Kann oder will das Bundesverkehrsministerium keine Antworten auf vier dringende Fragen zum „Neun-plus-vierzig-Euro-Ticket“ liefern?
Vor 20 Tagen baten wir um die Antwort auf vier Fragen zum neuen, hochgelobten bundesweit gültigen Ticket: Wie sollen Menschen ohne Girokonto an das Ticket gelangen, was ist mit Menschen ohne Zugang zum Internet, was steckt hinter der neuen zentralen IT-Struktur zur Erfassung von Kontrolle und Ausgabe der Tickets und warum sollen Kinder ab 6 Jahren ohne eigenes Smartphone vorweisen müssen, um das Ticket erwerben zu können?
Das wirft dann eben die Frage auf: Kann oder will der Digital- und Verkehrsminister Wissing von der FDP diese Fragen nicht beantworten?
Nebenbei: Warum auch ein Papierticket digital sein könnte und mehr echten Fortschritt als das jetzige „digitale“ Ticket gewesen wäre, das erläutert Julia Kloiber in einem Kommentar auf heise.de vom 1.5.2023 recht anschaulich.
Veröffentlicht unterBericht|Kommentare deaktiviert für Das Bundesverkehrsministerium dumm oder dreist: Keine Antworten auf dringende Fragen zum 49-Euro-Ticket
„Das 9-Euro-Ticket war einfach: Zum Fahrkartenautomaten der Stadtbahn um die Ecke, neun Euro einwerfen, Namen auf das Papierticket schreiben, losfahren. Das Deutschlandticket ist aber das genaue Gegenteil davon: Es ist nicht nur 5,5 mal so teuer. Ich kriege es auch nicht mehr am Automaten und erst recht nicht gegen Bargeld. Ich muss mich online auf einem Portal registrieren und dort einer monatlichen Abbuchung unter Angaben meines Bankkontos sowie anderen Geschäftsbedingungen zustimmen. Und weil ich nur ein entgoogeltes Smartphone nutze und ein Smartphone-Ticket nur mit der zwangsweisen Installation einer Fremdsoftware nutzen kann, von der ich nicht weiss, was sie auf meinem Gerät macht, muss ich die Chipkarten-Variante nutzen. Die muss ich bei meinem Verkehrsverbund rechtzeitig 20 Tage vor Monatsbeginn bestellt haben, also einfach besorgen und losfahren geht gar nicht mehr. Doch selbst die Vorbestellung funktioniert nicht, weil mein Verkehrsverbund gerade gehackt worden ist. Schließlich hat mir die DB-Auskunft nun auch noch mitgeteilt, dass es davon unabhängig hier gar keine Chipkarten-Variante geben soll und dass sich auch mein Kind ein eigenes Smartphone anschaffen müsse, wenn es ein Deutschlandticket erhalten solle. Was soll der ganze Unsinn?“ (Ein ÖPNV-Nutzer aus Hannover)
Der als „Deutschlandticket“ (auch: „D-Ticket“) bezeichnete, für 49 Euro pro Monat verfügbare Nachfolger des 3 Monate lang dauernden Versuchs günstiger ÖPNV-Benutzung „9-Euro-Ticket“ ist nun seit einigen Tagen für ab Mai 2023 beginnend vorbestellbar.
Um die Ausgestaltung dieses Tickets gab es von Anfang an Diskussionen. FDP-Bundesverkehrsminister Wissing hat gleich zu Beginn und unabrückbar die Betonung auf ein ausschließlich rein „digitales“ Ticket gelegt (FDP-Neusprech: „Digital first – Bedenken second“).
Das vormalige 9-Euro-Ticket war ein Monatsticket und war für die drei Monate Juni bis August 2022 verfügbar. Anstelle das 9-Euro-Ticket einfach zu verlängern benötigte die Parteipolitik acht Monate, um ein neues Modell als Nachfolger an den Start zu bringen. Davon abgesehen entzündet sich nun Kritik in mehrfacher Hinsicht:
1. Die Preisgestaltung 2. Die viele Menschen ausschließende Ausführung als „digitales Ticket im Abo“ 3. Die Gefahr neuer, bislang wenig diskutierter Profilbildung 4. Unklare Rahmenbedingungen und Preise 5. Kinder ohne eigenes Smartphone erhalten kein „Deutschlandticket“
Vor allem der dritte Punkt, die Gefahr für die informationelle Selbstbestimmung der „Deutschlandticket“-Nutzer scheint uns derzeit öffentlich noch völlig unterbelichtet zu sein, weil Details dazu erst jetzt und auch nur in Ansätzen bekannt geworden sind, und dieser Komplex wirft einige unbeantwortete Fragen auf.
Und zur Ausgrenzung von Kindern ohne Smartphone war uns bis zu dieser Recherche auch noch nichts bekannt.
Aber eins nach dem anderen und abschließend noch ein Fazit:
1. Die Preisgestaltung
Parteivertreter in Bundes- und Landtagen und Kommunen waren nicht bereit, das Angebot für einen Preis von 9 Euro fortzuführen. Zwischendurch waren in den Parteien neue monatliche Preise von 29 Euro (Grüne) bis 70 Euro (SPD) in der Diskussion. Zudem behält sich der FDP-Bundesminister ausdrücklich vor, den Preis sogar bald noch weiter zu erhöhen. Deswegen dürfte das Ticket im offiziellen Sprachgebrauch auch „Deutschlandticket“ und nicht „49-Euro-Ticket“ heißen, um diese Preissteigerungen ohne größere formelle, sachliche und sich am Namen reibende Akzeptanz-Probleme durchsetzen zu können.
Klar ist, dass der Sprung von 9 auf 49 Euro (+444%) eine stark abschreckende Wirkung auf viele potentielle Nutzer*innen haben wird. Es verliert dadurch an Attraktivität für all die, die nicht schon jetzt den ÖPNV nutzen und entsprechende Monats- oder Jahrestickets gebucht haben, die sich durch das „Deutschlandticket“ nun deutlich verbilligen. Die „ZEIT“ sprach denn auch von „einem Geschenk für die Mittelschicht“[1].
Den Pendler*innen und allen anderen schon jetzt regelmäßig den ÖPNV Nutzenden wird ein günstigerer Monatspreis dank des „Deutschlandtickets“ zurecht zuteil. Doch der Effekt, dass auch andere Menschen nun vermehrt den ÖPNV nutzen und somit den Individualverkehr vermindern und somit zum Schutz von Klima und Erde beitragen, dieser Effekt wird sich mit der neuen Preisgestaltung nur reduziert einstellen.
Die Idee eines fahrscheinlosen und umlagefinanzierten ÖPNV für alle, wie schon vor Jahren von der „Piratenpartei“ gefordert und zumindest noch in 2020 auch von Fridays-for-Future propagiert [2], diese Idee fand im öffentlichen, medialen Diskurs so gut wie gar kein Gehör und Resonanz. Aus der Sicht des nachhaltigen Lebens auf diesem Planeten eine sehr schlechte Entwicklung.
2. Die viele Menschen ausschließende Ausführung als „digitales Ticket im Abo
Anders als beim 9-Euro-Ticket kann das „Deutschlandticket“ nicht mehr an Fahrkartenautomaten erworben werden. Es muss ein Abonnenment samt automatisierten monatlichen Geldeinzug von einem Bankkonto eingerichtet werden. Das Abonnement kann monatlich gekündigt werden, dazu wird als spätester Kündigungszeitpunkt der 10. Tag des Vormonats genannt.
