Bundesdatenschutzbeauftrager sorgt dafür, dass Zoll und „Verteidigungs“ministerium bei Auskunftersuchen keine unfairen Selbstauskünfte abverlangen

Ausgangspunkt der folgenden kleinen Geschichte war das jährliche Prozedere eines Menschen, Mitte des Jahres 2021 bei einigen staatlichen Stellen an- und abzufragen, ob und welche persönliche Daten dort über ihn vorliegen (Auskunftsersuchen).

Erstaunlicherweise erhielt die Person vom Bundes“verteidigungs“ministerium (BMVg) und auch vom Zoll (Generalzolldirektion) zunächst keine Antwort sondern stattdessen die Bitte/Aufforderung, zunächst selber mitzuteilen, wo oder in welchem Zusammenhang sie Datenspeicherungen in den Behörden vermute.

Diese Praxis widerspricht dem Gedanken des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und der Praxis und Idee von Auskunftsersuchen diametral. Während die Inlandsgeheimdienste („Verfassungsschutz“-Ämter) sich dieses Tricks schon länger bedienen und diese sogar zum Teil gesetzlich verankert wurden ist diese Methode bei Kriegsministerium und Zoll neu. Das BMVg forderte den Petenten sogar dazu auf, sensible personenbezogene Daten per unverschlüsselter E-Mail zu übermitteln.

Der so um Selbstauskunft gebetene Auskunftsersuchende hat sich darum am 18.8.2021 an den Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI) gewendet

„Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit möchte ich mit über die Praxis des Bundesverteidigungsministeriums und des Zolls bei der Beantwortung von Auskunftsersuchen beschweren.

Beide Behörden beantworteten meine Auskunftsersuchen nach Art. 15 DSGVO zunächst nicht, sondern baten mich/forderten mich dazu auf, zuvor selber zu beauskunften, inwiefern Daten über mich bei ihnen gespeichert oder dorthin gelangt sein könnten.

Das ist aus meiner Sicht eine Umkehrung der Intention eines Auskunftsersuchens. Ich möchte mein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung beleben und durchsetzen und kann nicht beurteilen, inwiefern dort an diesen beiden Stellen Daten von mir oder über mich vorliegen. Auch kann es sehr gut möglich sein, dass ich Gegenbenheiten, die Anlässe zu solchen Speicherungen sein mögen, nicht vollständig erinnere oder nicht ermessen kann, ob diese eben zu entsprechenden Speicherungen und Datenverarbeitungen geführt haben mögen.

Dazu kommt noch, dass mir das „Verteidigungs“ministerium vorschlägt, dass ich derlei sensible Personendaten mittels unverschlüsselter E-Mail an dieses übermitteln soll! Davon abgesehen, dass ich dadurch sogar noch weitere Daten über mich preisgeben müsste (Name meiner E-Mail-Adresse, weitere Daten z.B. über mein E-Mail-Programm, die im Zuge einer solchen Kommunkation anfallen und übertragen werden) halte ich es für unzulässig, unverschlüsselt solche möglicherweise sensiblen personenbezogenen Daten zu versenden.

Den Vortrag der Generalzolldirektion, wonach ich pauschal davon ausgehen könne, dass keine Daten über mich gespeichert wären, sofern ich nicht mit einer in einer längeren und für mich schwer zu ergründbaren Liste von Behördenstellen Kontakt gehabt hätte oder mit bestimmten Vorgängen zu tun gehabt hätte (ebenso schwer für mich einzuschätzen), diese Behauptung empfinde ich als frech und ebenfalls unzulässig. Mir scheint, als wolle es sich der Zoll die Arbeit mit eintreffenden Auskunftsersuchen möglichst sparen.

Mich zwingen die „Antworten“ aus beiden Behörden jedenfalls nun dazu, diesen nochmals zu schreiben und zu bekräftigen, dass ich Auskunft erhalten möchte. Ich muß mein Auskunftsersuchen quasi ein zweites mal stellen.

Ich habe beiden Behörden heute geschrieben, dass ich nicht bereit zu einer Selbstauskunft bin und um Erledigung meines Auskunftsersuchens bitte.

Davon unabhängig bitte ich Sie hiermit, den Sachverhalt zu prüfen und zu bewerten, ggf. einzuschreiten und mir Mitteilung zu geben, wie Sie zur Sache stehen.“

Nach einiger Bearbeitungszeit – insbesondere beim Zoll – hat der BfDI folgende Teilerfolge eingefahren:

Am 6.11.2021 teilte der BfDI mit Bezug auf das BMVg mit:

„(…) Unter Darlegung meiner Rechtsauffassung hatte ich das BMVg daher aufgefordert, seine diesbezüglichen Aussagen zu ändern. Das BMVg ist dem gefolgt und hat nach eigenen Angaben die Verfahrensweise diesbezüglich angepasst. Künftig will das BMVg auf die Bitte um Präzisierung grundsätzlich verzichten.

Ich habe das BMVg darauf hingewiesen, dass bei einer Übermittlung personenbezogener Daten per einfacher, unverschlüsselter E-Mail keine angemessene Sicherheit im Sinne des Art. 5 Abs. 1 lit. f) DSGVO gewährleistet werden kann. Ich habe daher das BMVg gebeten, die betroffenen Personen künftig nicht mehr aufdie unsichere Kommunikation per E-Mail […] zu verweisen und insbesondere keine weiteren personenbezogenen Daten über diesen Weg anzufordern. Das BMVg teilte mir hierzu mit, dass die Kommunikation mit dem BMVg grundsätzlich postalisch erfolgt. Zur Erleichterung des Rechtsauuskunft nach Art. 12 und 15 DSGVO wird das Angebot zur Kommunikation per E-Mail weiter bestehen bleiben. Künftig will das BMVg die Antragsteller auf die Unsicherheit der Datenübermittlung per einfacher, unverschlüsselter E-Mail hinweisen.

Und nun gab es auch in Sachen Zoll am 6.2.2023 mit:

„Die Generalzolldirektion (GZD) habe ich in Ihrer Sache kontaktiert. Die GZD hat in diesem Zuge erklärt, in Zukunft in Fällen, in denen die Präzisierung des Auskunftsbegehrens gemäß Art. 15 Datenschutz-Grundverordnung von vornherein ausgeschlossen wird, auf eine dahingehende Bitte zu verzichten.

An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ausdrücklich für Ihre Eingabe bedanken, da sie dazu führt, die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften bei der GZD nachhaltig zu verbessern und dort eine weitere Sensibilisierung fiir die Belange des Datenschutzes zu erreichen. (…)“

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Telekommunikations-Überwachungs-Zentrum Nord: Start auf unbekannten Termin verschoben, noch immer kein Testbetrieb

tk-uez-nord-gebiet01In 2016 haben wir zum gemeinsam von den Bundesländern Niedersachsen, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern geplanten „Telekommunikations-Überwachungs-Zentrum Nord (TKÜZ-Nord)“ berichtet und Kritik daran geübt. Auch die Niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte spart nicht mit konkreter Kritik und Forderungen an und zu dessen Betrieb (siehe z.B. den Auszug aus ihrem Jahresbericht 2021).

