der Region Hanover am vergangenen Wochenende nichts berichtet. Nicht ein einziger Eispeter ist offenbar konkret zu beklagen. Die Prognose möglicher Gefahren und die Realität fallen also zum wiederholten male diametral auseinander. Wo Menschen erste vorsichtige Schritte aufs Eis wagen und tatsächlich erleben, dass es trägt, verhallen offenbar die Warnungen trotz aller möglichen und gleichwohl denkbaren Gefahren schnell. Jedenfalls ist hier erneut bei der Betrachtung ex post gar kein Schaden im prognostizierten Rahmen eingetreten. Eigentlich Grund genug nicht nur zur formalen Rückschau, sondern vor allem ein Grund, die gegebene Realität in künftige Bewertungen der Gefahr maßgeblich einzubeziehen. Offensichtlich ist auch im Sinne wirksamer Gefahrenabwehr der Bedarf für ein allzeit polizeilich betreutes Leben nicht in dem Ausmaß gegeben und erforderlich, wie sich das die Polizei gern in ihre Bücher schreibt. Eigentlich ein schönes Lehrstück in Sachen doppelter Buchführung und eine Steilvorlage für mehr Mißtrauen gegenüber dem unablässigen Gefahrenrausch in den wir ebenso unablässig politisch/polizeilich/medial versetzt werden. Die Wirkung im betreffenden Rauschzustand stellt sich nämlich tatsächlich nicht in immer mehr Geretteten, sondern in immer weniger Freiheiten ein.

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Bundesverfassungsgericht will Verfassungsbeschwerde gegen „Section Control“ nicht behandeln – begründet das aber nicht.

Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) trieb und treibt das Pilotprojekt der „Section Control“-Durchschnittsgeschwindigkeits-Meßanlage voran und möchte diese gerne vielfach und bundesweit im Einsatz sehen. Bei diesem Konzept werden alle (sic!) die Straße befahrenden Fahrzeuge mittels automatisiertem KFZ-Kennzeichen-Scanner mindestens zwischenzeitlich erfasst und identifiziert, ja sogar zwei mal pro Abschnittskontroll-Anlage.

Gegen diese Methode, die trotz dürftigster Statistik von den Technikfetischisten als „effektiv“ bewertet und damit beworben wird, laufen zwei Gerichtsverfahren von durch die Pilotanlage betroffenen Autofahrern. Während die als zweites eingereichte Klage in die Warteschleife gelenkt wurde fand das erste Verfahren nun ein unbefriedigendes Ende:

Die im Oktober 2020 eingereichte und inhaltlich ordentlich erstellte Verfassungsbeschwerde (wir berichteten am 5.1.2021 darüber und veröffentlichten die Beschwerde im Volltext) wurde – wie jetzt erst bekannt wurde – gemäß Beschluss vom 11.1.2021 nicht zur Entscheidung angenommen.

Begründung: keine.

Damit setzen die Richter*innen aus Karlsruhe eine unrühmliche Mode fort, substantiierte und relevante Verfassungsbeschwerden ohne irgendeine Begründung nicht behandeln zu wollen. Die hier bereits einmal formulierte Kritik, wonach die Entscheidung des Gerichts über Annahme oder Nichtannahme möglicherweise damit zusammenhängen mag, ob eine Verfassungsbeschwerde Medienöffentlichkeit mit sich zieht oder nicht, sei hier im Ansatz wiederholt.

Die Realität ist also: Ein „Jedermann-Recht“ zur Einreichung einer Verfassungsbeschwerde ist nicht mit dem Jedermann-Recht auf inhaltliche Behandlung und Auseinandersetzung verbunden. Zumindest wird dieses nicht deutlich bzw. dem Bundesverfassungsgericht mangelt es an Transparenz und Offenheit, dieses inhaltlich zu kommunizieren.

Mehr Vertrauen in das Gericht und die Gerichtsbarkeit gedeiht dadurch nicht …

Ob das zweite Verfahren angesichts dieser Situation nun fortgeführt wird ist derzeit noch unentschieden.