Üblicherweise soll das Deutschlandticket mittels Smartphone oder Tablet nutzbar sein, einige Verkehrsverbünde bieten auch eine Chipkarte an. Ebenfalls soll befristet bis Jahresende (!) bei den Verkehrsverbünden, die technisch eine digitale Lösung noch nicht einrichten können, eine Karte in Papierform möglich sein (Beispiele: Greiz, Hildesheim, Braunschweig).
Die Variante Chipkarte ist erst eine Reaktion des Bundesverkehrsministers Wissing auf die Kritik, die nach Ankündigung des Tickets als „papierlos“ auf ihn einging. Er ließ im Oktober 2022 verlautbaren:
„Es könnte außer einer digitalen Variante aber zum Beispiel auch eine Plastikkarte geben, erläuterte eine Ministeriumssprecherin am Freitag dem WDR. Auf jeden Fall solle das Angebot barrierefrei sein. Details würden noch geklärt.“ [3]
Rund 3,4 Millionen Menschen in Deutschland haben (mit Stand 2022) noch nie (!) das Internet benutzt [4]. Ebenfalls ca. 500.000 Menschen leben in Deutschland, ohne über den Zugang zu einem Girokonto zu verfügen [5]. Diesen Menschen wird der Zugang zum „Deutschlandticket“ fast oder ganz verunmöglicht.
Auch gibt es eine Vielzahl von Menschen, die kein Smartphone benutzen möchten oder können. Sei es aus Datenschutz-Gründen, sei es aufgrund persönlicher Handicaps. Für erstere gibt es keine Lösung, ihnen wird die Teilhabe am „Deutschlandticket“ verweigert. Letztere werden auf die Alternative der Chipkarte verwiesen.
Deutschlandsticket gibt es beim hannoverschen Verkehrsverbund erst mal gar nicht mehr …
Doch die Chipkarte ist nicht immer eine echte Alternative. Die Chipkarte soll von den regionalen Verkehrsverbünden auf freiwilliger Basis bereitgestellt werden. In Hannover geht das nur, wenn man die Deutschlandkarte bis zum 10. des Vormonats rechtzeitig (und ausschließlich online und unter Anlegung eines Kundenkontos) bestellt hat. Spontankäufe der Deutschlandkarte als Chipkarte sind hier also ausgeschlossen. Beziehungsweise in Hannover kann man derzeit gar keine Chipkarte vorbestellen, weil der hannoversche Verkehrsverbund Opfer einer erfolgreichen Phishing-Attacke geworden ist und deswegen erst mal gar keine Deutschlandtickets mehr verkaufen kann [6] … Soviel zum Thema Resilienz einer auf IT-Strukturen gründenden Gesellschaft. In Hannover ist das Papierticket übrigens auch grundsätzlich gar nicht verfügbar – und wäre auch gar nicht bargeldgebunden am Automaten zu erwerben, nachdem der hannoversche Verkehrsverbund nach einigen Fahrkartenautomatensprengunggen die Bargeldzahlung an [Korrektur: allen oberirdischen] Automaten kurzerhand vollkommen ausgesetzt hat [7]. (Aber dieses andere Kapitel wollen wir noch in einem weiteren Blogbeitrag genauer beleuchten.)
Deutschlandticket auf dem Smartphone? Geht nur, wenn man der Installation einer über Google Play Store beziehbaren, nicht quell-offenen Fremdsoftware zustimmt. Menschen mit gehärteten oder entgoogleten Smartphone-Android-Systemen (z.B. GrapheneOS, CalyxOS) können deswegen kein Deutschlandticket bekommen, werden ausgeschlossen.
Der Zwang zur Online-Zahlung, der mittelbar aufgebaute Druck, ein „Deutschlandticket“ ohne besonders viel Umstände und zusätzlichem Aufwand nur mittels Smartphone oder Tablet erwerben zu können und dann auch nur mit verbindlichem Abonnement, das alles wirkt auf Nicht-Smartphone-Nutzer*innen, auf Bargeldzahlungs-Befürworter und auf Menschen mit Beeinträchtigungen diskriminierend. Auch einigen älteren Menschen mit wenig Hang zum „Digitalen“ dürfte das alles zunächst unüberschaubar vorkommen und Ängste und Sorgen bereiten oder das Gefühl des Ausgeschlossenseins verstärken.
Das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und das Recht auf (nicht nur informationelle!) Selbstbestimmung haben ein bedingtes „Recht auf Analog“ zur Folge. Der Bundesverkehrsminister von der ach so „Digital First“-verliebten FDP missachtet das völlig.
3. Die Gefahr neuer, bislang wenig diskutierter Profilbildung
Das 9-Euro-Ticket konnte an jedem im öffentlichen Raum stehenden Fahrkartenautomaten gegen Bargeld erworben werden. Dass dessen Nachfolge nun digital wird liegt neben den Ambitionen von Minister und Ministerpartei sicher auch daran, dass es zwischen den Verkehrsdienstleistern Streitigkeiten um die Verteilung der vorhandenen Geldströme gibt.
Für eine Abrechnungsgrundlage soll nachvollziehbar sein, welche Verkehrsverbünde wie viele der „Deutschlandstickets“ verkauft haben und wie viel „Personenkilometer“ die Unternehmen im gleichen Zuge als Anteil daran geleistet haben.
Zur Klärung dieser Fragen soll eben nun eine neue IT-Infrastruktur geschaffen werden. Für deren Umsetzung und Betrieb wurde die in Köln ansässige „VDV eTicket Service GmbH & Co. KG“ [8] ausgewählt. Das sich als „(((eTicket Deutschland“ bezeichnende Unternehmen ist ein 2002 entstandener Zusammenschluss aus 14 Verkehrsverbünden und -unternehmen und fünf Industriekonzernen (Cubic Deutschland, Infineon, Siemens, T-Systems und TEWET). Ausgangspunkt war der Wunsch des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), einheitliche Standards für Verkauf und Kontrolle von Fahrkarten in Deutschland zu schaffen. Und so nun eben auch „digital“ für das gesamte Land.
In einem von eTicket Deutschland veröffentlichten Dokument „Einstieg Deutschlandticket“ [9] heißt es:
„Das Deutschlandticket macht erstmalig ein nationales [Verkehrsverbünde]-System notwendig. In diesem System laufen alle Ausgabe- und Kontrolltransaktionen aller [Verkehrsanbieter] zusammen, so dass ein nationales Monitoring sichergestellt werden kann. Hierbei werden keine Kundendaten erfasst, sondern nur pseudonymisiert IDs, die dem PV eine Übersicht zur Grundgesamtheit aller Tickets und der Kontrollsituation geben. (…) um 31. Juli 2023 muss jedes Unternehmen aber in der Lage sein, elektronische Tickets auch elektronisch kontrollieren zu können. Bis zum 31. Dezember 2023 müssen alle ausgebenden Unternehmen an den Kontroll- und Sperrlistenservice (KOSE) angeschlossen sein, um Tickets zu sperren oder gegen die Sperrliste zu prüfen.“
Was ist dieser „KOSE“? Dazu das Dokument weiter:
„Alle [Verkehrsverbünde] melden ungültig gewordene eTickets an den KOSE. Dies kann z. B. im Fall von Ticketverlust, Vertragskündigung oder Zahlungsausfall notwendig werden. Damit Fahrgäste nicht in Region A ein Deutschlandticket kaufen, die Zahlung zurückrufen und dann den Rest des Monats in Region B mit einem nach Kontrolle gültigem Ticket fahren können, werden diese Tickets auf die Sperrliste gesetzt. Der Dienstleister holt jeden Tag automatisiert eine frische Sperrliste ab und spielt diese in seine Kontrollgeräte.“
Wenn damit der Abgleich, ob ein vor Ort überprüftes Ticket gesperrt ist oder nicht, wenn dieser Abgleich nur lokal auf dem Handheld-Fahrkartenprüfgerät und ohne Speicherung oder Ausleitung von Ticketdaten erfolgt, dann ist die Sorge vor einer deutschlandweiten zentralen Erfassung von personenbezogenen Daten zunächst unbegründet.