Die Planungen zum TKÜZ-Nord laufen seit 2011. Dessen Inbetriebnahme war zunächst für 2016 geplant, dann für 2020 … und ist aktuell noch immer nicht erfolgt. Unsere Nachfragen an das LKA Niedersachsen zum aktuellen Stand des umstrittenen Vorhabens förderten nur magere und schwammig formulierte Antworten zutage und lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Das TKÜZ-Nord hat seinen Betrieb derzeit (Stand: März 2023) nicht aufgenommen.
  • Es gibt noch nicht einmal einen Testbetrieb.
  • Ein geplantes Inbetriebnahme-Datum scheint es auch nicht zu geben – zu mehr, als dass die Überwachungszentrale „schnellstmöglich im Sinne von so bald wie möglich“ in Betrieb genommen werden soll, zu mehr als zu einer solchen gehaltlosen Aussage lässt sich das LKA auch trotz Nachhaken nicht bewegen.
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Schwarz-Grün Schleswig-Holstein will Vorratsdatenspeicherung neu im Polizeigesetz verankern – Stellungnahme von uns und anderen dazu

Ausschnitt einer Stadtkarte mit einem Fadenkreuz neben einem Smartphone mit sensiblen persönlichen Daten.Durch Urteile des Bundesverfassungsgericht wurden einige Teile des Landespolizeigesetzes Schleswig-Holstein (heißt dort: „Landesverwaltungsgesetz (LVwG)“) außer Kraft gesetzt – die jüngsten Entscheidungen aus Karlsruhe zu verfassungswidrigen Teilen des Landespolizeigesetzes von Mecklenburg-Vorpommern (Pressemitteilung/Entscheidungstext 9.12.2022) und zur Verfassungswidrigkeit gesetzlicher Grundlagen polizeilichen Einsatzes von Data-Mining (BVerfG-Pressemitteilung/Entscheidungstext 16.2.2023) noch gar nicht berücksichtigt.

Dem will die schleswig-holsteinische Landesregierung aus CDU und Grünen mit einer Gesetzesänderung (LT-DS 20/376) begegnen und der Polizei damit möglichst weitreichende Befugnisse zur Erlangung von Vorratsdaten erteilen. Denn darum geht es: um die Möglichkeit zur Praktizierung der Vorratsdatenspeicherung personenbezogener und sensibler Kommunikationsdaten („VDS“). Verklausuliert heißt der Gesetzentwurf dann auch: „Gesetz zur Wiedereinführung der Verkehrsdatenerhebung. Letztere ist eine der Neusprech-Entwicklungen zur Verharmlosung dessen, was Vorratsdatenspeicherung bedeutet. Es geht aber weiterhin auch um Funkzellenabfragen und die Abfrage von Standortdaten von Handy- und Smartphone-Nutzern.

Wir vom freiheitsfoo wurden neben anderen Gruppen und Menschen vom Landtag dazu eingeladen, eine schriftliche Stellungnahme zum Entwurf einzureichen. Von 35 Eingeladenen haben bis dato neun eine mehr oder minder fundierte Stellungnahme abgegeben. Ob es auch eine mündliche Anhörung zum Gesetzentwurf geben wird und wer dazu eingeladen wird, auf diese Frage erhielten wir keine Antwort. Vorgeschlagen zum Einreichen einer schriftlichen Stellungnahme hat uns übrigens die SPD. Diejenige SPD, die in Schleswig-Holstein derzeit die Oppositionsrolle bekleidet und sich darin nicht zu schade ist, möglichst potentielle Kritiker der VDS einzuladen, während sie auf Bundesebene – und das nicht erst in jüngster Zeit – eben trotz aller Urteile des EuGH zur Sache für ebendiese votiert und lobbyiert.

Doch egal – einige Menschen vom freiheitsfoo haben im Einverständnis mit der gesamten Gruppe eine lesenswerte Stellungnahme erarbeitet, die wir hier als Plaintext veröffentlichen und die eine klare Stellung bezieht:

 

Hannover, den 8. Februar 2023

Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Wiedereinführung der Verkehrsdatenerhe­bung in § 185a LvwG, Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 20/376

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Menschen vom freiheitsfoo bedanken sich, zum vorliegenden Gesetzentwurf Stellung nehmen zu können. Leider haben wir nur wenig Hoffnung, dass unsere Worte auf offene Ohren stoßen werden, wollen aber die Hoffnung nicht aufgeben.

Inhalt

      • Grundsätzliches
      • Überwachung: mehr immer – weniger nimmer
      • Alles halb so schlimm
      • Änderungen, die bürgerrechtlich wünschenswert gewesen wären
      • Zur Speicherdauer – Das 7-Tage-Phantasma
      • Standortdaten: unzureichend geschützt
      • Funkzellenabfragen: nicht unbedingt verhältnismäßig

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Zahlen, Einordnungen und Kommentare zur Silvester-Krawall-Hysterie

Mit rund einem Monat Abstand erscheint die mit den Silvester-2022-Krawallen aufwallende und medial befeuerte Aufregung um ebendiese mitsamt den üblichen Forderungen nach mehr „starkem Staat“, nach mehr und stärkeren „Sicherheitsbehörden“ übertrieben, ja mitunter hysterisch.

Es hat einige lang währende (und die öffentliche Meinung nachhaltig beeinflussende) Tage gedauert, bis es sich die Berichterstattung zögernd leistete, einen nüchternen Blick auf die präsentierten Zahlen und Schilderungen zu werfen.

So schrieben Wibke Becker und Oliver Georgie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntags-Zeitung am 8.1.2023 (Hervorhebungen durch uns):

„(…) Manche resignieren, wie Sohrab Taheri-Sohi sagt, Sprecher des Bayrischen Roten Kreuzes: „Viele Einsatzkräfte nehmen es mittlerweile schon als gegeben hin, dass sie beim Einsatz beleidigt oder sogar belästigt werden.“
Das ist das, was die Einsatzkräfte wahrnehmen. Daten sagen jedoch etwas anderes. Der Psychologe Mario Staller hat mit anderen Forschern Rettungskräfte im Rhein-Main-Gebiet über drei Jahre eine Art Einsatztagebuch führen lassen. Bei über 300.000 Einsätzen notierten sie knapp über zwanzig körperlich-gewalttätige Übergriffe. Jeder ist einer zu viel. Aber für eine weit verbreitete Verrohung sprechen die Daten nicht.
Nach einer Statistik des Bayrischen Roten Kreuzes, das im Freistaat 80 Prozent des gesamten Rettungsdienstes betreibt, meldeten Sanitäter im Jahr 2022 bei rund zwei Millionen Einsätzen nur 55 „Aggressionsereignisse“. Die Dunkelziffer, sagt Taheri-Sohi, liege aber sicher deutlich höher, weil viele kleine Vorfälle nicht gemeldet würden. (…)
Wahrnehmung und Forschung widersprechen sich also. Das gilt auch für die Gewalt gegenüber Polizisten. Das Bundeskriminalamt gibt zwar seit einigen Jahren eine Statistik heraus, aus der hervorzugehen scheint, dass es jedes Jahr schlimmer wird. Sie hat aber zwei entscheidende Mängel: Erstens werden Polizisten auch dann als Opfer gezählt, wenn sie selbst nicht verletzt wurden, zum Beispiel, weil schon der Versuch strafbar ist. Zweitens wird die Zahl der Straftaten nicht ins Verhältnis zur Zahl der Einsätze gesetzt. Man kann daraus eigentlich nur eines sinnvoll ableiten: Polizisten geben häufiger eine Anzeige auf, weil sie Gewalt erfahren. Was aber Gewalt genau ist, das bestimmt die subjektive Wahrnehmung des Polizisten. In etwa der Hälfte dieser Fälle im Jahr 2021 leisteten Bürger Widerstand. Ein Drittel waren tätliche Angriffe auf Polizisten, das kann etwa ein Stoß sein, ein Schubs oder schon eine zum Schlag erhobene Hand. Die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen sank dagegen in den vergangenen Jahren leicht.

Dem möchten wir noch das Ergebnis von Presseanfragen von uns an die Berliner Polizei hinzufügen. Diese stand von Anfang an im Zentrum der medialen Berichterstattung zum Thema.