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Schein und Sein – Von den Widersprüchlichkeiten polizeilichen Selbstverständnisses im Zuge des „Safer Internet Day“

Finde den Fehler – Screenshot des Internetauftritts der Polizeidirektion Hannover.

Seit 2008 gibt es den u.a. von der EU mit-initiierten „Safer Internet Day“. Auch die Polizeidirektion Hannover beteiligt sich an dem diesjährig am heutigen 9.2.2021 stattfindenden Aktionstag und beschreibt dessen Ziel wie folgt:

„Ziel dieses Tages ist es unter anderem, die Sensibilität für das Thema „Sicheres Internet“ zu fördern und Menschen aller Altersgruppen dazu zu bewegen, der Sicherheit im Internet mehr Aufmerksamkeit zu schenken.“

Nun – die Polizeidirektion könnte ihre Glaubwürdigkeit stärken, wenn Sie mit Blick auf ihre Vorbildfunktion voranschreiten würde und ihre Präsenz auf Facebook, Twitter und Instagram endlich aufgeben würde.

Das würde auch gut zu dem Schwerpunktthema des Jahres 2021 passen, denn das lautet:

„Wem glaube ich? Meinungsbildung zwischen Fakt und Fake“

Denn dass die Polizeien ihre Facebook-Profile zuweilen rechtswidrig genutzt haben oder ihre Twitter-Accounts auch mal zur umstrittenen Verbreitung von Unwahrheiten und Unterstellungen (neudeutsch: „Fake News“) missbraucht haben, das ist nichts neues.

Dass aber auch die Forderung zur bewussten Entziehung der Unterstützung von Facebook und Co. keine spinnerte Meinung ist belegt der folgende Auszug aus dem 25. Tätigkeitsbericht der Niedersächsischen Landesdatenschutzbeauftragten 2019. Dort heißt es auszugsweise auf den Seiten 165 ff. (Hervorhebungen durch uns):

Fanpages – Landesregierung setzt EuGH-Urteil nicht um

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2018 zur gemeinsamen Verantwortlichkeit des Betreibers einer Fanpage und des Unternehmens Facebook war für den Datenschutz sehr wichtig. Allerdings führt selbst ein Urteil des EuGH offensichtlich nicht unmittelbar dazu, dass Verantwortliche in der Praxis Konsequenzen ziehen. (…)

Öffentliche Stellen haben Vorbildfunktion

Die Entscheidung des EuGH gilt gleichermaßen für öffentliche wie für nicht-öffentliche Stellen, die eine Fanpage bei Facebook betreiben. Allerdings vertrete ich die Auffassung, dass die öffentlichen Stellen in besonderer Weise an die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften gebunden sind. Sie haben eine Vertrauensstellung gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen und sollten eine Vorbildfunktion ausüben.

Daher informierte ich zunächst mit Schreiben vom 21. Juni 2018 die Staatskanzlei und alle niedersächsischen Ministerien über die Entscheidung des EuGH. Das Schreiben enthielt die klare Aufforderung, bestehende Fanpages (unverzüglich) zu deaktivieren. Auf dieses Schreiben erhielt ich keine Reaktion. (…)

Landesregierung handelt bewusst datenschutzwidrig

Auf ein weiteres Schreiben an die betroffenen Stellen, das ich Ende Mai 2019 versandt habe, erhielt ich schließlich Anfang Juli 2019 eine schriftliche Stellungnahme der Staatskanzlei im Namen der gesamten Landesregierung. Darin wird bestätigt, dass das Unternehmen Facebook hinter den Vorgaben der DS-GVO zurückbleibt und weitere Maßnahmen zur Herstellung der Rechtskonformität notwendig seien.

Es sei dennoch in einer Gesamtabwägung zwischen dem Verstoß gegen die DS-GVO durch den Betrieb von Fanpages durch Teile der Landesregierung einerseits und der „Wahrnehmung des Informationsauftrags und der notwendigen Öffentlichkeitsarbeit in Zeiten der Politikverdrossenheit andererseits“ bewusst entschieden worden, die sozialen Netzwerke Facebook und Instagram weiterhin zu nutzen. Zudem weist die Staatskanzlei darauf hin, dass es auch darum ginge, „den Bürgerinnen und Bürgern in Niedersachsen zu zeigen, dass Politikerinnen und Politiker ganz normale Menschen mit Schwächen und Stärken sind und mitunter auch mal schräge Dinge tun.“ Die Landesregierung handelt somit bewusst und gewollt datenschutzwidrig.