Unklar bleibt aber, was genau mit dem „nationalen Monitoring“ unter zentraler Erfassung und Verarbeitung pseudonymisierter Daten aller Deutschlandticket-Nutzer*innen gemeint ist. Klar ist, dass hier eine bundesweit zentrale Datenbank geschaffen wird, in die zumindest auch ein Teil jener Daten fließen sollen, die bislang dezentral von den einzelnen Verkehrsunternehmen verarbeitet werden. Fraglich ist die genaue Ausgestaltung der gespeicherten Datensätze. Wenn sie „pseudonymisiert“ sind, enthalten sie offenbar Daten, die mit zusätzlichen Informationen (wie sie typischerweise Sicherheitsbehörden bei Anfragen haben) re-personalisiert werden könnten.
Da von „Ausgabe-“ und „Kontrolltransaktionen“ die Rede ist (s.o.), scheinen Käufe des Tickets ebenso gespeichert zu werden, wie deren Kontrolle, z.B. beim Benutzen eines Busses. Sofern daraus eine genaue Nachverfolgung der von den Unternehmen eingenommenen resp. erbrachten Einnahmen und Transportleistungen erstellt werden soll, wäre dies zur gegenseitigen und zentralen Abrechnung zunächst plausibel.
Werden dabei allerdings mehr Angaben verarbeitet, als Einstiegs-, Umstiegs- und Ausstiegsdaten von (anonymen) Reisenden, sowie ggf. das ticketausgebende Unternehmen, so würde der (auch retrograden) Profilbildung Tür und Tor geöffnet.
Unsere Anfrage an das Bundesverkehrsministerium [10] blieb trotz (verlängerter) Fristsetzung und telefonischer Nachfrage bislang unbeantwortet, so dass Sorgen einer heiklen Bewegungsdaten-Vorratsspeicherung nicht ausgeräumt werden können.
Sicher ist: Das „Deutschlandticket“ hebelt das Recht auf anonymen Erwerb der Fahrkarte von Anfang an aus – ohne jegliche öffentliche oder parlamentarische Diskussion dazu. Es vermag aber auch noch weiter dazu „taugen“, das Recht auf anonymes Reisen, auf anonyme Fortbewegung zu beschränken oder ganz aufzuheben.
Sofern das neue „nationale Monitoring“ im Zuge des „Deutschlandtickets“ mit pseudonymisierten Identitäten Bewegungsdaten erfasst würde unmittelbar ein großes Interesse staatlicher Behörden (Polizei, Zoll, Geheimdienste), von Unternehmen und Datendieben daran erwachen. Mit all den daraus resultierenden Gefahren für die informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen. Denn aus pseudonymisierten Daten, die eben nicht anonymisiert sind, den Personenbezug wiederherzustellen dürfte ein Leichtes sein, wie jüngere Studien nahelegen.[11]
Nicht zu unterschätzen ist auch der infrastrukturelle Ausbau, der aus dem „Deutschlandticket“ folgt. Nicht nur werden Menschen „angeregt“, auf anonymes Reisen zu verzichten. Umgekehrt werden auch Verkehrsunternehmen, die bislang das elektronische Tracking ihrer Fahrgäste, zumeist wohl aus Kostengründen, ablehnten, angeregt oder gar gezwungen, die entsprechende Infrastruktur nunmehr anzuschaffen. Gewiss letztendlich auf Kosten der Reisenden. Und wenn die Geräte einmal da sind werden sie sicherlich auch zukünftig genutzt werden. Trackingfreies Reisen wird so immer stärker verunmöglicht.
Dabei ist gegen etwas Komfort beim Ticketkauf nichts einzuwenden. Die Frage ist allerdings, ob dadurch die informationelle Selbstbestimmung auf der Strecke bleiben muss. Dezentrale Datenhaltung könnte für Abrechnungszwecke ausreichen, wie das 9-Euro-Ticket beweist und eine Pseudonymisierung wäre verzichtbar, wenn beim summarischen Abrechnen die in diesem Zusammenhang ja komplett überflüssigen personenbezogenen Daten nicht an die zentrale Datenbank weitergegebn würden.
Gewiss können so mehr Daten erhoben, mehr neue Datenpunkte errechnet werden. Aber zu welchem Zweck? Geht es noch um einfachen und günstigen Nahverkehr? Oder soll einfach Digitalisierung reflexionsfrei mit der Brechstange durchgedrückt werden, um neue Datenseen zu generieren? Big Data gerät so zum sinnfreien Selbstzweck, und das hier in einem Bereich, der eine hilfreiche und sensible Digitalisierung dringend verdient hätte. Eine Digitalisierung die mitnimmt, statt auszuschließen. Die unterstützt statt zu überwachen.
4. Unklare Rahmenbedingungen und Preise
Ein „Deutschland-Ticket“ kostet nicht unbedingt 49 EUR. In vielen Regionen Deutschlands fördern Länder oder Kommunen bestimmte Gruppen zusätzlich. So sollen in Niedersachsen „voraussichtlich im Jahr 2024“ Schüler*innen und Auszubildende für 29 EUR in den Genuss eines „Deutschland-Tickets“ kommen [12]. Diese Möglichkeit wird freilich nur für bestimmte Personengruppen in bestimmten Regionen gelten, die ihr „Deutschland-Ticket“ bei bestimmten Verbünden abonnieren. „Deutschland-Ticket“ ist eben nicht gleich „Deutschland-Ticket“.
In manchen Verkehrsverbünden sind „Upgrades“ verfügbar, die dann beispielsweise gegen Aufpreis die Möglichkeit bieten, das Fahrrad mitzunehmen, eine weitere Person oder einen Hund. Teils aber nur in bestimmten Verkehrsverbünden. Für 29 EUR erhalten Studierende in der Region Braunschweig ein „Upgrade“ ihres Semestertickets, auf das „Deutschland-Ticket“ – wobei beide rechtlich getrennt bleiben.
Während die meisten Verkehrsunternehmen eine Kündigung des Tickets nur bis zum 10. des Vormonats akzeptieren, bietet etwa ein Startup in Kooperation mit Verkehrsbetrieben aus dem Raum Anhalt-Bitterfeld das „Pausieren“ des Abos und eine Kündigungsfrist bis einen Tag vor Monatsende. Freilich nur als Smartphone-Variante und mit geradezu demütigenden Datenschutzbedingungen für die Zahlungs- und anderen persönlichen Daten der Nutzenden.
Wer ein Deutschland-Ticket erwerben möchte, tut also gut daran, Anbieter zu vergleichen. Die Unterschiede umfassen u.a.