So wird die Berliner Polizei in einem der ersten Berichte der Tagesschau am Abend des 1.1.2023 wie folgt rezitiert:

„Die Polizei in der Hauptstadt berichtete von 18 verletzten Beamten. Die Intensität der Angriffe sei „mit den Vorjahren nicht zu vergleichen“ gewesen.“

Wir fragten die Polizei darauf hin, wie schwer und wie genau die Polizisten verletzt seien, woran die „Intensität der Angriffe“ im Detail bemessen wird und baten um Zahlenmaterial dazu von 2018-2022. Und erhielten folgendes zur Antwort:

Statistik der Berliner Polizei zu Silvestereinsätzen 2018 bis 2022

Ersichtlich wird, dass die Zahl der (von der Polizei selber erfassten und gezählten!) verletzten Polizeimenschen in den zwei vorhergehenden Silvestern deutlich geringer war. Das war allerdings auch gar nicht anders zu erwarten, waren die Silvesterfeierlichkeiten aufgrund der Corona-Pandemie in diesen zwei Jahren doch streng beschränkt worden. Und die Zahl verletzter Polizist*innen der noch zwei weitere Jahre vorhergehenden Silvesternächte sehen nun nicht wirklich viel anders aus als die vom Silvester 2022. Lediglich die Zahl der „beschädigten Fahrzeuge“ ist signifikant höher als in allen vorher bezeichneten Jahren angegeben.

Doch wie bemisst/bewertet die Polizei die Frage, ob ein Fahrzeug „beschädigt“ worden ist oder nicht? Dafür gibt es unseres Wissens nach kein Regelwerk und keine Norm, die diesen Wert als verlässlichen Indikator für den Umfang von Krawallen erscheinen ließen.

Und dann noch das: Wir fragten weiter nach, wie sich denn diese Zahlen in den Jahren 2015 bis 2018 darstellten. Erst daraus ließe sich eine mögliche Tendenz ablesen, so unser Gedanke zu dieser Nachfrage. Doch diese Daten „können nicht mehr valide recherchiert werden“, so teilte uns die Polizei zur Antwort lapidar mit. Das lässt einen faden Beigeschmack zurück. Mindestens muss man dann aber attestieren, dass gar keine belastbare oder ernst zu nehmende Aussage zu Entwicklungstendenzen möglich ist.

Ach ja – und dann fragten wir ja noch, an welchen Kriterien/Vorgaben sich die Klassifizierungen und Bezeichnungen der von der Polizei aufgeführten Verletzungsarten orientieren würden. (Unsere vorhergehende Frage, wie viele der verletzten Polizisten amulant, wie viele stationär behandelt worden sind, wurde stillschweigend ignoriert.) Die Liste der Verletzungsarten „orientiere sich an den festgestellten Diagnosen“, so die Berliner Polizei uns gegenüber. Allgemeine „Schmerzen“ und „Unwohlsein“ als amtliche Diagnose?

Abschließend dann hier noch die Anmerkungen bzw. die Meinungsäußerung eines kritischen Polizisten zu dem gesamten Komplex:

„Es ist durchaus auch ohne die letzte Silvesternacht auffällig, wie in den Medien neuerdings immer mehr auch Sanitäter und Feuerwehrleute als überaus bedauernswerte und scheinbar massenhafte Opfer von Gewalt dargestellt werden.

Nun – fraglos gibt es immer wieder Angriffe und Gewalt auch gegen Rettungskräfte. Es ist allerdings auch zu registrieren, dass Bilder eben oftmals mehr sagen als tausend Worte. Und da will die hergebrachte und immer wieder aufs Neue bemühte Opfererzählung zur Polizei offenbar immer weniger zu den allgegenwärtigen Bildern von deren hoch gerüsteten und immer martialischeren Auftreten und Einschreiten passen. Vom grenzenlosen Alarmismus der Polizei, ihrem selektiven Polizieren (gern auch mit Gewaltmitteln) in sozial und / oder ethnisch segregierten Räumen / Stadtteilen und Milieus und daraus massenhaft resultierenden Erfahrungen von Betroffenen mit Racial-Profiling der Polizei gar nicht zu reden. Auch die immer neuen Vorwürfe und Verdachtslagen gegen die Polizei in Sachen Rassismus und Rechtsextremismus, die zwar gern als Einzelfälle abgewiegelt werden, aber doch einfach nicht vom Tisch zu bringen sind, machen die hergebrachte Opfererzählung nicht eben überzeugender.

Vor diesem Hintergrund müssen neuerdings offenbar vermehrt Rettungskräfte her, um politisch die immer gleichen Feindbilder bedienen und die immer gleichen Forderungen nach mehr Staat, schärferen Gesetzen und härterer Bestrafung erheben zu können. Und besonders absurd wird ein solchermaßen inszenierter Trubel, wenn er aus gegebenem Anlass ganz offensichtlich darauf abzielt, einem wohlfeilen Verbot von Silvesterfeuerwerk das Wort reden zu können – wie immer man persönlich zum Blödsinn, der Schädlichkeit und Gefährlichkeit der alljährlichen Knallerei auch stehen mag.

Im Nachgang zu den so genannten „Silvesterkrawallen“ zum letzten Jahreswechsel dürfen wir also einmal mehr der politisch/medialen Konstruktion von Niedergangsnarrativen beiwohnen. Mit den Märchenerzählungen von „Kleinen Paschas“ wird den Geschichten aus Tausend und einer Nacht mal eben eine weiteres Storytelling hinzugefügt. Diese Niedergangsnarrative konstruieren und bedienen schon immer diffuse Ängste vor Kriminalität, Drogengangs, Terrorismus oder sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum. Die Ethnisierung dieser Konfliktfelder und rassistische Zuschreibungen wirken dabei auf breiter Front als Bestätigung nicht nur für Rechtspopulisten.

Tatsächlich wäre die Antwort auf (sozialselektive) Segregation, faktisch unklare Bleibeperspektiven und (in weiten Teilen schon über das Asyl- und Ausländerrecht erzwungene) Arbeits- und Erwerbslosigkeit, mangelnde Bildungschancen und Perspektivlosigkeit vor allem ein Umdenken und mehr Engagement in der Sozial- und Bildungspolitik, bei Stadtentwicklung und sozialem Wohnungsbau. Notwendig wäre ein Gegensteuern zum Auseinanderdriften der Gesellschaft im Arm und Reich. Statt dessen schnüren die Vertreter des Volkes immer neu vergleichsweise billige Pakete zur Inneren Sicherheit mit denen mehr Polizist*innen mit mehr Befugnissen und mehr Waffen härter durchgreifen sollen. In der Praxis zeigt sich das dann als eine Form von Jagd auf junge Straftäter und Migranten, die genau die Kriminalität produziert, die dem Narrativ immer neu Nahrung verschafft. Überzogene Polizeieinsätze und Kriminalisierung der Abgehängten leisten aber keinen Beitrag zum sozialen Frieden, sie erzeugen Außenseiter, Randständigkeit und Radikalisierung.“

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Das Verwaltungsgericht prüft: Ist die polizeiliche Videoüberwachung der hannoverschen Weihnachtsmärkte rechtens und verhältnismäßig? [Update: Eilantrag wurde abgelehnt]

Polizeiliche Videoüberwachungskamera an der Schmiedestraße in Hannover zum Weihnachtsmarkt 2022, aus zwei verschiedenen Perspektiven in Totaler und Detail.

Alle Jahre wieder … baut die Polizeidirektion Hannover mobile Videoüberwachungsanlagen in der Innenstadt auf, um für die Zeit der Weihnachtsmärkte ebendiese überwachen zu können. Rein rechtlich ist diese Unternehmung im noch recht neuen (und umstrittenen) Polizeigesetz Niedersachsens (§ 32 (3) Satz 1 Nr. 2 NPOG) als „temporäre Videoüberwachung“ geregelt.