Der Abwägungsentscheidung der Staatskanzlei kann ich nicht zustimmen. Das Verhalten der Landesregierung bestätigt und festigt die Vormachtstellung des Unternehmens Facebook in seinem datenschutzwidrigen Geschäftsgebaren. Solange sich nicht einmal die staatlichen Stellen aus dem sozialen Netzwerk zurückziehen, wird kein Änderungsdruck auf das Unternehmen ausgeübt. Gerade diese müssen als Vorbild wirken, an dem sich u.a. Wirtschaftsunternehmen orientieren können.

Durchsetzung des EuGH-Urteils wird erschwert

Durch den fortgesetzten Betrieb der Fanpages der Landesregierung fühlen sich die Unternehmen unter Umständen darin bestätigt, ebenfalls nicht auf die Nutzung von Facebook zu verzichten. Letztlich verhält sich die Landesregierung nicht nur datenschutzwidrig, sondern bewirkt zudem, dass mir die Rechtsdurchsetzung der EuGH-Entscheidung auch im nicht-öffentlichen Bereich gegenüber Unternehmen, Handwerk, Freiberuflern und Vereinen erheblich erschwert wird. (…)

Bonmot zum Schluß:

Auf den Hinweisschildern der Polizei Hannover zu ihrer Videoüberwachung des öffentlichen Raums wird stets auf folgende URL verwiesen:

www.polizei-hannover.de

Wer versucht, mittels TOR-Browser diese Seite aufzurufen, scheitert. Auch das kein Zeichen dafür, dass es die Polizei Hannover ernst damit meint, „Medienkompetenz“ fördern zu wollen. Auch das ist immerhin ein öffentlich erklärtes Ziel des „Safer Internet Day“.

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Polizeidrohnen in Niedersachsen: Derzeit vier funktionsfähige Drohnen im Einsatz, Anschaffung weiterer Drohnen geplant

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Zeitzeichen, 22

victor-klemperer-cc-by-sa-bundesarchiv_bild_183-s90733-mod-freiheitsfooIn unserer Kategorie „Zeitzeichen“ rezitieren wir in unregelmäßigen Abständen und in ebenso unregelmäßigem Umfang Nachrichtenschnipsel oder Zitate, die wir als möglicherweise stellvertretende Beispiele für größere Entwicklungen und gesellschaftliche Symptome empfinden: als Zeitzeichen.

Wir behalten uns vor, dieses oder jenes kurz zu kommentieren oder zu bewerten, oder auch nicht. :)

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Polizeidirektion Hannover kennzeichnet Plätze als kameraüberwacht, die es gar nicht sind … und baut die vom Gericht als rechtswidrig verurteilten Kameras nicht ab

Die Altstadt Hannovers, polizeilich videoüberwacht? Die neuen Schilder behaupten das, die Polizei selber widerspricht dem …

Seit vielen vielen Jahren hadert die Polizeidirektion Hannover mit der Umsetzung einer den rechtlichen Rahmenbedingungen entsprechenden Kennzeichnung ihrer Polizeikameras zur Überwachung des öffentlichen Raums der Landeshauptstadt.

Jüngstes Kapitel dieser Geschichte: Nachdem die Polizei im November 2020 unwahr behauptet hatte, alle ihre Kameras neu beschildert zu haben und das selbst bis heute trotz eines zögerlichen Beginns zum Jahresanfang selbst bis dato bei deutlich weniger als der Hälfte ihrer aktuell 26 Polizeikameras umgesetzt hat gibt es den nächsten Fauxpas der Polizeibehörde:

So fiel jüngst auf, dass zwei große Räume der Innenstadt Hannovers mittels neuer Beschilderung plötzlich als polizeilich videoüberwacht gekennzeichnet worden sind, obwohl sie das nicht sind.

