Sicherheitspopulismus wichtiger als nervige Grundrechtsbedenken: Anlasslose totale Videoaufzeichnung in öffentlichen Verkehrsmitteln soll endlich legalisiert werden

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Ungeachtet der ausufernden Überwachungsgesamtrechnung und des bislang nicht belegbaren Nutzens einer solchen Maßnahme setzen die Verkehrsminister weiter auf die Populismuskarte und fordern eine „flächendeckende, tageszeitunabhängige Videoaufzeichnung in öffentlichen Verkehrsmitteln“ – also eine generelle, anlasslose Vorratsdatenspeicherung von Videoaufnahmen des den ÖPNV nutzenden Bevölkerungsanteils: Ein Vorhaben, das klar grundrechtswidrig ist und den Charakter der öffentlichen Verkehrsmittel so grundlegend ändert, dass ein bloßes Argumentieren mit Umfragen und einem diffusen „Sicherheitsgefühl“ – das letztlich sehr subjektiv ist – eigentlich nicht relevant ist.

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Videoüberwachung am Berliner Hauptbahnhof

Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht erst das Herbeireden und Bestärken übertriebener Ängste – das Bus- und Bahnfahren ist in Wahrheit sehr sicher – eine Verunsicherung schürt, die dann wiederum die Begründung für diesen nutzlosen, ja vielmehr eine freiheitliche Gesellschaft zersetzenden Aktionismus liefert.

Dafür spricht, dass die Forderung keineswegs sachlich begründet ist – es gibt wirksame Ermittlungsmethoden jenseits der Totalüberwachung aller Fahrgäste und eine Vielzahl kriminologischer Studien und Kriminalitätsforscher, die ihren Nutzen in Frage stellen:

„Wir brauchen Kameras nicht, weder für Prävention, noch für Aufklärung, noch für die Erhöhung des Sicherheitsgefühls.“

(Dirk Baier, stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Siehe weitere Details dazu auch unseren ausführlichen Blogbeitrag vom 3.2.2016.)

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Installation im öffentlichen Raum der Deutschen Messe AG Hannover.

Auch uns ist trotz vielfacher Nachfragen an Behörden, Ministerien, Unternehmen und Polizeien in den letzten Jahren nach wie vor weder eine den Nutzen belegende Statistik noch eine Kosten-Nutzen-Rechnung bekanntebensowenig übrigens einem großen Verkehrsunternehmen, das trotzdem lustig mit „Mit Sicherheit ans Ziel: alles im Blick“ wirbt!

In vielen Städten wurden durch Politik und Verkehrsbetriebe bereits Fakten geschaffen. Die Verkehrsministerkonferenz sucht diese nun zu normalisieren. Die Landesdatenschutzbeauftragten haben sich formell und in Anlehnung an die geltende Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts auf eine ablehnende Position gegenüber einer flächendeckenden Videoüberwachung der Bevölkerung oder bestimmter Teile davon verständigt:

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Screenshot eines Aktionsvideos des Künstlers Raul Gschrey.

„Eine Videoüberwachung allein zur Steigerung des subjektiven Sicherheitsgefühls der Fahrgäste unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit nicht geboten. (…) Auch wenn eine Videoüberwachung zur Wahrnehmung des Hausrechts oder berechtigter Interessen im Einzelfall erforderlich sein sollte, darf sie nur in Betrieb genommen werden, wenn schutzwürdige Interessen der Betroffenen nicht überwiegen. (…) So stellt eine zeitlich und räumlich lückenlose Überwachung des Fahrgastraumes, der sich die Fahrgäste nicht entziehen können, einen intensiveren Eingriff dar als eine nur zeitweilige Beobachtung, die nur Teilbereiche des Raumes erfasst. (…) Die informationelle Selbstbestimmung wird zudem besonders intensiv bei der Überwachung von Bereichen betroffen, in denen Menschen typischerweise miteinander kommunizieren. Hinzu kommt, dass die Fahrgäste häufig auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen sind und nur bedingt auf andere Verkehrsmittel ausweichen können. (…) Eine Videoüberwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln kann daher nur zum Schutz von Rechtsgütern erheblichen Gewichts gerechtfertigt sein.“

(Aus der Orientierungshilfe „Videoüberwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln“ – Beschluss des Düsseldorfer Kreises der Bundes- und Landesdatenschutzbehörden vom 16.9.2015.)

Ein Blick in die flächendeckend videoüberwachten S-Bahn in Hannover.

Blick einer Überwachungskamera in die flächendeckend videoüberwachte S-Bahn Hannover.

Die Praxis ist dagegen allerdings eher durchwachsen: Eine kämpferische Einstellung der dafür zuständigen Datenschutzbehörden – die niedersächsische Behörde geht in einem Rechtsstreit mit der Hannoveraner Verkehrsgesellschaft üstra nach der Niederlage in erster Instanz in Berufung – ist die Ausnahme, ein geflissentliches und zeitgeistkonformes Übersehen der datenschutz- und grundrechtlichen Probleme mit einer Totalüberwachung („mittlerweile vom Kunden gewünschter Standard“) im Jahr 2016 die schäbige Norm.

1984, wir kommen (mit Bus und Bahn)!

Bildquellen: Alles eigene Bilder unter CC-BY-NC-SA, zwei der Bilder aufgenommen in der Ausstellung „Ausser Kontrolle“ des Berliner Museums für Kommunikation, darunter u.a. ein Screenshot einer Videoinstallation von Raul Gschrey.

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