Diese Arbeit macht sich die Polizei Hannover seit rund gut zehn Jahren, zunächst noch ohne jede dazugehörige Öffentlichkeitsarbeit. Die insgesamt recht erfolgreichen Verwaltungsgerichtsklagen gegen die polizeiliche Videoüberwachung in der niedersächsischen Landeshauptstadt haben inzwischen auch dazu geführt, dass die Polizei die weihnachtliche Überwachungsmaßnahme öffentlich macht und (etwas) beschildert.

Wir haben diese Advents-Videoüberwachung punktuell über die Jahre begleitet. In 2017 gab es gar keine Videoüberwachung, in 2019 wurden fünf Kameras aufgestellt in 2020 fielen die Weihnachtsmärkte wegen Corona ganz aus und in 2021 erteilte uns die Polizei auf unsere Presseanfrage erst gar keine Antwort.

Über die „Ausbeute“ der polizeilichen Maßnahmen zum Schutz der Weihnachtsmärkte und ihrer Besucher*innen (Polizeiwache, Polizeistreifen, Videoüberwachung) konnte man in 2019 beispielsweise lesen (Hervorhebungen durch uns):

Der Weihnachtsmarkt in Hannover hat laut Stadt in diesem Jahr 1,85 Millionen Besucher verzeichnet – und die Zahl der Taschendiebstähle und anderen Straftaten fällt im Verhältnis dazu äußerst gering aus. Wie die Polizei am Montag auf HAZ-Anfrage mitteilte, registrierten die Beamten zwischen dem Auftakt des Marktes am 25. November und dem 20. Dezember, also vergangenem Freitag, nach ersten Zählungen nicht einmal 20 Delikte. (…) Neun Taschendiebstähle, acht weitere Straftaten: Laut Behördensprecher André Puiu gab es bis Freitagabend neun Taschendiebstähle, am 11. Dezember wurden zwei mutmaßliche Täter festgenommen. Bei den weiteren Straftaten registrierte die Polizei sogar nur acht Delikte, darunter je zwei Körperverletzungen und Sachbeschädigungen, darüber hinaus wurde etwa Holz an einem Glühweinstand entwendet. Außerdem zeigte laut Puiu ein Betrunkener den Hitlergruß, und in einem Fall hatten Unbekannte versucht, in eine Marktbude einzubrechen.“

Nicht schön, aber auch nicht besonders spektatkulär. Vor allem: Ist bei Betrachtung dieser Fallzahlen die Videoüberwachung notwendig und hilfreich, also verhältnismäßig? Neun Taschendiebstähle bei 1,85 Millionen Besuchern? o_O

In diesem Jahr spendiert die Polizei vier Kameras zu den bereits bestehenden und dauerhaft betriebenen, um die Besucher der Weihnachtsmärkte in der Innenstadt Hannovers ganztägig und -nächtig zu überwachen und die Bilder aufzuzeichnen. Unsere dazugehörige Presseanfrage wurde sogar beantwortet, doch entspann sich daraus ein ca. drei Wochen lang währender Dialog, bis wir endlich die Informationen bekommen hatten, die wir auch angefragt hatten.

Und das Ergebnis des vielen Hin und Her? Wir fassen die Informationen in Stichpunkten zusammen.

Aber vorweg: Unserer Ansicht nach entsprichen die Kameras nicht den rechtlichen Anforderungen des für „temporäre Videoüberwachung“ zuständigen § 32 (3) Satz 1 Nr. 2. In anderen Worten: Die Polizei filmt und zeichnet die Menschen der Weihnachtsmärkte rechtswidrig auf.

Ein Mitglied unserer Redaktion hat am 11.12.2022 Klage vor dem Verwaltungsgericht Hannover gegen die Weihnachtsmarkt-Videoüberwachung eingelegt (Klagetext zum Verfahren 10 A 5210/22), denn das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hatte bei einer Behandlung anderer temporärer Videoüberwachung der Polizei Hannover Regeln für die Zulässigkeit solcher Anlagen aufgestellt. Regeln, die unserer Meinung nach nicht eingehalten werden, obwohl sich das Gericht damals an einem von der Polizeidirektion selber entwickelten und vorgeschlagenen Bewertungssystem zur Verhältnismäßigkeit polizeilicher Videoüberwachung orientiert hat. Am 15.12.2022 wurde dann noch ein dazughöriger Eilantrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt (Eilantragtext 10 B 5284/22) Es bleibt abzuwarten, was aus Klage und Eilantrag wird – wir werden hier dazu auf dem Laufenden halten.

Hier nun stichpunktartig die Fakten zur Überwachung:

  • Es geht um vier Stück dreh-, schwenk- und zoombare Überwachungskameras, jeweils auf den Dächern am Rande der Weihnachtsmärkte aufgebaut.
  • Die Kameras sind vom 21.11. bis zum 22.12.2022 in Betrieb und zeichnen in diesem Zeitraum ununterbrochen Bilder auf. Zu den Löschfristen gab es seitens der Polizei unterschiedliche Angaben. Zunächst war auf der Polizei-Internetseite von einer „dauerhaften Aufzeichnung“ die Rede. Auf weitere Nachfrage hin heißt es, die Bilder würden jeweils für maximal fünf bis sieben Tage gespeichert. Zum Schluss hieß es, die Aufzeichnungen würden nach sieben Tage sukzessive gelöscht.
  • Zunächst hieß es, dass die Bilder der Kameras in Echtzeit „überwacht würden, um bei erkannten Konflikten ein schnelleres Einschreiten von Einsatzkräften zu ermöglichen.“ Das nennt sich „Live-Monitoring“. Auf eine Nachfrage von uns dazu hieß es zunächst: „Es findet kein dauerhaftes Monitoring durch die Beamtinnen und Beamten statt. Die Bilder werden anlassbezogen beobachtet.“ Dann übernahm die Haupt-Pressesprecherin das Zepter der Beantwortung unserer Anfragen und teilte inhaltlich anderslautend mit: „Es findet möglichst ein dauerhaftes Live-Monitoring durch die Beamtinnen und Beamten statt.“ Und dann später noch einmal anders: „Die Aufgabe eines „möglichst dauerhaften“ Live-Monitoring wird im Hauptamt wahrgenommen.“ Und dann später sogar noch einmal etwas weiter differenzierend: Nur zu den Öffnungszeiten des Weihnachtsmarktes wird ein sog. Live-Monitoring durch Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten in den Diensträumen des Polizeikommissariates Mitte durchgeführt.
  • Es wurden 18 Hinweisschilder für die temporäre Videoüberwachung aufgestellt. Unserer Ansicht nach ist das nicht ausreichend, zum Teil sind die Schilder auch nicht an der „richtigen“ Stelle plaziert. Die Schilder weisen nicht darauf hin, dass die Bilder aufgezeichnet werden. Und wann mensch die videoüberwachte Zone verlässt wird einem auch nicht mitgeteilt – zurück bleibt also das unterbewusste Gefühl andauernden Überwachtwerdens …
  • Um genau ermitteln können, welche und wie viel Straftaten von einer Überwachungskameras potentiell erfasst werden können müssen Detailkarten erstellt werden, aus denen unter Berücksichtigung baulicher Gegebenheiten (Gebäude, Vegetation) der „Sichtbereich“ der Kamera hervorgeht. Solche Karten hatte die Polizei bei vorhergehenden Gerichtsverfahren stets präsentiert. In diesem Fall – so ergab sich allerdings erst nach vielen vielen Nachfragen – hat sie sich diese Arbeit nicht gemacht. Das ist einer der Hauptkritikpunkte im Zuge der eingereichten Klage.
  • Ebenso kann die Polizei keinerlei räumlich wie zeitlich differenzierte Statistik vorweisen, aus der klar hervorgeht, dass es zu Zeiten der Weihnachtsmärkte im Bereich der Kameras deutlich mehr Straftaten gibt als sonst. Bedrückenderweise wollte uns die Polizei-Pressestelle dazu mit der Anzahl der Taschendiebstähle im gesamten Jahr und dann auch noch für die gesamte Region Hannover (Stadt Hannover plus Umland Hannover) abspeisen und meinte, unserer Nachfrage damit Genüge getan zu haben …
  • Position der vier temporären Polizei-Überwachungskameras zu den hannoverschen Weihnachtsmärkten 2022

    Kaum bis gar keine Öffentlichkeitsarbeit dazu. Immerhin eine eigene Internetseite der Polizei: Diese Seite war innerhalb des Internetauftritts der Polizei Hannover so gut wie unauffindbar. Nach unserer Kritik daran hat die Polizei diesen Mangel inzwischen behoben. Leider fehlt auf der Seite eine Karte mit der Darstellung, wo genau die Kameras befindlich sind. Wir haben dem Mangel mit der Grafik in diesem Beitrag behoben.