Das jedenfalls ergibt sich aus eigener Suche nach Kameras vor Ort als auch aus einer (nicht ganz problemlosen) telefonischen Nachfrage bei der Polizei selbst.

Die rechtswidrige Polizeikamera am Lister Platz erweckt nach wie vor den Eindruck, als sei sie unverändert in Betrieb …

Dass die Polizei es nach wie vor nicht hinbekommen hat, die vom Oberverwaltungsgericht rechtskräftig als rechtswidrig verurteilten fünf Polizeikameras abzubauen und hat zudem etliche alte Polizeiaufkleber nicht entfernt und somit an vielen Stellen einen falschen Eindruck polizeilicher Videoüberwachung erweckt, das alles sind da nur weitere Randnotizen zur Zustandsbeschreibung der inneren Haltung der Polizei zum Umgang mit ihren Kameras.

Alles zusammen führte nun zu einer schriftlichen Aufforderung an die Polizeidirektion, dem allen binnen der nächsten zwei Wochen abzuhelfen.

Wir werden weiter darüber berichten, was aus der Sache weiter wird.

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Die Landeshauptstadt und der Ströer-Konzern: Eine unheilige Allianz zum Ausverkauf des öffentlichen (Lebens-)Raums der Stadt Hannover

Immer mehr Werbetafeln und -wände, das Auge findet beim Durchqueren der Stadt keine Ruhe mehr, wird ständig und rastlos von Werbebotschaften und -bildern belästigt und beladen. Kein Trend, der nur für Hannover gilt, aber am Beispiel dieser einen Stadt hier bruchstückhaft und kurz beleuchtet werden soll. Im Vordergrund dabei: Intransparenz, Totschweigen und Aussitzen von Stadt und Werbekonzern bei eigentlich gar nicht so besonders kritischen Nachfragen dazu.

 

Vorgeschichte: Verhökerung des öffentlichen Raums im Gegenzug für kostenlose Parteien-Wahlwerbung in 2009

Schon in 2009 begann die unselige Zusammenarbeit der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover (LHH) mit dem Werbe- und Medien-Konzerngiganten Ströer.

Damals erlaubte die LHH der DSM, einer Tochter der Ströer SE, die dauerhafte Errichtung sieben neuer großflächiger und einnahmeträchtiger Werbeanlagen – im Gegenzug sollte DSM dafür sorgen, dass die Parteien kostenlos Werbung für die Europawahl 2009 machen konnten. Aus dem Protokoll der Sitzung des Stadtbezirksrats Mitte vom 21.9.2009:

„Laut Vertrag zwischen Stadt und DSM stellt die DSM zu Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen an 45 Standorten in Hannover Anschlagtafeln auf. Sie übernimmt die Erstplakatierung auf den Anschlagtafeln, die notwendige laufende Pflege, den Abbau und die Lagerung der Anschlagtafeln. All dies macht die DSM kostenlos. (…) Als Kompensation dafür genehmigt die Stadt der DSM lt. Vertrag die Errichtung und den ganzjährigen Betrieb von sieben doppelseitigen City-Star-Anlagen. (…) Im Vorfeld der Landtagswahl am 27.01.08 wurde der Wunsch der Parteien, weiterhin kostenlos in Hannover werben zu können, an die Verwaltung herangetragen. Er führte zur aktuellen Vereinbarung über die Bereitstellung von Wahlwerbemöglichkeiten bei Allgemeinen Wahlen auf Anschlagtafeln in der Landeshauptstadt Hannover vom Frühjahr 2009. Die Wahlwerbung findet an den bisherigen 45 Standorten statt. Im Gegensatz zur früheren Regelung wird sie nun aber durch dauerhafte Wirtschaftswerbung an sieben anderen Standorten finanziert.“

Soviel zum Thema „kostenlos“ …

Auch später (siehe einen Blogpost aus 2014) wurde noch einmal deutlich, wie weit diese Zusammenarbeit geht:

Während die Polizei (vulgo: „Versammlungsbehörde“) Hannover nämlich gegen Demonstranten bei der Benutzung von Megaphonen einschreitet und diese nachhaltig repressiv behandelt dürfen Konsumpusher Werbetreibende dank eines Vertrags der Stadt Hannover mit Ströer für ihre eigenen, rein konsumorientierten Interessen sehr laut und auch unter Einsatz von Megaphonen die Innenstadt massiv beschallen. So darf Ströer u.a. die zentralen öffentlichen Räume am Steintor, am Schillderdenkmal in der Fußgängerzone, am Lister Platz oder am Platz der Weltausstellung in Eigenregie und ohne weitere Hinzuziehung der Stadt gegen Bares vermieten und daraus Profit schlagen.