Schufa-Abfragen
Kündigungsfristen (normal: 10. des Vormonats; teils bis 1 Tag vor Ende des lfd. Monats)
Kauffristen (teils nur im Voraus, teils auch im laufenden Monat)
Möglichkeit eines papierhaften Tickets
Möglichkeit einer Chipkarte
Möglichkeit, ein Abo zu „pausieren“
Nutzung 1. Klasse
Mitnahme von Fahrrad, Haustier, Begleitperson, Kind
Möglichkeit der Barzahlung (fast unmöglich)
Rabattierung für Jugendliche, Schüler*innen, …
Rabattierung für Angestellte (Jobticket – hier gibt es immerhin eine bundesweite Rahmenvereinbarung)
Rabattierung für Studierende
automatische Umstellung bestehender Abos auf ggf. billigeren Deutschland-Ticket-Tarif
All diese Eigenschaften eines Abo-Vertrags (und mehr) können von einzelnen Verkehrsunternehmen/App-Anbieterinnen unterschiedlich gehandhabt werden, so dass schon fast nicht mehr von dem „Deutschland-Ticket“ gesprochen werden kann.
Ob so der Nahverkehr wirklich „revolutioniert“ wird, wie die niedersächsische Landesregierung meint, bleibt zumindest zweifelhaft. Offensichtlicher ist da schon, dass das Gros der oben aufgelisteten Merkmale aus Abo-Zwang und dem doch relativ hohen Preis entsteht. Beim 9-Euro-Ticket hatten sich die meisten der oben aufgelisteten Fragen gar nicht erst gestellt.
5. Kinder ohne eigenes Smartphone erhalten kein „Deutschlandticket“
Kinder bis zum einschließlich fünften Lebensjahr dürfen wie bislang auch kostenlos den ÖPNV nutzen. Man könnte hier die Frage aufwerfen, ob man nicht grundsätzlich allen so genannten Minderjährigen, erwerbslose oder in der Ausbildung befindlichen Menschen Freifahrt gönnen könnte, wenn man schon keinen pauschal fahrscheinlosen ÖPNV für alle durchsetzen mag, aber darum soll es hier nicht gehen.
Es stellt sich die Frage, wie sich ein beispielsweise 6jähriges Kind ein „Deutschlandticket“ erwerben kann und auf welchem Device dieses gespeichert und angezeigt werden kann.
Die Antwort der DB-Reiseauskunft auf diese Frage lautet: Das Kind muss ein eigenes Smartphone besitzen und kann andernfalls kein „Deutschlandticket“ bekommen.
Wenn es sich hierbei nicht um einen Zwang zum Smartphone für alle Menschen ab sechs Jahren handelt, dann ist es ein Ausschluss vieler junger Menschen aus dem System diese Ticketangebots.
Das eine wie das andere ist schlichtweg nicht hinnehmbar!
Fazit
Der Bundesverkehrsminister wirbt selbstverliebt für das „Deutschlandticket“ [13] und selbstverständlich darf das FDP-Lieblings-Buzzwort „Freiheit“ nicht fehlen:
„Das Deutschlandticket ist modern, digital und einfach. Es bringt eine spürbare Entlastung, motiviert zum klimafreundlichen Umstieg und wird den ÖPNV dauerhaft attraktiver machen. (…) Das ist ein echter Fortschritt für unser Land und ein echter Freiheitsgewinn. (…) Mit dieser Reform zeigen wir: Deutschland kann modern. Deutschland kann digital. Deutschland kann einfach. (…)“
Richtig ist, dass der sachliche Fortschritt, mit nur einem Ticket alle ÖPNV-Angebot des ganzen Landes verkehrsverbundübergreifend nutzen zu können ein großer ist. Dieser „Freiheitsgewinn“ ist allerdings keine Erfindung des FDP-Ministers, das gab es schon mal als „Schönes-Wochenend-Ticket“ von 1995 bis 2019 [14].
Falsch dagegen ist, dass das „Deutschlandticket“ einfach ist. Jedenfalls für längst nicht alle Menschen. Smartphone-Nutzer werden bevorteilt, andere Bevölkerungsgruppen, darunter viele arme, junge und datenschutzbewusste Menschen ganz ausgeschlossen. Und die vom Minister beworbene „Modernität“ beinhaltet die Neu-Installation einer deutschlandweiten Fahrschein-Überwachungs-Infrastruktur, deren Missbrauch nicht augeschlossen werden kann. Auch wenn zu diesem Komplex noch viele Fragen offen bleiben.
Ob und wie sehr die Nutzung des ÖPNV mit dem „Deutschlandticket“ an Attraktivität gewinnt, bleibt abzuwarten. Mit einer anderen Ausgestaltung hätte es sicher mehr werden können. Warum das einfache papiergebundene Modell des 9-Euro-Ticket nicht beibehalten wurde, bleibt unklar.
Unklar ist auch, ob, wann und wie sehr das Ministerium den Preis für das Ticket anheben wird. Oder es gar irgendwann gänzlich auslaufen lässt? Das „D“ im „D-Ticket“-Logo ließe sich dann leicht von „Deutschland“ auf „Digital“ umdeuten.
Den großen und zukunftsgerechten Wurf eines fahrscheinlosen, deutschlandweiten ÖPNV, den traute sich das FDP-Ministerium nicht zu … oder wollte ihn gar nicht erst.
[2] Forderungen von Fridays-for-Future (FFF) an den Berliner Senat, 2020: https://fridaysforfuture.berlin/wp-content/uploads/2021/01/ForderungenFFFertig.pdf Nach dem Ende des 9-Euro-Ticket-Pilotprojektes forderte FFF im Sommer 2022 die Fortführung dieses Tickets zum gleichen Preis: https://www.main-echo.de/ressorts/politik/fridays-for-future-will-klima-sondervermoegen-art-7685097
[3] Oktober 2022: Auf Bedenken hin, dass ein rein digitales Ticket Menschen ausgrenzen könne, versicherte Minister Wissing, dass man sich dazu keine Sorgen machen müsse. https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/klima-ticket-nahverkehr-deutschlandweit-100.html
[4] Destatis - Zahl der Woche Nr. 15 vom 11.4.2023: Knapp 6 % der Bevölkerung im Alter von 16 bis 74 Jahren in Deutschland sind offline https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2023/PD23_15_p002.html
[6] Beitrag der HAZ vom 7.4.2023, Ausschnitt: "Das Deutschlandticket, das zum Preis von 49 Euro monatlich bundesweit in Bussen und Bahnen des Nah- und Regionalverkehrs Fahrten erlaubt, wird beim Großraum-Verkehr Hannover (GVH) zum 1. Juni buchbar sein. Generell ist der erste Gültigkeitstermin der 1. Mai. Diesen Termin kann der GVH wegen der Folgen des Hackerangriffs auf die Üstra nicht halten. (…bla…) Der Angriff war am vergangenen Freitag frühmorgens bemerkt worden. Zunächst hatte der GVH den bundesweiten Vorverkaufsstart am Montag, 3. April, trotzdem halten wollen, musste aber nach wenigen Stunden einen Rückzieher machen. Das liegt daran, dass das Deutschlandticket beim GVH ausschließlich digital als App auf dem Smartphone erhältlich ist. (…bla…) Die Angreifer, die aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität kommen dürften, haben IT-Systeme mit einem verseuchten Mailanhang verschlüsselt. (…)" https://www.haz.de/lokales/hannover/nach-hackerangriff-gvh-bietet-deutschlandticket-nun-zum-1-juni-an-H2MFOD2CDRF6ZKFX4G2FPSDJFA.html
Veröffentlicht unterBericht|Kommentare deaktiviert für Alles andere als einfach und viele Menschen ausschließend: Das „Deutschlandticket“ – eine Kritik. Oder: Was ist das „nationale Monitoring mit pseudonymisierten IDs“ und warum dürfen Kinder ohne eigenes Smartphone nicht mitfahren?
