Flächendeckende Videoüberwachung im ÖPNV und zaghafte Hamburger Datenschutzbehörden

oepnv-vue02Die Hamburger Hochbahn (HHA) und weitere Verkehrsunternehmen im Hamburger Verkehrsverbund (HVV) führen in ihren Bussen und Bahnen eine flächendeckende und anlaßlose Erfassung aller Fahrgäste mittels Videoüberwachung durch. Das schafft eine neue Norm der lückenlosen und systematischen Überwachbarkeit in der Öffentlichkeit und steht als Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Übermaßverbot im krassen Gegensatz zur gängigen Rechtssprechung deutscher Gerichte.

Auf eine Nachfrage durch einen Betroffenen reagiert die Hamburger Datenschutzbehörde merkwürdig abweichend von der im „Düsseldorfer Kreis“ aller Datenschutzbehörden Deutschlands vereinbarten Linie zur Ablehnung flächendeckender Videoüberwachung im ÖPNV und versucht diese Haltung (als Begründung zum Nichteinschreiten) mit seltsamen Argumenten zu verteidigen.

Im Einzelnen:

Auf die Nachfrage eines Hamburgers zur Rechtmäßigkeit der lückenlosen Videoüberwachung und -aufzeichnung aller bus- und bahnfahrenden Menschen in Hamburg haben die Hamburger Datenschutzbehörde unter anderem wie folgt geantwortet:

„Auch wenn die Videoüberwachung unzweifelhaft in das Recht der Fahrgäste auf informationelle Selbstbestimmung eingreift, halten wir die Videoüberwachung mit Blick auf die Besonderheiten der Großstadt Hamburg nicht für unverhältnismäßig. Die Eingriffsintensität einer Videoüberwachung im ÖPNV wird nach unserer Wertung maßgeblich durch die Fahrzeit bestimmt. In Hamburg sind die Fahrzeiten vergleichsweise kurz. Die betroffenen Fahrgäste bleiben in der Regel anonym, da ein Zugriff auf die Bildaufzeichnungen nur anlassbezogen erfolgt.

Es ist nicht ersichtlich, dass Fahrgästen, die sich gesetzeskonform verhalten, durch die Videoüberwachung der Busse und Bahnen in Hamburg Nachteile drohen oder sie Nachteile befürchten müssen. Wir halten es für mölich, dass Sie sich durch Videoüberwachung in Hamburger Bussen und Bahnen beeinträchtigt fühlen. Ihre Vermutung, dies träfe auch auf andere Passagiere zu, können wir jedoch nicht bestätigen. Soweit wir dies nachvollziehen können, haben wir in den letzten fünf Jahren keinerlei vergleichbare Beschwerden erhalten.

Auch vor diesem Hintergrund sehen wir gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die schutzwürdigen Interessen der Fahrgäste der derzeitigen Überwachungspraxis in Hamburg entgegenstehen.“

Das ist aus unserer Sicht eine unsinnige und unhaltbare Position:

  • Dass die Fahrzeiten in Hamburg „vergleichsweise kurz“ sein sollen, ist falsch. Besonders und gerade Hamburg besitzt aufgrund seiner Bevölkerungsgröße und wegen der besonderen städteräumlichen Situation sogar besonders lange Fahrzeiten. Wer in Hamburg schon mal S-Bahn („Schnellbahn“) gefahren ist, weiß das sehr gut.
  • Unberücksichtigt bleibt hierbei zudem die Frage, wie oft oder wie regelmäßig ein Einzelner die HVV-Beförderungsangebote nutzt. Eine pauschale Aussage lässt sich also unabhängig vom Vorgenannten überhaupt gar nicht treffen.
  • Dass den vollständig videoüberwachten Fahrgäste keinerlei „Nachteile drohen und diese keine Nachteile zu befürchten haben“ ist zwar freundlich gemeint, ignoriert aber die Tatsache, dass die im Hamburger ÖPNV allgegenwärtige Videoüberwachung auf die Fahrgäste einschüchternd oder (bewusst oder unbewusst) freiheitseinschränkend wirken kann. Das hat dann auch nichts mit einer „gefühlten Beeinträchtigung“ dieser Menschen zu tun. Dieses zu unterstellen wirkt herablassend und frech.
  • Bei einer Bewertung, die Grundrechte ernst nimmt, müsste bereits die anlasslose Speicherung von Daten, die Rückschlüsse auf Verhalten und Bewegung von Personen zulassen, ins Gewicht fallen und nicht erst die Frage, ob und wie ausgewertet werden darf. Das ist für den Betroffenen schließlich weder ersichtlich noch überprüfbar.
  • Es dürfte nach unzähligen Datenskandalen klar sein, dass ein Versprechen, einmal erhobene Daten bei „gesetzestreuem Verhalten“ nicht auszuwerten, vor Missbrauch, sei es durch die Unternehmen, einzelne Mitarbeiter oder sogar Sicherheitsbehörden, nicht schützen kann. Auch das Versprechen, nur 24 Stunden lang zu speichern (im Vergleich zu anderen Städten sehr kurz), vermag dies nicht. Nur konsequente Datensparsamkeit kann das. Genau wie das Sammeln von Mobilfunk-Standortdaten, die schon mehrfach für Massenverdächtigungen missbraucht worden sind, kann flächendeckende Videoaufzeichnung sehr wohl selbst bei „gesetzestreuem Verhalten“ Nachteile bedeuten.
  • Wenn Freiheits- und Persönlichkeitsrechte eines Einzelnen beeinträchtigt werden ist es nicht von Relevanz, ob dieses von den Betroffenen per Beschwerde vorgetragen worden ist oder nicht. Ab wie viel Beschwerden meinen die HVV und die Hamburger Datenschutzbeamten und -angestellten denn die Grundrechte der Fahrgäste stärker achten und würdigen zu müssen? Sind Grundrechte nur dann wirksam, wenn sie mehrheitsfähig sind?

Die Hamburger Datenschutzbehörde isoliert sich mit dieser Haltung von der von allen Landes- und Bundesdatenschutzbeauftragten gemeinsam im Düsseldorfer Kreis erarbeiteten Position. In deren Orientierungshilfe „Videoüberwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln“ heisst es in der erst jüngst im September 2015 neuaufgelegten Fassung unter anderem:

„Vor dem Einsatz einer Videoüberwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln ist stets einzelfallbezogen zu prüfen, ob sie für den verfolgten Zweck tatsächlich erforderlich ist. Die Erforderlichkeit einer Videoüberwachung kann nur dann bejaht werden, wenn die Überwachung geeignet ist, das festgelegte Ziel zu erreichen, und es hierfür kein milderes, in die Rechte der Betroffenen weniger einschneidendes Mittel gibt.

So kann der regelmäßige Einsatz von Personal dem Schutzbedürfnis der Fahrgäste ebenso gut Rechnung tragen wie der Einsatz von Überwachungskameras. Auch die Verwendung besonders widerstandsfähiger Sitze/Sitzbezüge sowie eine spezielle Oberflächenbeschichtung können Vandalismusschäden vorbeugen. Zudem kann eine nur temporäre Videoüberwachung (z.B. nur zu bestimmten Tages- bzw. Nachtzeiten) oder der Kameraeinsatz nur auf besonders gefährdeten Linien oder beschränkt auf schlecht einsehbare Fahrgastbereiche ausreichen. Denkbar ist es, zu Zeiten oder auf Linien, in denen eine permanente Videoüberwachung nicht erforderlich ist, die Möglichkeit einer anlassbezogenen Aktivierung der Videoüberwachung durch einen Notfallschalter für den Fahrzeugführenden oder das Begleitpersonal vorzusehen.“