Mit anderen Worten: In diesem Zusammenhang geht Wirtschaftsrecht vor Versammlungsfreiheit und die LHH hat wertvolle Bereiche des öffentlichen Lebensraums an einen Medienkonzern verhökert und jede Kontrolle darüber verloren.

 

Ausgangspunkt für diesen Blogpost 2020

Oktober 2020: Eine neue „Ströer-Mega-Light“-Werbeanlage im Aufbau befindlich.

Das alles ist ein paar Jahre her und von der Sache her nichts Neues. Jedoch fiel im Oktober 2020 der weitere Ausbau von Ströer-Werbetafeln in Hannover auf und damit begann eine neue kleine Odyssee an Presseanfragen und ausweichenden oder gänzlich gar nicht erfolgten Antworten seitens der Stadt und Ströer.

Auf die Fragen, wie viele Werbeanlagen von Ströer in Hannover betrieben werden, wie viele neue Standorte nun hinzugekommen seien und an welchen Stellen diese sich befänden erhielten wir genau gar keine Antwort.

Der Pressesprecher der Stadt Hannover glänzte durch Auskünfte, die bereits bekannt waren und verwies über alles weitere darüber hinaus an die Pressestelle von Ströer. Diese sitzt unsere Presseanfrage vom 27.11.2020 aus – und das trotz inzwischen zahlreicher Nachfragen an und direkter Telefongespräche mit der Ströer-Pressestelle in Köln.

So antwortete der Pressesprecher Hannover auf die Frage, ob die Stadt Hannover nicht beantworten kann oder nicht beantworten darf, an welchen und wie viel Stellen sie der Ströer/DSM-Gruppe erlaubt hat, Werbeanlagen zu errichten und zu betreiben so ausweichend wie flachgründig:

„Zu den Plänen eines Unternehmens sollte sich grundsätzlich das betreffende Unternehmen äußern.“

Nun geht es keineswegs um „Unternehmenspläne“, wie die „Antwort“ des Pressesprechers zu suggerieren versucht, sondern um den Ausverkauf öffenlichen Lebens- und Sichtraums des Ballungsgebiets Hannover. Und dafür ist nun vorrangig niemand anders verantwortlich als die Stadtlenker*innen selber – und nicht der Ströer-Konzern!

Es ist jedenfalls mehr als offensichtlich, dass die Landeshauptstadt in ihrer Koalition mit dem Ströer-Konzern gar keine Informationen zu diesem Thema öffentlich gemacht haben möchte.

An dieser Intransparenz-Strategie scheint auch die neue Oberbürgermeisterschaft unter Bündnis90/DieGrünen nichts geändert zu haben – vielleicht aber auch zu viel verlangt, dass ein neuer OB die Sünden und Wunden der letzten Jahrzehnte in Kürze heilen zu können.

 

Wie viele Ströer-Werbung gibt es denn nun in Hannover?

Januar 2021 – Es ist vollbracht: Die neue tolle „Mega-Light-Anlage in Hannover-Linden“ ist fertig installiert und in Betrieb genommen.

Ein Blick auf den immerhin öffentlich zugänglichen „Ströer-Kartenassistent“ verrät immerhin:

Ströer betreibt in der Stadt Hannover (und verdient damit viel Geld) rund 90 „City-Star“-Großwerbeflächen-Säulen, weitere ca. 1.200 Großplakat-Werbeflächen, ca. 350 „Mega-Light“-Anlagen, etwa 2.200 ebenso fest installierte „City-Light-Poster“-Werbekästen, 11 moderne Riesen-LED-Leuchtewerbeflächen an vielbefahrenen Straßenknotenpunkten und noch dazu 200 Uhrenwerbe-Standorte sowie grob 350 klassische Litfaßsäulen und weitere 200 „Ganzsäulen“. Das sind alles nur grobe Zahlen, die nur für den Bereich der Stadt Hannover ohne den dazugehörigen Großgraum gelten.