Was mensch so erleben kann, wenn man mal bei Polizeien, Geheimdiensten und anderen „Sicherheitsorganen“ nachfragt, ob und welche Daten die über einen selbst gespeichert haben, davon handelten bereits die letzten beiden Blogbeiträge.
Auch dieser Blogbeitrag handelt von Auskunftsersuchen. Hier bekam die anfragende Person gleich von beiden Hamburger Behörden Auskunft, dass da Daten vorliegen würden, die doch eigentlich längst gelöscht sein müssten … Schwer, da noch von „Einzelfällen“ reden zu wollen.
Polizei Hamburg:
Oh, hoppla – die Daten hätten längst gelöscht sein müssen. Merkt die Polizei aber erst dann, als der Mensch um Auskunft ersucht. Jetzt aber kommen die Daten weg, verspricht die Polizei. Und wenn mensch die schon längst fällige Löschung beschleunigen will, dann bitte nochmal melden und darum bitten. „Man“ könne aber auch noch mal dagegen vor Gericht ziehen …
Weiter geht es mit dem Inlandsgeheimdienst Hamburg („Verfassungsschutz“).
Auch von da wird gemeldet, dass da noch Daten in Form von Briefen (ebenfalls Auskunftsersuchen!) vergangener Jahre gespeichert sind, die eigentlich gelöscht gehörten. Fragend wendet sich der Antwort und Auskunft suchende Mensch an die Behörde:
Und bekommt zur Antwort:
Ach so, „versehentlich“ hat man das zu löschen vergessen … ansonsten werden aber alle zu löschenden Daten „regelmäßig“ bzw. „turnusmäßig“ gelöscht, beteuert die Behörde mit Behördenvertretern, denen man nicht glauben darf, dass sie so heißen, wie sie vorgeben zu heißen.
Veröffentlicht unterBericht|Kommentare deaktiviert für Polizei und Geheimdienst Hamburg: Absurde Antworten zu Auskunftsersuchen über Daten, die eigentlich gar nicht mehr da sein dürften …
Einen ganzen Monat braucht der Telegram-Chat-Bot, um zu erklären, wie man Auskünfte erlangen kann …
Nutzer des Messenger-Dienstes „Telegram“ erfahren beim Versuch, sich an deren Betreiber mit einem Auskunftsersuchen zu wenden, eine bittere, wenn auch wenig erstaunliche Enttäuschung:
Hat man erfolgreich die Stelle im Telegram-System gefunden, mittels der man sich mit Auskunftsersuchen an die Betreiber wenden kann, so wird man mit einem Chat-Bot konfrontiert. Die Auseinandersetzung mit diesem führt dann zu einem wochenlangen Hin und Her, das den Eindruck erweckt, als versuche man Auskunftsersuchende möglichst zu vergrämen.
Dann schließlich lässt nach erfolgreichem Ausharren und Nachfragen der Chat-Bot mit dem Rat zurück, auf einem PC das Telegram-Rechner-Programm zu installieren und darüber seine Daten abzurufen.
Doch das lässt lediglich die Beauskunftung der auf dem eigenen Telegram-Account sowieso noch verfügbaren Informationen zu. Bekanntlich speichert Telegram Chat-Gruppen-Aktivitäten und -Verläufe auf Servern unbekannter Stelle, so dass auch bereits auf dem eigenen Gerät gelöschte Daten von dort aus für Dritte noch abrufbar sind. Doch die Auskunft darüber will Telegram nicht erteilen.
… doch selbst nach Installation von Telegram auf einem Rechner wird man zunächst um einen weiteren Tag vertröstet – um auch dann nur Bruchstücke der zur eigenen Person bei Telegram gespeicherten Daten zu erhalten. :/
Die Hinzuziehung des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI) förderte dann auch wenig erstaunlich eine ernüchternde, erste Rückmeldung wie folgt:
„(…) Bei der Telegram FZ-LLC (kurz: Telegram) handelt es sich um einen Messengerdienst. Seit dem Inkrafttreten des Telekommunikation-Telemedien-Datenschutzgesetz (TTDSG) am 01. Dezember 2021, ergibt sich eine sachliche Zuständigkeit meines Hauses für Messengerdienste aus § 29 TTDSG.
Messengerdienste sind seit der Novelle des Telekommunikationsgesetzes (TKG) im Dezember 2021 als interpersonelle Telekommunikationsdienste im Sinne des § 3 Nummer 1 und 61 litera b, Nummer 24 TKG, Anbieter von Telekommunikationsdiensten gemäß § 29 Absatz 1 und 2 TTDSG. Davon werden sowohl nummerngebundene (§ 3 Nr. 37 TKG) als auch nummernunabhängige interpersonelle Telekommunikationsdienste (§ 3 Nr. 40 TKG) umfasst.
Somit ist mein Haus gemäß § 29 Absatz 1 TTDSG zuständig, soweit für die geschäftsmäßige Erbringung von Telekommunikationsdiensten Daten von natürlichen oder juristischen Personen verarbeitet werden.
Ferner ergibt sich meine die Zuständigkeit aus § 29 Absatz 2 TTDSG, wenn die Speicherung von Informationen in der Endeinrichtung des Endnutzers oder der Zugriff auf Informationen, die bereits in der Endeinrichtung gespeichert sind, durch Anbieter von Telekommunikationsdiensten erfolgt.
Das Unternehmen Telegram mit Sitz in Dubai gibt auf dessen Internetseite lediglich eine Anschrift in der UK an. Hat ein Unternehmen keine Niederlassung in der EU, muss das Unternehmen einen Vertreter als Ansprechperson für die Behörden benennen. Telegram kommt jedoch dieser Verpflichtung gemäß Art. 27 Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) nicht nach.
Dadurch gestaltet sich die Bearbeitung von Beschwerden in diesen Fällen häufig als langwierig und schwierig.
Ich werde jedoch darauf hinwirken, dass sich die Sach- und Rechtslage in Ihrer Angelegenheit in Gänze aufklärt und komme dann unaufgefordert wieder auf Sie zurück. Bis dahin bitte ich Sie noch um etwas Geduld.
Mit freundlichen Grüßen\\
Im Auftrag\\
xxx\\
Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit\\
Referat 23 – Telemedien und Messengerdienste“
Wohl dem/der, die/der sich nicht auf das DSGVO missachtende „Telegram“ einlässt oder einlassen muss …
Veröffentlicht unterBericht|Kommentare deaktiviert für Bundesdatenschutzbeauftragter: „Telegram“ missachtet DSGVO. Auskunftsersuchen laufen ins Leere.
Ausgangspunkt der folgenden kleinen Geschichte war das jährliche Prozedere eines Menschen, Mitte des Jahres 2021 bei einigen staatlichen Stellen an- und abzufragen, ob und welche persönliche Daten dort über ihn vorliegen (Auskunftsersuchen).
Erstaunlicherweise erhielt die Person vom Bundes“verteidigungs“ministerium (BMVg) und auch vom Zoll (Generalzolldirektion) zunächst keine Antwort sondern stattdessen die Bitte/Aufforderung, zunächst selber mitzuteilen, wo oder in welchem Zusammenhang sie Datenspeicherungen in den Behörden vermute.