Fazit

Die Polizeidirektion wartet mit zum Teil widersprüchlichen und vor allen sehr zögerlichen Antworten zu den genauen Umständen allweihnachtlicher Videoüberwachung auf. Ob die Vorgaben des Polizeigesetzes im Sinne des OVG-Urteils aus 2020 eingehalten werden und darüber hinaus eine Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und ausreichende Kennzeichnung gegeben sind, das wird das Verwaltungsgericht Hannover im Laufe der kommenden Woche vorab per Eilverfahren entscheiden.

 

[Update 21.12.2022]

Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag zur Abschaltung der Videoüberwachung abgelehnt (Beschluss 10 B 5284/22). Dem liegen u.a. neue und nicht bekannte bzw. nicht öffentliche Angaben der Polizei zugrunde, die dem Antragsteller bislang nicht zugekommen lassen worden sind.

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CDU Hannover will Videoüberwachung des öffentlichen Raums, verbreitet Falschbehauptungen dazu und verweigert sich Presseanfragen

Am 13.11.2022 ließ der Chef der CDU-Fraktion im Stadtrat Hannover, Felix Semper im Zuge einer Diskussion um das „Sicherheitsgefühl“ von Frauen in der Landeshauptstadt mittels Zeitungsbericht verlauten:

Auch eine Videoüberwachung schließt er an bestimmten Plätzen nicht aus, seine Fraktion werde das jetzt im Zuge der Haushaltsberatungen ins Gespräch bringen. „Das wirkt präventiv und trägt zur Aufklärung bei.“

Herr Semper ist seit seinem 15. Lebensjahr in der CDU respektive „Jungen Union“. Er ist nun 35 Jahre alt, als Anwalt im Bau- und Immobilienrecht tätig und – so seine eigene Angaben„Recht und Gerechtigkeit waren ihm schon immer ein besonderes Anliegen.“ Jüngst erst freute er sich über die geplante Ausweitung umstrittener Waffenverbotszonen in Hannover. [Achtung: Die Seiten der CDU Hannover und die von Herrn Semper sind mittels Tor-Browser nicht abrufbar.]

Wir haben Herrn Semper zwei Tage nach dem Bekanntwerden seines Vorstoßes zum Ausbau der Videoüberwachung in Hannover über seine gmx-Mailadresse eine Presseanfrage gestellt:
Wie viele Kameras er sich an welchen Stellen vorstelle, wer diese betreiben solle, ob es Bildaufzeichnung und/oder Live-Monitoring der Bilder geben solle, was die Rechtsgrundlage für alles sei, wie teuer das alles wäre und vor allem, worauf er seine Behauptung, die Videoüberwachung würde effektiv präventiv wirken, gründe.

Wir erhielten keine Antwort, noch nicht einmal eine Rückmeldung auf ein weiteres Nachhaken dazu. Nun haben wir die CDU-Stadtratsfraktion und die CDU Hannover-Stadt darum gebeten, uns zu antworten oder uns zu einer Antwort von Herrn Semper zu verhelfen.

Neuigkeiten dazu werden wir in diesem Beitrag hier als „Update“ nachtragen.

Und vielleicht als Erinnerung: Es gab sie schon einmal, eine jahrelang illegal betriebene Videoüberwachung durch die Stadt Hannover. Damals – vor rund 15 Jahren – nutzte die Stadt den Zugriff auf die Bilder der zahlreichen Polizeikameras mit der offiziellen Begründung, somit die Funktionsfähigkeit von Ampelanlagen live überprüfen zu können. Auf Nachhaken zur Frage der Rechtsgrundlage stellte sich dann schnell heraus, dass es ebendiese gar nicht gab, daraufhin wurden die Anlagen, mittels der man die Polizeikamerabilder abgriff heimlich, still und leise außer Betrieb gesetzt.

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Zeitzeichen, 25

victor-klemperer-cc-by-sa-bundesarchiv_bild_183-s90733-mod-freiheitsfooIn unserer Kategorie „Zeitzeichen“ rezitieren wir in unregelmäßigen Abständen und in ebenso unregelmäßigem Umfang Nachrichtenschnipsel oder Zitate, die wir als möglicherweise stellvertretende Beispiele für größere Entwicklungen und gesellschaftliche Symptome empfinden: als Zeitzeichen.

Wir behalten uns vor, dieses oder jenes kurz zu kommentieren oder zu bewerten, oder auch nicht. :)

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Endlich verfügbar und befreit: Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht zum Persönlichkeitsrecht in englischer Übersetzung

Im August 2022 teilte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stolz per Pressemitteilung mit, dass 45 wesentliche Leitentscheidungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht nun auch in englischer Übersetzung verfügbar seien … und verwies auf ein 100 Euro teures Buch.

Als wir vor neun Jahren bzw. vor sieben Jahren um solche englische Übersetzungen angefragt hatten, gab sich das hohe Gericht dagegen noch sehr zugeknöpft und wenig bereit, sich dieser Idee zu öffnen. Wir haben dann selbstorganisiert und über zum Teil kuriose Umwege Teile der englischen Übersetzungen zum Volkszählungsurteil und zum Mikrozensusurteil mit zum Teil viel Arbeit und Aufwand organisiert und veröffentlicht.

Weil wir der Meinung sind, dass die englischen Übersetzungen des Bundesverfassungsgerichts wichtig, vielmehr aber öffentliches Gut sind – die Übersetzungskosten (alleine mehr als 20.000 Euro für Dienstleistungen durch Dritte jenseits des Gerichtsapparats!) trug schließlich die Allgemeinheit – haben wir mittels Informationsfreiheitsgesetz (IFG) die englischen Texte angefordert und nunmehr erfolgreich befreit. Einen Teil hat das BVerfG selber proaktiv veröffentlicht, einen anderen Teil nunmehr via IFG-Anfrage freigegeben.

Das freut uns, auch wenn wir dahingehend mehr Sensibilität und Eigeninitiative des BVerfG gewünscht hätten … und weiter wünschen! Denn selbst jetzt wollte sich das Gericht nicht die Mühe machen, uns die Links für 32 bereits vorab veröffentlichte Texte zu liefern, sondern verwies uns pauschal auf die Suchmaschine seiner Internetpräsenz. Die Dokumente dort zu finden, war uns nicht möglich. Wir haben nachgefragt, ob es dem Gericht nicht möglich ist, uns die Links für die fehlenden Texte direkt zu benennen – dessen Antwort steht noch aus und wir werden Sie hier, wie auch die Links zu den fehlenden Übersetzungen, hier nach Erhalt als Update nachtragen. [Update: Einen Großteil der Links konnten wir nun doch noch selber ausfindig machen, siehe unten.]

Wie auch immer: Nachfolgend das nun Verzeichnis aller im teuren Buch veröffentlichten Texte (es handelt sich jeweils nur um die Leitentscheidungen!) inklusive der Links zu den englischen Texten, soweit schon verfügbar. Und bei dieser Gelegenheit einen Dank an die Menschen vom Portal „FragDenStaat“, dessen intensive Nutzung wir wärmstens empfehlen möchten.