All diese mit so wunderbar hippen Namen versehenen baulichen Anlagen im öffentlichen Raum bezeichnet Ströer verniedlichend als „Stadtmobiliar“. Leider kann man sich auf diese Art „Möbel“ jedoch nicht setzen und nicht ausruhen. Im Gegenteil belästigen die vielfach herausragend beleuchteten oder gar blinkenden Werbetafeln das nach Ruhe und Ausgleich sehnende Auge und Gemüt. Ein Wunder (oder gerade gar kein Wunder!), dass die städtischen „Ordnungs“behörden in den Anlagen keine „Gefahr für die Leichtigkeit des fließenden Verkehr“ meinen erkennen zu können, wo sie sich doch ansonsten mehr als pingelig anstellen.

Wie sich die Anzahl der Ströer-Werbe-Schauplätze in den letzten Jahren entwickelt haben, bleibt uns mangels der Auskunftsfreudigkeit von Stadt und Konzern verborgen. Immerhin können wir anhand von uns vorliegenden Preislisten immerhin soweit – beispielhaft – nachvollziehen:

Die Anzahl der „Mega-Light“-Anlagen hat von 2014 bis 2021 von 70 auf 210 zugenommen, die der „City-Light-Poster“ von 600 auf ca. 2.200, wenn man zur letzteren Zahl den Angaben der interaktiven Ströer-Online-Karte Glauben schenken kann.

Beide Zahlenpaare deuten – grob zusammengefasst – eine Verdreifachung der Werbeanlagen innerhalb von sieben Jahren an. Das ist nichts anderes als eine massive Invasion der Werbeindustrie in unser alltägliches Leben, ein Eindringen in unseren Lebensraum, der die Stadt als Erholungsraum zur absurden Idee werden lässt.

 

Und nun?

Angesichts der zahlenmäßigen Entwicklung, gepaart mit dem offenbarten Unwillen von Stadt und Konzern, sich zu erläutern und Fakten zu benennen bleibt nur Ratlosigkeit.

„Adbusting“ wird seitens der Geheimdienste sogar schon fast als „Gewaltakt“ deklariert und selber Hand an die Werbetafeln anzulegen ist selbstverständlich verboten.

Bleibt nur der politische Weg: Druck auf die städtischen Gremien ausüben, Fragen stellen, den Wert des öffentlichen Raums erklären, betonen und diesen Raum verteidigen.

Veröffentlicht unter Bericht | Kommentare deaktiviert für Die Landeshauptstadt und der Ströer-Konzern: Eine unheilige Allianz zum Ausverkauf des öffentlichen (Lebens-)Raums der Stadt Hannover

Unbeachtete Katastrophe in der (Corona-)Katastrophe: Bundesregierung winkt ein weiteres Jahr „virtuelle Hauptversammlungen“ durch – Fragerecht und Kontrolle durch kritische Aktionär*innen ausgehebelt – Konzerne reiben sich die Hände

Wie alles begann

Wer hier fehlt? Die beharrlichste und berüchtigste kritische Aktionärin der Rheinmetall-AG-Hauptversammlungen, Dorothea Kerschgens.

Im März 2020 erließ die Bundesregierung im Angesicht der ersten Corona-Welle eine Änderung im Aktiengesetz (AktG). Dank dieser Änderung konnten die in Deutschland ansässigen Aktiengesellschaften (AG) ihre Hauptversammlungen (HV), die sie zwingend einmal jährlich abhalten müssen, um ihren Aktionär*innen Rechenschaft abzulegen und Frage und Antwort stehen zu müssen, „virtuell“ abhalten.