Diese Praxis widerspricht dem Gedanken des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und der Praxis und Idee von Auskunftsersuchen diametral. Während die Inlandsgeheimdienste („Verfassungsschutz“-Ämter) sich dieses Tricks schon länger bedienen und diese sogar zum Teil gesetzlich verankert wurden ist diese Methode bei Kriegsministerium und Zoll neu. Das BMVg forderte den Petenten sogar dazu auf, sensible personenbezogene Daten per unverschlüsselter E-Mail zu übermitteln.
Der so um Selbstauskunft gebetene Auskunftsersuchende hat sich darum am 18.8.2021 an den Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI) gewendet
„Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit möchte ich mit über die Praxis des Bundesverteidigungsministeriums und des Zolls bei der Beantwortung von Auskunftsersuchen beschweren.
Beide Behörden beantworteten meine Auskunftsersuchen nach Art. 15 DSGVO zunächst nicht, sondern baten mich/forderten mich dazu auf, zuvor selber zu beauskunften, inwiefern Daten über mich bei ihnen gespeichert oder dorthin gelangt sein könnten.
Das ist aus meiner Sicht eine Umkehrung der Intention eines Auskunftsersuchens. Ich möchte mein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung beleben und durchsetzen und kann nicht beurteilen, inwiefern dort an diesen beiden Stellen Daten von mir oder über mich vorliegen. Auch kann es sehr gut möglich sein, dass ich Gegenbenheiten, die Anlässe zu solchen Speicherungen sein mögen, nicht vollständig erinnere oder nicht ermessen kann, ob diese eben zu entsprechenden Speicherungen und Datenverarbeitungen geführt haben mögen.
Dazu kommt noch, dass mir das „Verteidigungs“ministerium vorschlägt, dass ich derlei sensible Personendaten mittels unverschlüsselter E-Mail an dieses übermitteln soll! Davon abgesehen, dass ich dadurch sogar noch weitere Daten über mich preisgeben müsste (Name meiner E-Mail-Adresse, weitere Daten z.B. über mein E-Mail-Programm, die im Zuge einer solchen Kommunkation anfallen und übertragen werden) halte ich es für unzulässig, unverschlüsselt solche möglicherweise sensiblen personenbezogenen Daten zu versenden.
Den Vortrag der Generalzolldirektion, wonach ich pauschal davon ausgehen könne, dass keine Daten über mich gespeichert wären, sofern ich nicht mit einer in einer längeren und für mich schwer zu ergründbaren Liste von Behördenstellen Kontakt gehabt hätte oder mit bestimmten Vorgängen zu tun gehabt hätte (ebenso schwer für mich einzuschätzen), diese Behauptung empfinde ich als frech und ebenfalls unzulässig. Mir scheint, als wolle es sich der Zoll die Arbeit mit eintreffenden Auskunftsersuchen möglichst sparen.
Mich zwingen die „Antworten“ aus beiden Behörden jedenfalls nun dazu, diesen nochmals zu schreiben und zu bekräftigen, dass ich Auskunft erhalten möchte. Ich muß mein Auskunftsersuchen quasi ein zweites mal stellen.
Ich habe beiden Behörden heute geschrieben, dass ich nicht bereit zu einer Selbstauskunft bin und um Erledigung meines Auskunftsersuchens bitte.
Davon unabhängig bitte ich Sie hiermit, den Sachverhalt zu prüfen und zu bewerten, ggf. einzuschreiten und mir Mitteilung zu geben, wie Sie zur Sache stehen.“
Nach einiger Bearbeitungszeit – insbesondere beim Zoll – hat der BfDI folgende Teilerfolge eingefahren:
Am 6.11.2021 teilte der BfDI mit Bezug auf das BMVg mit:
„(…) Unter Darlegung meiner Rechtsauffassung hatte ich das BMVg daher aufgefordert, seine diesbezüglichen Aussagen zu ändern. Das BMVg ist dem gefolgt und hat nach eigenen Angaben die Verfahrensweise diesbezüglich angepasst. Künftig will das BMVg auf die Bitte um Präzisierung grundsätzlich verzichten.
Ich habe das BMVg darauf hingewiesen, dass bei einer Übermittlung personenbezogener Daten per einfacher, unverschlüsselter E-Mail keine angemessene Sicherheit im Sinne des Art. 5 Abs. 1 lit. f) DSGVO gewährleistet werden kann. Ich habe daher das BMVg gebeten, die betroffenen Personen künftig nicht mehr aufdie unsichere Kommunikation per E-Mail […] zu verweisen und insbesondere keine weiteren personenbezogenen Daten über diesen Weg anzufordern. Das BMVg teilte mir hierzu mit, dass die Kommunikation mit dem BMVg grundsätzlich postalisch erfolgt. Zur Erleichterung des Rechtsauuskunft nach Art. 12 und 15 DSGVO wird das Angebot zur Kommunikation per E-Mail weiter bestehen bleiben. Künftig will das BMVg die Antragsteller auf die Unsicherheit der Datenübermittlung per einfacher, unverschlüsselter E-Mail hinweisen.„
Und nun gab es auch in Sachen Zoll am 6.2.2023 mit:
„Die Generalzolldirektion (GZD) habe ich in Ihrer Sache kontaktiert. Die GZD hat in diesem Zuge erklärt, in Zukunft in Fällen, in denen die Präzisierung des Auskunftsbegehrens gemäß Art. 15 Datenschutz-Grundverordnung von vornherein ausgeschlossen wird, auf eine dahingehende Bitte zu verzichten.
An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ausdrücklich für Ihre Eingabe bedanken, da sie dazu führt, die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften bei der GZD nachhaltig zu verbessern und dort eine weitere Sensibilisierung fiir die Belange des Datenschutzes zu erreichen. (…)“
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In 2016 haben wir zum gemeinsam von den Bundesländern Niedersachsen, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern geplanten „Telekommunikations-Überwachungs-Zentrum Nord (TKÜZ-Nord)“ berichtet und Kritik daran geübt. Auch die Niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte spart nicht mit konkreter Kritik und Forderungen an und zu dessen Betrieb (siehe z.B. den Auszug aus ihrem Jahresbericht 2021).
Die Planungen zum TKÜZ-Nord laufen seit 2011. Dessen Inbetriebnahme war zunächst für 2016 geplant, dann für 2020 … und ist aktuell noch immer nicht erfolgt. Unsere Nachfragen an das LKA Niedersachsen zum aktuellen Stand des umstrittenen Vorhabens förderten nur magere und schwammig formulierte Antworten zutage und lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Das TKÜZ-Nord hat seinen Betrieb derzeit (Stand: März 2023) nicht aufgenommen.
Es gibt noch nicht einmal einen Testbetrieb.
Ein geplantes Inbetriebnahme-Datum scheint es auch nicht zu geben – zu mehr, als dass die Überwachungszentrale „schnellstmöglich im Sinne von so bald wie möglich“ in Betrieb genommen werden soll, zu mehr als zu einer solchen gehaltlosen Aussage lässt sich das LKA auch trotz Nachhaken nicht bewegen.