[Update 28.11.2022: Nachtragen/Einfügen der letzten noch fehlenden Links nach freundlicher Unterstützung durch das BVerfG.]

Foundations

1. BVerfGE 27, 1 Microcensus – disclosure of personal data for statistical purposes (1969)

2. BVerfGE 34, 238 Secret Tape Recordings – admissibility as evidence in criminal proceedings (1973)

3. BVerfGE 34, 269 Soraya – damages for false press reports on personal life (1973)

4. BVerfGE 49, 286 Transsexuals I – legal sex (1978)

5. BVerfGE 54, 148 Eppler – statements falsely attributed to one’s person (1980)

6. BVerfGE 65, 1 Census – informational self-determination and modern data processing (1983)

Self-Determination and Limits to Personal Choice

7. BVerfGE 35, 202 Lebach – prisoner’s right to social reintegration (1973)

8. BVerfGE 75, 201 Foster Parents – child custody (1987)

9. BVerfGE 78, 77 Public Announcement of Legal Incapacitation (1988)

10. BVerfGE 117, 71 Life Imprisonment – prospect of release (2006)

11. BVerfGE 128, 282 Coercive Treatment in Psychiatric Confinement under Criminal Law (2011)

12. BVerfGE 142, 313 Coercive Medical Treatment (2016)

13. BVerfGE 153, 182 Assisted Suicide* – right to a self-determined death (2020)

Name and Identity

14. BVerfGE 97, 391 Sexual Abuse Allegations – victim’s right to state their own name (1998)

15. BVerfGE 115, 1 Transsexuals V – change of first name (2005)

16. BVerfGE 147, 1 Third Gender Option – civil register entry for intersex persons (2017)

Image

17. BVerfGE 87, 334 Honecker – TV broadcasting of criminal proceedings (1992)

18. BVerfGE 99, 185 Helnwein/Scientology – imputed group membership (1998)

19. BVerfGE 119, 309 TV Broadcasting from the Courtroom (2007)

20. BVerfGE 120, 180 Caroline III – celebrities’ right to their image (2008)

Speech

21. BVerfGE 63, 131 Right of Reply – right to defend oneself against negative media portrayals (1983)

22. BVerfGE 114, 339 Stolpe/Stasi Dispute – injunctive relief against ambiguous defamatory statements (2005)

23. BVerfGE 119, 1 Esra – prohibition of a literary work (2007)

Privacy and Intimacy

24. BVerfGE 80, 367 Diary-Like Notes – admissibility as evidence in criminal proceedings (1989)

25. BVerfGE 90, 255 Monitoring of Correspondence – screening of prisoners’ personal mail (1994)

26. BVerfGE 109, 279 Surveillance of Private Homes – inviolable core of private life (2004)

27. BVerfGE 128, 109 Transsexuals VIII – no surgery requirement (2011)

28. BVerfGE 138, 377 False Paternity – former legal father’s right to information (2015)

Health Data

29. BVerfGE 44, 353 Addiction Counselling Agency – seizure of client records (1977)

30. BVerfGE 89, 69 Mandatory Medical-Psychological Assessment – conditions for retaining driving licence (1993)

31. BVerfGE 103, 21 DNA Fingerprinting – databases of DNA profiles (2000)

Data Protection and Virtual Identity

32. BVerfGE 27, 344 Divorce Files – sharing personal data in disciplinary proceedings (1970)

33. BVerfGE 56, 37 Bankruptcy Proceedings – compulsory disclosure (1981)

34. BVerfGE 113, 29 Seizure of Electronic Data – search warrant for entirety of law firm’s hardware and files (2005)

35. BVerfGE 152, 152 Right to Be Forgotten I* – name searches in online press archives (2019)

36. BVerfGE 152, 216 Right to Be Forgotten II* – claim for dereferencing against search engine operator (2019)

Informational Self-Determination and Security

37. BVerfGE 100, 313 The Article 10 Act – telecommunications surveillance by intelligence services (1999)

38. BVerfGE 115, 166 Telecommunications Surveillance – covert investigation of a judge (2006)

39. BVerfGE 115, 320 Profiling – electronic databases for profiling and searches (2006)

40. BVerfGE 120, 274 Remote Searches – covert searches of private computers (2008)

41. BVerfGE 125, 260 Data Retention – service providers’ obligation to retain telecommunications traffic data (2010)

42. BVerfGE 129, 208 The Telecommunications Surveillance Revision Act (2011)

43. BVerfGE 133, 277 Counter-Terrorism Database Act I – sharing of data between police and intelligence services in a joint security database (2013)

44. BVerfGE 141, 220 The Federal Criminal Police Office Act – counter- terrorism surveillance powers (2016)

45. BVerfGE 154, 152 Surveillance of Foreign Telecommunications* – Federal Intelligence Service’s powers to intercept communications of foreigners abroad (2020)

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Geräuschloser, aber nicht reibungsloser Zensus 2022: Über Rücklaufquoten, Zwangsgelder und Gerichtsverfahren der noch laufenden Volkszählung. Mehrere Millionen Auskunftsverweigerer, Hunderte Gerichtsverfahren gegen die Volkszählung.

So hatten es sich die Menschen der Parteipolitik und Statistikbehörden gewünscht: Nahezu ganz ohne kritische öffentliche Begleitung laufen die zum Stichtag des 15.5.2022 ausgerichteten Datenzusammenführungen und Befragungen der Menschen in Deutschland rund um den „Zensus 2022“.

Ein halbes Jahr später spricht und berichtet niemand mehr darüber. Und doch gibt es noch viel Bewegung hinter den Kulissen. Wie viele Menschen haben sich der Auskunft verweigert? Wie viele Bußgelder oder Zwangsgeldverfahren gab oder gibt es? Sind Menschen mit ihrem Widerstand gegen die Erfassung vor Gericht gezogen und wenn ja, wie viele und mit welchem Erfolg?

Wir haben dazu alle Bundes- und Landesstatistikämter mit einer Palette an Fragen angeschrieben und um Antworten gebeten. Drei Statistikämter antworteten erst auf weitere explizite Nachfrage, und das auch erst rund einem Monat nach der Presseanfrage. (Alle Anfragen und Antworten lückenlos dokumentiert in unserem Wiki.) Aus den Antworten der Behörden – soweit gegeben – wurde schnell wurde klar, dass es sich bei der Reaktion auf unsere Presseanfrage um eine vom Bundestatistikamt Wiesbaden konzertierte Aktion handelte. Eine dort im Referat B32 des („Presse, Newsroom“) ansässige Mitarbeiterin hatte ein docx-Dokument verfasst und – vermutlich – an alle Landesstatistikämter als Musterantwort-Vorgabe versendet. Darauf kamen wir, als wir uns die Metadaten der Antworten zweier Landesstatistikämter angesehen haben, die der Einfachheit halber ebendieses docx-Dokument weiter verwendet und an uns versendet haben.

Aber auch ohne diesen dezenten Hinweis war das offensichtlich, denn die meisten der Antworten aus den Ämtern waren wortgleich.

Soweit ist an alledem nicht unbedingt etwas auszusetzen. Tragisch wird das ganze erst dann, wenn die Landesstatistikämter in großer Mehrheit die Antworten vom Bundesamt auch dann ohne viel Nachzudenken übernahmen. So verweist das Statistische Bundesamt bei der Beantwortung von drei Fragen – richtigerweise – darauf, dass die Antworten zu diesen drei Fragen nur von den Landesstatistikämtern gegeben werden können, weil nur dort die Informationen dazu vorliegen. Dumm (oder dreist?) nur, wenn ebendiese Landesämter dann genau das wortgleich an uns weitergeben, anstelle sich die Mühe mit der konkreten Beantwortung der Fragen zu machen. Wir haben bei allen Statistikämtern dazu nachgefragt und erst dann individuelle Antworten erhalten.