Konkret bedeutete das für die zunächst bis Ende 2020 befristete Änderung folgendes:

  • Die Versammlungen dürfen als „virtuelle Hauptversammlung“ ausschließlich online und ohne physische Präsenz von Aktionär*innen stattfinden.
  • Dementsprechend wurde das Fragerecht der Aktionär*innen stark eingeschränkt: Online und „live“ können, ja dürfen keine Fragen mehr gestellt werden, auch wenn das technisch kein Problem darstellen würde. Fragen müssen schriftlich verfasst bis spätestens zwei Tage vor Beginn der HV eingereicht werden. Mitunter wird sogar der Umfang der Fragen eingeschränkt.
  • Nachfragen der Aktienhalter*innen, wenn z.B. Vorstand oder Aufsichtsrat um die Antwort auf die Frage bspw. herumlavieren und dabei gar nicht auf die Frage eingehen (wie das bei kritischen Fragen durchaus üblich ist!) sind gar nicht mehr möglich. Eine Debatte, ein Dialog im Sinne der Rechenschaftsschuldigkeit der AG-Lenker („Aussprache“) wurde somit verunmöglicht und unterbunden.
  • Besonders fies: Vorstand und Aufsichtsrat dürfen selber und begründungslos entscheiden, ob sie eine Frage beantworten oder nicht. Die im AktG verbriefte Auskunftspflicht gegenüber den Aktionär*innen ist dadurch gänzlich ausgesetzt worden.

„Dank“ dieser Gesetzesänderung, die in der breiten Öffentlichkeit im Wesentlichen völlig unbeachtet geblieben ist, verliefen die „virtuellen Hauptversammlungen“, die in 2020 allermeist erst nach der Gesetzesänderung durchgeführt worden sind, aus der Sicht von kritischen Begleitern der Konzerne geräusch- und substanzlos. Debatten und Sachstreite fanden nicht mehr statt. Die Geschäftslenker konnten ihre Anliegen durch das Ausmanövrieren kritischer Aktionär*innen in allen Punkten durchsetzen und formell korrekt abnicken lassen.

Das hatten sich die AGs bzw. deren Führungspersonen schon länger gewünscht.

 

Unbemerkte Fortschreibung des Desasters für 2021

Auch auf der HV der Daimler AG fehlen derzeit kritische, bohrende Fragen von Aktionärinnen, wie hier auf diesem Bild erneut Dorothea Kerschgens.

Schon im März 2020 hielt man sich eine (angeblich einmalige, einjährige) Verlängerung der Neuregelungen vor, falls die Pandemie bis Ende 2020 nicht besiegt worden sei. So ist es nun auch geschehen:

Unbemerkt von der Öffentlichkeit und auf dem Internet-Portal des Bundestags unauffindbar verborgen wurde mit einer Verordnung aus dem Oktober 2020 und ergänzt durch eine Gesetzesänderung vom Ende Dezember 2020 (sic!) die Fortführung der unseligen Freibrief-Regelung für die AG-Lenker*innen bis Ende 2021 beschlossen und besiegelt.

Das dazugehörige Gesetz, in dem sich diese Fortschreibung mit vielen anderen Gesetzesänderungen unübersichtlich versammelt lautet so knapp wie verständlich:

Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht

Alles klar? Alles klar und ein Gruß an die Schöpfer derartiger Wortungetümemonster!

Zwar gab es eine formelle Anhörung bzw. Einholung von Stellungnahmen von Betroffenen (vor allem aber: von AG-Interessenvertretern!), diese brachte aber im Ergebnis keine wesentliche Verbesserung bzw. Heilung der Rechte der Aktionär*innen, auch wenn das Bundesjustizministerium (BMJ) dazu eine ganz andere Meinung vertritt. Das BMJ schreibt uns nämlich recht selbstbewusst:

„Hinsichtlich der aktienrechtlichen Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung kommt es zu einer Stärkung der Aktionärsrechte: Die Fragemöglichkeit wird zu einem Fragerecht ausgebaut; Fragen können bis einen Tag vor der Versammlung eingereicht werden. Zudem wird das Antragsrecht der Aktionäre gestärkt.“

Klingt gut, ist es aber nicht. Weil:

  • Dass die Frist zur Einreichung von Fragen von zwei auf einen Tag vor HV verkürzt wurde ist – sachlich betrachtet – quasi belanglos. Zu fordern wäre eher das Recht, bis zu Beginn und auch während der laufenden HV Fragen noch einreichen zu können. Das ging bislang auch und die Backoffices der AGs sind für gut gerüstet und gewohnt, Fragen ad hoc kompetent zu beantworten. Warum das bei einer „virtuellen HV“ in den Zeiten des Corona anders sein soll, erschließt sich nicht.
  • Der juristisch-formelle Umbau von „Fragemöglichkeit“ zu „Fragerecht“ klingt gut, kommt aber viel zu kurz. Denn nach wie vor können die AG-Verantwortlichen nach eigenem Ermessen Fragen unbeantwortet lassen, ohne dafür belangt werden zu können. [Ergänzung zur Erläuterung: Es gibt faktisch keinen Rechtsschutz gegen floskelreiche, aber inhaltsleere Antworten von Vorständen und Aufsichtsräten. Das Höchste der Gefühle ist die Einlegung eines formellen Widerspruchs, der im notariell verfassten Wortprotokoll benannt werden muss, ansonsten aber keine weiteren Konsequenzen nach sich zieht.] Damit geriert das „Fragerecht“ zur Farce.
  • Was das BMJ mit der „Stärkung des Antragsrechts der Aktionäre“ meint bleibt schlicht unergründlich.
  • Es fehlt nach wie vor das Recht, online und während der HV erst auftauchende Fragen bzw. Nachfragen stellen zu können. Eine echte verbale Intervention, eine tatsächliche Debatte oder die Chance, auf ausweichende und faktisch nicht beantwortende „Antworten“ zu reagieren und tatsächliche echte, inhaltlich substantielle Antworten erfolgreich einzufordern, besteht nach wie vor nicht.
  • Auch der gute Vorschlag von „urgewald“ und dem „Dachverband Kritischer Aktionärinnen und Aktionäre“, wenigstens den Fragestellern eine physische Präsenz zu ermöglichen und so eine AG-Debatte zu führen, wurde nicht umgesetzt.

Das alles, obwohl fundierte Kritik schon bald nach dem übereilten und parlamentarisch nicht wirklich behandelten Gesetz aus dem März 2020 geäußert worden ist (siehe z.B. hier) und sogar der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags regt in einer Betrachtung zur Sache vom 6. Mai 2020 vorsichtig Änderungen in der Gesetzgebung an, wenngleich er auch „keine offensichtliche Verfassungswidrigkeit der zeitlich befristeten Regelungen“ meint feststellen zu können. Diese Einschätzung begründet er allerdings ausdrücklich auf einer Rechtssprechung des BVerfG, in dem es inhaltlich um die Problematik ging, dass eine HV in einem gewissen, erträglichen zeitlichen Rahmen abzuhalten sei und mit Blick darauf die Beschneidung des praktizierten Umfangs des Fragerecht zulässig sein kann. Nicht behandelt hat das BVerfG damals die nun gesetzlich verankerte, bemerkenswert starke Einschränkung, ja Beschneidung des Fragerechts an sich, so dass diese Fragen höchstrichterlich erst noch behandelt gehörten.

Eine eher belanglose Randnotiz ist bei alledem nur, dass der Bundestagsabgeordnete der Bündnis90/Grünen, Sven-Christian Kindler auf ein Anschreiben vom Ende November 2020 zu diesem Thema bis dato nicht reagieren wollte oder konnte – und das trotz mehrfacher Nachfragen und Bitten um eine Rückmeldung.

 

Fazit

Die Bundesregierung unter „C“DU, „C“SU und „S“PD hat außer ein paar wenig wesentlichen Schönheitsänderungen nichts an dem erkrankten Zustand des Aktiengesetzes geheilt. Die Aktiengesellschaften dürfen nun ein weiteres Jahr mehr oder weniger frei und kritisch unhinterfragt walten und schalten, weil die Kontrolle der Aktieninhaber*innen in grundsätzlichen Teilen faktisch ausgesetzt worden ist – eben „dank“ der Bundesregierung und der AG-Lobby.

Der Blick muss nach vorne gerichtet und eine weitere Fortschreibung oder Wesensveränderung des Aktiengesetzes über 2021 hinaus verhindert werden.

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