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Durch Urteile des Bundesverfassungsgericht wurden einige Teile des Landespolizeigesetzes Schleswig-Holstein (heißt dort: „Landesverwaltungsgesetz (LVwG)“) außer Kraft gesetzt – die jüngsten Entscheidungen aus Karlsruhe zu verfassungswidrigen Teilen des Landespolizeigesetzes von Mecklenburg-Vorpommern (Pressemitteilung/Entscheidungstext 9.12.2022) und zur Verfassungswidrigkeit gesetzlicher Grundlagen polizeilichen Einsatzes von Data-Mining (BVerfG-Pressemitteilung/Entscheidungstext 16.2.2023) noch gar nicht berücksichtigt.
Dem will die schleswig-holsteinische Landesregierung aus CDU und Grünen mit einer Gesetzesänderung (LT-DS 20/376) begegnen und der Polizei damit möglichst weitreichende Befugnisse zur Erlangung von Vorratsdaten erteilen. Denn darum geht es: um die Möglichkeit zur Praktizierung der Vorratsdatenspeicherung personenbezogener und sensibler Kommunikationsdaten („VDS“). Verklausuliert heißt der Gesetzentwurf dann auch: „Gesetz zur Wiedereinführung der Verkehrsdatenerhebung„. Letztere ist eine der Neusprech-Entwicklungen zur Verharmlosung dessen, was Vorratsdatenspeicherung bedeutet. Es geht aber weiterhin auch um Funkzellenabfragen und die Abfrage von Standortdaten von Handy- und Smartphone-Nutzern.
Wir vom freiheitsfoo wurden neben anderen Gruppen und Menschen vom Landtag dazu eingeladen, eine schriftliche Stellungnahme zum Entwurf einzureichen. Von 35 Eingeladenen haben bis dato neun eine mehr oder minder fundierte Stellungnahme abgegeben. Ob es auch eine mündliche Anhörung zum Gesetzentwurf geben wird und wer dazu eingeladen wird, auf diese Frage erhielten wir keine Antwort. Vorgeschlagen zum Einreichen einer schriftlichen Stellungnahme hat uns übrigens die SPD. Diejenige SPD, die in Schleswig-Holstein derzeit die Oppositionsrolle bekleidet und sich darin nicht zu schade ist, möglichst potentielle Kritiker der VDS einzuladen, während sie auf Bundesebene – und das nicht erst in jüngster Zeit – eben trotz aller Urteile des EuGH zur Sache für ebendiese votiert und lobbyiert.
Doch egal – einige Menschen vom freiheitsfoo haben im Einverständnis mit der gesamten Gruppe eine lesenswerte Stellungnahme erarbeitet, die wir hier als Plaintext veröffentlichen und die eine klare Stellung bezieht:
Hannover, den 8. Februar 2023
Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Wiedereinführung der Verkehrsdatenerhebung in § 185a LvwG, Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 20/376
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Menschen vom freiheitsfoo bedanken sich, zum vorliegenden Gesetzentwurf Stellung nehmen zu können. Leider haben wir nur wenig Hoffnung, dass unsere Worte auf offene Ohren stoßen werden, wollen aber die Hoffnung nicht aufgeben.
Inhalt
Grundsätzliches
Überwachung: mehr immer – weniger nimmer
Alles halb so schlimm
Änderungen, die bürgerrechtlich wünschenswert gewesen wären
Zur Speicherdauer – Das 7-Tage-Phantasma
Standortdaten: unzureichend geschützt
Funkzellenabfragen: nicht unbedingt verhältnismäßig
Veröffentlicht unterBericht, Meinung/Kommentar|Kommentare deaktiviert für Schwarz-Grün Schleswig-Holstein will Vorratsdatenspeicherung neu im Polizeigesetz verankern – Stellungnahme von uns und anderen dazu
Mit rund einem Monat Abstand erscheint die mit den Silvester-2022-Krawallen aufwallende und medial befeuerte Aufregung um ebendiese mitsamt den üblichen Forderungen nach mehr „starkem Staat“, nach mehr und stärkeren „Sicherheitsbehörden“ übertrieben, ja mitunter hysterisch.
Es hat einige lang währende (und die öffentliche Meinung nachhaltig beeinflussende) Tage gedauert, bis es sich die Berichterstattung zögernd leistete, einen nüchternen Blick auf die präsentierten Zahlen und Schilderungen zu werfen.
So schrieben Wibke Becker und Oliver Georgie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntags-Zeitung am 8.1.2023 (Hervorhebungen durch uns):
„(…) Manche resignieren, wie Sohrab Taheri-Sohi sagt, Sprecher des Bayrischen Roten Kreuzes: „Viele Einsatzkräfte nehmen es mittlerweile schon als gegeben hin, dass sie beim Einsatz beleidigt oder sogar belästigt werden.“
Das ist das, was die Einsatzkräfte wahrnehmen. Daten sagen jedoch etwas anderes. Der Psychologe Mario Staller hat mit anderen Forschern Rettungskräfte im Rhein-Main-Gebiet über drei Jahre eine Art Einsatztagebuch führen lassen. Bei über 300.000 Einsätzen notierten sie knapp über zwanzig körperlich-gewalttätige Übergriffe. Jeder ist einer zu viel. Aber für eine weit verbreitete Verrohung sprechen die Daten nicht.
Nach einer Statistik des Bayrischen Roten Kreuzes, das im Freistaat 80 Prozent des gesamten Rettungsdienstes betreibt, meldeten Sanitäter im Jahr 2022 bei rund zwei Millionen Einsätzen nur 55 „Aggressionsereignisse“. Die Dunkelziffer, sagt Taheri-Sohi, liege aber sicher deutlich höher, weil viele kleine Vorfälle nicht gemeldet würden. (…) Wahrnehmung und Forschung widersprechen sich also. Das gilt auch für die Gewalt gegenüber Polizisten. Das Bundeskriminalamt gibt zwar seit einigen Jahren eine Statistik heraus, aus der hervorzugehen scheint, dass es jedes Jahr schlimmer wird. Sie hat aber zwei entscheidende Mängel:Erstens werden Polizisten auch dann als Opfer gezählt, wenn sie selbst nicht verletzt wurden, zum Beispiel, weil schon der Versuch strafbar ist. Zweitens wird die Zahl der Straftaten nicht ins Verhältnis zur Zahl der Einsätze gesetzt. Man kann daraus eigentlich nur eines sinnvoll ableiten: Polizisten geben häufiger eine Anzeige auf, weil sie Gewalt erfahren. Was aber Gewalt genau ist, das bestimmt die subjektive Wahrnehmung des Polizisten. In etwa der Hälfte dieser Fälle im Jahr 2021 leisteten Bürger Widerstand. Ein Drittel waren tätliche Angriffe auf Polizisten, das kann etwa ein Stoß sein, ein Schubs oder schon eine zum Schlag erhobene Hand. Die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen sank dagegen in den vergangenen Jahren leicht.„
„Die Polizei in der Hauptstadt berichtete von 18 verletzten Beamten. Die Intensität der Angriffe sei „mit den Vorjahren nicht zu vergleichen“ gewesen.“
Wir fragten die Polizei darauf hin, wie schwer und wie genau die Polizisten verletzt seien, woran die „Intensität der Angriffe“ im Detail bemessen wird und baten um Zahlenmaterial dazu von 2018-2022. Und erhielten folgendes zur Antwort:
Ersichtlich wird, dass die Zahl der (von der Polizei selber erfassten und gezählten!) verletzten Polizeimenschen in den zwei vorhergehenden Silvestern deutlich geringer war. Das war allerdings auch gar nicht anders zu erwarten, waren die Silvesterfeierlichkeiten aufgrund der Corona-Pandemie in diesen zwei Jahren doch streng beschränkt worden. Und die Zahl verletzter Polizist*innen der noch zwei weitere Jahre vorhergehenden Silvesternächte sehen nun nicht wirklich viel anders aus als die vom Silvester 2022. Lediglich die Zahl der „beschädigten Fahrzeuge“ ist signifikant höher als in allen vorher bezeichneten Jahren angegeben.