Im Folgenden möchten wir die aus unserer Sicht wesentlichsten Informationen und Fakten aus den zähen und nicht einfach zu sortierenden Antworten der Statistikämter zusammenfassen und öffentlich machen. Dazu haben wir die Informationen in drei Kategorien unterteilt:

  1. Allgemeine Angaben zum Umfang der Beteiligung/Verweigerung der Befragungen und „Erhebungen“
  2. Übersicht über Höhe und Anzahl von Bußgeldern und Zwangsgeldern
  3. Klagen und Verfahren gegen die Volkszählung
  4. Fazit

Vielleicht an dieser Stelle noch einmal sehr grob und grundsätzlich zum Schema der Befragungen und Real-„Erhebungen“ des Zensus 2022, das dem des Zensus 2011 gleicht. Nach einer umfangreichen (faktisch „heimlichen“) und mehrfachen umfangreichen und verfassungsrechtlich umstrittenen Zusammenführung von Daten aller in Deutschland lebenden Menschen aus verschiedenen staatlichen Datenbanken werden im Zuge der Volkszählung Befragungen („Erhebungen“) in folgenden drei Bereichen durchgeführt:

  1. Personenerhebungen/Haushaltebefragungen: Dazu werden stichprobenartig bis zu rund 11 Millionen Menschen persönlich aufgesucht und zur Beantwortung zahlreicher Fragen aufgefordert. Diese kann wahlweise mündlich oder schriftlich erfolgen, ist aber auf jeden Fall verpflichtend, also nicht freiwillig. Klagen hiergegen müssen an die jeweils zuständige kommunale Erhebungsstelle gerichtet werden. Mit Bezug darauf geben die allermeisten Statistikämter keine Informationen zu Buß- und Zwangsgeldern und Gerichtsverfahren in diesem Zusammenhang heraus oder beteuern, nichts darüber zu wissen.
  2. Gebäude- und Wohnungszählung (GWZ): Alle Besitzer*innen von Wohngebäuden oder -flächen werden schriftlich dazu aufgefordert, einen Fragebogen (nach Vorgaben der Ämter am besten online!) auszufüllen. Darin geht es um Angaben zu Art und Nutzung des Gebäudes und zu deren Bewohner*innen. Auch diese Beantwortung ist Pflicht und nicht freiwillig. Klagen gegen die GWZ richten sich formell gegen die jeweilige Landesstatistikbehörde.
  3. Gemeinschaftunterkünfte, Wohnheime, „Sonderbereiche“: Diese (aus unserer Sicht besonders sensible) Gruppe von Unterkünften werden ebenfalls mittels Besuch durch Volkszähler*innen erfasst. Diese besuchen die Leitung der Heime, Gefängnisse, Kliniken, Anstalten etc. und holen sich dort die von den Statistikern verlangaten Angaben zu Unterkunft und deren Bewohner*innen. Gerichtsverfahren hierzu haben ebenfalls die Landesstatistikbehörden als Verfahrensgegner.

Nun die Zusammenfassung unserer Erkenntnisse aus den Presseanfragen an die Statistikämter. Alle Angaben beziehen sich – wenn nicht anders angegeben – auf den Stand vom 25.10.2022.

Also:

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Neue rot-grüne Regierung für Niedersachsen – vorläufig gescheitert

Grafische Übersicht über die Bewertung des rot-grünen Koalitionsvertrages für Niedersachsen 2022.

Grafische Übersicht und Zusammenfassung der Bewertung des rot-grünen Koalitionsvertrags für Niedersachsen 2022-2027.

Ungewöhnlich schnell und von wenig öffentlichen kritischen Störgeräuschen aus der Zivilgesellschaft begleitet hat sich am vergangenen Dienstag nur 30 Tage nach der Wahl der neue niedersächsische Landtag gebildet, ihren neuen alten Ministerpräsidenten gewählt und der rot-grüne Koalition die Regierungs- und damit Gestaltungsmacht verliehen.

Offenbar waren viele potentielle Zwistigkeiten zwischen den beiden Parteien bereits im Vorfeld und vor öffentlichem Beginn der Koalitionsverhandlungen im stillen Kämmerlein ausgeräumt worden.

Gut und vorbildlich – so bewerten die einen den Vorgang. Wenn aber die kritische Öffentlichkeit anteils- und beteiligungsfrei bleibt, dann ist das ganze nicht unbedingt wünschenswert.

Innenpolitische Themen haben es in der aktuellen Welt- und Politiklage schwerer als sonst, Aufmerksamkeit zu erhalten. Am Beispiel der Ausverhandlungen zwischen SPD und Grünen in Niedersachsen wurde das noch ein mal besonders deutlich: Viele andere Themen standen und stehen im Vordergrund – Bildung, Klima, Landwirtschaft, Geld- und Energiesorgen der Menschen. Sowohl in der allgemeinen Berichterstattung und auch im Koalitionsvertrag erhalten Fragen zum Beispiel zu Ausrichtung und Bewertung der Exekutive (i.e. Polizei und Geheimdienste) da keinen oder nur sehr wenig Raum. Wer angesichts dessen darauf hofft, dass die einstige Bürgerrechtspartei der Grünen genügend Rückgrat und Haltung beweist, auch ohne öffentlichen Druck sich ernsthaft und effektiv für Bürger- und Menschenrechte einzusetzen, die/der sah sich enttäuscht.

Wir haben einige Tage vor Beginn der (offiziellen) Koalitionsverhandlungen einen 15-Punkte-Forderungskatalog an die beiden neuen Regierungsparteien übermittelt. Das war am 21.10.2022. Eine öffentliche Reaktion oder Stellungnahme seitens der Parteien gab es – wie zu befürchten und erwarten war – nicht. Beide Parteien haben dann am 1.11.2022 ihren Koalitionsvertrag veröffentlicht – wie üblich in nicht wirklich barrierefreien pdf-Format, das zudem zunächst, obwohl es über den Webserver niedersächsischen Grünen verteilt wurde (der SPD-Niedersachsen Server war am 1.11. nicht erreichbar), den merkwürdigen Dokumententitel „Zukunftsprogramm der SPD“ trug. Nomen est omen?

Diese Fassung des Koalitionsvertrags war eine Woche später durch eine inhaltlich textidentische Version mit modifizierten Metadaten ausgetauscht worden, die

  • einen korrigierten Titel erhielt („Koalitionsvertrag“ statt „Zukunftsprogramm der SPD“) und
  • deren Text nicht mehr durchsuchbar oder markierbar war.

Da solche PDFs für die politische, journalistische und zivilgesellschaftliche Arbeit quasi unbrauchbar sind, haben wir eine Kopie der alten (inhaltlich textidentischen) Version bereitgestellt:

https://wiki.freiheitsfoo.de/uploads/Main/Koalitionsvertrag-NDS-2022-maschinenlesbar.pdf

Anhand dessen haben wir nun eine folgende vorläufige Beurteilung der anstehenden, vermutlich fünf Jahre währenden rot-grünen Regierungsarbeit erstellt. Dazu dessen Zusammenfassung übersichtlich in einer Grafik. Es macht keine bis nur wenig Hoffnung auf einen Umschwung der Landespolitik, die sich auf die Wichtigkeit von Persönlichkeits-, Bürger- und Menschenrechten rückbesinnt.