Weiter:

„Schließlich ist eine Videoüberwachung allein zur Steigerung des subjektiven Sicherheitsgefühls der Fahrgäste unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit nicht geboten.“

Und schließlich:

„So stellt eine zeitlich und räumlich lückenlose Überwachung des Fahrgastraumes, der sich die Fahrgäste nicht entziehen können, einen intensiveren Eingriff dar als eine nur zeitweilige Beobachtung, die nur Teilbereiche des Raumes erfasst.“

Damit drückt der Düsseldorfer Kreis (der sich allerdings davor scheut, in seinen beurteilenden Abwägungen auch die Persönlichkeitsrechte mit einzubeziehen!) nichts anderes aus, als was das Bundesverfassungsgericht und viele andere Gerichte in der Rechtssprechung der letzten Jahrzehnte immer wieder betont haben:

Eine flächendeckende Videoüberwachung des öffentlichen Raumes ist mit dem freiheitlichen Anspruch unserer Demokratie, mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren!

In Hannover, wo die für den ÖPNV zuständige Üstra AG auf beharrliche, über Jahre sich hinziehende Nachfragen zugegeben musste, keinerlei Erkenntnisse über den Erfolg der Videoüberwachung zur Aufklärung von Straftaten zu haben und zugleich betont, es ginge jedoch um ein „subjektiv“ verbessertes Sicherheitsgefühl, streitet man sich derzeit mit der niedersächsichen Landesdatenschutzbehörde um die Interpretation der Vorgaben des Düsseldorfer Kreises. Vermutlich wird der Ausgang dieses Verfahrens Signalwirkung für den bundesweiten Umgang mit Videoüberwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln erlangen.

Unser Fazit:

Die Entwicklung in Hamburg ist typisch für einen Sicherheitswahn, der auf „gefühlte“ Effekte statt auf Fakten setzt und sich über Grundrechte hinwegsetzt. Wer auf die Benutzung des öffentlichen Nahverkehrsbetrieb Hamburgs angewiesen ist, der kann der flächendeckenden Videoüberwachung in Bussen und Bahnen – verantwortet durch die Verkehrsbetriebe im HVV und durch die Hamburger Datenschutzbehörde – nicht entgehen.

„Pech“ für diejenigen Menschen unserer Gesellschaft, die z.B. als Berufspendler auf die Nutzung des ÖPNV angewiesen sind. Diese (vermutlich tendenziell eher ärmeren Menschen) sind einem zusätzlich erhöhten latenten Überwachungsdruck ausgeliefert, während der behauptete Zugewinn für die Sicherheit im öffentlichen Nahverkehr nicht einmal durch belastbare Studien untermauert ist:

Kameras schützen nicht, sie erzeugen lediglich bei manchen Menschen die Illusion von Sicherheit.

Oder wie es der stellvertretende Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) Dirk Baier ausgedrückt hat:

Die Entwicklung in Deutschland ist tatsächlich so, dass die Videoüberwachung zunimmt. (…) Mich als Kriminologe stimmt diese Entwicklung in Deutschland trotzdem nachdenklich. Nicht aus datenschutzrechtlichen Bedenken, sondern aus wissenschaftlichen Bedenken, weil wir wissen, die Videoüberwachung bringt weitestgehend nichts! Sie bringt nichts für Prävention von Taten, sie bringt nichts für die Aufklärung oder relativ wenig für die Aufklärung und auch das Sicherheitsgefühl, was häufig als Argument eingebracht wird, wird nicht gesteigert, sondern wir können sogar teilweise den gegenteilen Effekt feststellen: Da, wo Videoameras sind, da fühlt man sich unsicher, weil man meint, da ist ein gefährlicher Ort – da will ich erst gar nicht hingehen.

 

Weitergehende freiheitsfoo-Wikiseiten zu diesem Thema:

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Bericht, Meinung/Kommentar veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.