Doch im Einzelnen:

1.) Vorratsdatenspeicherung
Keine Aussage/Stellungnahme im Koalitionsvertrag hierzu.
Bewertung: negativ (rot)

 

2.) Videoüberwachung (u.a. von Polizei und im ÖPNV)
Einführung eines „öffentlichen Videokatasters“ für VÜ im öffentlichen Raum. Was das bedeuten soll, bleibt unklar. Es gibt keine Aussagen zur Haltung zur/Abschaffung der flächendeckenden VÜ im ÖPNV. (Sowohl SPD als auch Grüne hatten im Vorfeld der Wahl eigentlich klar bekundet, dass flächendeckende Videoüberwachung im ÖPNV untragbar wären …) Dagegen wird das Pilotprojekt „KI-unterstützter VÜ“ in Gefängnissen beworben und soll engagiert fortgeführt werden. Gegen dieses unnötige Menschenexperiment hatten die Grünen vor der Wahl mit teils deutlichen Worten und aus unserer Sicht zurecht, opponiert. Von dieser kritischen Haltung auch in Bezug auf die anlasslose Massenüberwachung des ÖPNV ist nichts mehr zu sehen. Die CDU will diese Technik übrigens schon seit jeher auch auf den öffentlichen Raum ausdehnen …
Bewertung: negativ (rot)

 

3.) Kfz-Kennzeichen-Scanning und Section Control
Keine Aussage/Stellungnahme im Koalitionsvertrag hierzu.
Bewertung: negativ (rot)

 

4.) Abrüstung der Polizei, Wandel der Polizeikultur
Der Koalitionsvertrag atmet – im Gesamten betrachtet – eher das genaue Gegenteil davon. Kein wesentlicher Wandel in der kritikarmen Sichtweise auf die Polizeipraxis. Einführung pseudonymisierter Kennzeichnung von Polizeibeamten/-beamtinnen (nur) für geschlossene Einsätze und mit Evaluierungs-Klausel. Einrichtung einer Anlaufstelle für Beschwerden über Verwaltungshandeln (darunter fällt auch Polizeihandeln) angelehnt an Rheinland-Pfalz. Die Orientierung an diesem zahmen und zahnlosen Rheinland-Pfalz-Modell verstärkt den Eindruck, dass gegenüber der Polizei sämtliche ernsthafte zivilgesellschaftliche Kontrolle auch von dieser Landesregierung vehement abgelehnt werden wird. Nebenbei: Den Nutzen polizeilicher Überwachungstechnik (speziell Videoüberwachung, aber auch Staatstrojaner etc.) hält selbst das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Bundestag in seiner jüngsten wissenschaftlichen Studie für fragwürdig.
Bewertung: negativ (rot)

 

5.) Reform des Nds. Polizeigesetzes NPOG
Änderungen lediglich zu Details des Unterbindungsgewahrsams und kleine, nicht grundsätzliche Beschränkungen zum Einsatz von Staatstrojanern. Tatsächlich ist der präventive Unterbindungsgewahrsam in Niedersachsen inzwischen schlimmer, als die Regelung im bayerischen sog. Polizeiaufgabengesetz. Einsatz von Taser-Elektroschockern weiter wie gehabt. Es ist kein wirklicher Trost, dass nach mehreren Todesfällen in Niedersachsen im Zusammenhang mit dem Einsatz von Tasern keine Ausweitung des Einsatzes stattfinden soll. Nur kleine Änderungen zur Bodycam-Praxis. Keine grundsätzliche Kehrtwende/Reform zum NPOG erkennbar. Doch selbst die hier beschriebenen Änderungen unterstehen lediglich einer „Prüfungs“-Klausel. Heißt im Klartext: Selbst für deren tatsächliche Umsetzung will die Koalition nicht wirklich geradestehen bzw. will diese nicht garantieren …
Bewertung: negativ (rot)

 

6.) Versammlungsrecht und -praxis
Vermummung im Zuge von Demonstrationen soll wieder von Straftat zur Ordnungswidrigkeit runtergestuft werden. Neu: Zweifelhafte Einschränkungen des Versammlungsrechts bei Demos „vor Wohnhäusern“ durch die Erweiterung der Definition „besonderer Orte“ nach §8 (4) NVersG. (Zur Fragwürdigkeit bzw. potentiellen Rechtswidrigkeit solcher Verbote siehe hier.) Keine Erleicherungen bei Anmeldepraxis oder für Kleinstversammlungen. „Überarbeitung“ der Regeln für Kooperationsgespräche – eine äußerst schwammige Ansage, die wenig Hoffnung auf Besserung der Praxis macht.
rot-blauBewertung: negativ bis neutral (rot/blau)

 

7.) Vereinfachung von Widersprüchen gegen staatlichen Verwaltungshandeln
Keine Aussage/Stellungnahme im Koalitionsvertrag hierzu. Menschen in Niedersachsen sind damit auf lange Sicht und in den allermeisten Fällen gezwungen zu klagen, wenn sie Verwaltungsentscheidungen überprüfen lassen möchten.
rotBewertung: negativ (rot)

 

8.) Polizei und (a)soziale Medien
Keine Aussage/Stellungnahme im Koalitionsvertrag hierzu., auch nicht zum umstrittenen Polizeimessenger NIMes.
rotBewertung: negativ (rot)

 

9.) Transparenzgesetz
Ein „Transparenzgesetz“ soll kommen. „Modern und umfassend“ soll es sein. Das sind zunächst nur schöngeistige und vor allem gehaltsfreie Schönwetterankündigungen. „Alle relevanten“ Informationen sollen in ein Transparenzregister. Die Erfahrungen mit dem (dann nicht umgesetzten) ehemaligen rot-grünen Entwurf für ein Nds. Informationsfreiheitsgesetz lassen nicht viel Gutes erahnen. Allerdings enthielt der von den Grünen dann in der Opposition eingebrachte Entwurf einige deutliche Verbesserungen, etwa bei der Deckelung von Kosten oder der Verpflichtung von Behörden zur aktiven Veröffentlichung von Informationen. Es wird zu prüfen bleiben, ob ein neuer rot-grüner Entwurf diese Fortschritte bewahren oder sogar ausbauen wird oder ob er wieder auf den Stand des letzten rot-grünen Entwurfs zurückfallen wird.
blauBewertung: neutral (blau)

 

10.) Polizeiliches heimliches Eindringen in private Computersysteme, Staatstrojaner
Alles bleibt im wesentlichen wie es ist (s.o.). Nur etwas Kosmetik an den Regelungen zum großen Staatstrojaner. Aber auch das nur unter dem schwammigen „Prüfungs“vorbehalt.
rotBewertung: negativ (rot)

 

11.) EU-Chatkontrolle
Keine Aussage/Stellungnahme im Koalitionsvertrag hierzu.
rotBewertung: negativ (rot)

 

12.) Entspannteres Verwaltungshandeln im Zuge von Zensus und Mikrozensus
Keine Aussage/Stellungnahme im Koalitionsvertrag hierzu.
rotBewertung: negativ (rot)

 

13.) Gefordertes Moratorium zum Zwangseinbau potentieller Überwachungsinfrastruktur in Wohnungen
Keine Aussage/Stellungnahme im Koalitionsvertrag hierzu.
rotBewertung: negativ (rot)

 

14.) Bargeld-Garantie
Keine Aussage/Stellungnahme im Koalitionsvertrag hierzu.
rotBewertung: negativ (rot)

 

15.) Werbefreiheit im öffentlichen Raum
Keine Aussage/Stellungnahme im Koalitionsvertrag hierzu.
rotBewertung: negativ (rot)

 

Fazit:

Es ist angesichts dieses Abgleichs nicht viel zu erwarten. Der seitens der Grünen versprochene Aufbruch ist es jedenfalls nicht. Für die SPD mag es ein Zukunftsprogramm sein. Für die Grünen kann es diesen Anspruch nicht erfüllen.

Wenigstens die Polizeigewerkschaften freuen sich über den neuen Koalitionsvertrag – und kriegen den Hals dennoch nicht voll …

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