Doch wie bemisst/bewertet die Polizei die Frage, ob ein Fahrzeug „beschädigt“ worden ist oder nicht? Dafür gibt es unseres Wissens nach kein Regelwerk und keine Norm, die diesen Wert als verlässlichen Indikator für den Umfang von Krawallen erscheinen ließen.
Und dann noch das: Wir fragten weiter nach, wie sich denn diese Zahlen in den Jahren 2015 bis 2018 darstellten. Erst daraus ließe sich eine mögliche Tendenz ablesen, so unser Gedanke zu dieser Nachfrage. Doch diese Daten „können nicht mehr valide recherchiert werden“, so teilte uns die Polizei zur Antwort lapidar mit. Das lässt einen faden Beigeschmack zurück. Mindestens muss man dann aber attestieren, dass gar keine belastbare oder ernst zu nehmende Aussage zu Entwicklungstendenzen möglich ist.
Ach ja – und dann fragten wir ja noch, an welchen Kriterien/Vorgaben sich die Klassifizierungen und Bezeichnungen der von der Polizei aufgeführten Verletzungsarten orientieren würden. (Unsere vorhergehende Frage, wie viele der verletzten Polizisten amulant, wie viele stationär behandelt worden sind, wurde stillschweigend ignoriert.) Die Liste der Verletzungsarten „orientiere sich an den festgestellten Diagnosen“, so die Berliner Polizei uns gegenüber. Allgemeine „Schmerzen“ und „Unwohlsein“ als amtliche Diagnose?
Abschließend dann hier noch die Anmerkungen bzw. die Meinungsäußerung eines kritischen Polizisten zu dem gesamten Komplex:
„Es ist durchaus auch ohne die letzte Silvesternacht auffällig, wie in den Medien neuerdings immer mehr auch Sanitäter und Feuerwehrleute als überaus bedauernswerte und scheinbar massenhafte Opfer von Gewalt dargestellt werden.
Nun – fraglos gibt es immer wieder Angriffe und Gewalt auch gegen Rettungskräfte. Es ist allerdings auch zu registrieren, dass Bilder eben oftmals mehr sagen als tausend Worte. Und da will die hergebrachte und immer wieder aufs Neue bemühte Opfererzählung zur Polizei offenbar immer weniger zu den allgegenwärtigen Bildern von deren hoch gerüsteten und immer martialischeren Auftreten und Einschreiten passen. Vom grenzenlosen Alarmismus der Polizei, ihrem selektiven Polizieren (gern auch mit Gewaltmitteln) in sozial und / oder ethnisch segregierten Räumen / Stadtteilen und Milieus und daraus massenhaft resultierenden Erfahrungen von Betroffenen mit Racial-Profiling der Polizei gar nicht zu reden. Auch die immer neuen Vorwürfe und Verdachtslagen gegen die Polizei in Sachen Rassismus und Rechtsextremismus, die zwar gern als Einzelfälle abgewiegelt werden, aber doch einfach nicht vom Tisch zu bringen sind, machen die hergebrachte Opfererzählung nicht eben überzeugender.
Vor diesem Hintergrund müssen neuerdings offenbar vermehrt Rettungskräfte her, um politisch die immer gleichen Feindbilder bedienen und die immer gleichen Forderungen nach mehr Staat, schärferen Gesetzen und härterer Bestrafung erheben zu können. Und besonders absurd wird ein solchermaßen inszenierter Trubel, wenn er aus gegebenem Anlass ganz offensichtlich darauf abzielt, einem wohlfeilen Verbot von Silvesterfeuerwerk das Wort reden zu können – wie immer man persönlich zum Blödsinn, der Schädlichkeit und Gefährlichkeit der alljährlichen Knallerei auch stehen mag.
Im Nachgang zu den so genannten „Silvesterkrawallen“ zum letzten Jahreswechsel dürfen wir also einmal mehr der politisch/medialen Konstruktion von Niedergangsnarrativen beiwohnen. Mit den Märchenerzählungen von „Kleinen Paschas“ wird den Geschichten aus Tausend und einer Nacht mal eben eine weiteres Storytelling hinzugefügt. Diese Niedergangsnarrative konstruieren und bedienen schon immer diffuse Ängste vor Kriminalität, Drogengangs, Terrorismus oder sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum. Die Ethnisierung dieser Konfliktfelder und rassistische Zuschreibungen wirken dabei auf breiter Front als Bestätigung nicht nur für Rechtspopulisten.
Tatsächlich wäre die Antwort auf (sozialselektive) Segregation, faktisch unklare Bleibeperspektiven und (in weiten Teilen schon über das Asyl- und Ausländerrecht erzwungene) Arbeits- und Erwerbslosigkeit, mangelnde Bildungschancen und Perspektivlosigkeit vor allem ein Umdenken und mehr Engagement in der Sozial- und Bildungspolitik, bei Stadtentwicklung und sozialem Wohnungsbau. Notwendig wäre ein Gegensteuern zum Auseinanderdriften der Gesellschaft im Arm und Reich. Statt dessen schnüren die Vertreter des Volkes immer neu vergleichsweise billige Pakete zur Inneren Sicherheit mit denen mehr Polizist*innen mit mehr Befugnissen und mehr Waffen härter durchgreifen sollen. In der Praxis zeigt sich das dann als eine Form von Jagd auf junge Straftäter und Migranten, die genau die Kriminalität produziert, die dem Narrativ immer neu Nahrung verschafft. Überzogene Polizeieinsätze und Kriminalisierung der Abgehängten leisten aber keinen Beitrag zum sozialen Frieden, sie erzeugen Außenseiter, Randständigkeit und Radikalisierung.“
Veröffentlicht unterBericht, Meinung/Kommentar|Kommentare deaktiviert für Zahlen, Einordnungen und Kommentare zur Silvester-Krawall-Hysterie
Polizeiliche Videoüberwachungskamera an der Schmiedestraße in Hannover zum Weihnachtsmarkt 2022, aus zwei verschiedenen Perspektiven in Totaler und Detail.
Alle Jahre wieder … baut die Polizeidirektion Hannover mobile Videoüberwachungsanlagen in der Innenstadt auf, um für die Zeit der Weihnachtsmärkte ebendiese überwachen zu können. Rein rechtlich ist diese Unternehmung im noch recht neuen (und umstrittenen) Polizeigesetz Niedersachsens (§ 32 (3) Satz 1 Nr. 2 NPOG) als „temporäre Videoüberwachung“ geregelt.
Diese Arbeit macht sich die Polizei Hannover seit rund gut zehn Jahren, zunächst noch ohne jede dazugehörige Öffentlichkeitsarbeit. Die insgesamt recht erfolgreichen Verwaltungsgerichtsklagen gegen die polizeiliche Videoüberwachung in der niedersächsischen Landeshauptstadt haben inzwischen auch dazu geführt, dass die Polizei die weihnachtliche Überwachungsmaßnahme öffentlich macht und (etwas) beschildert.
Wir haben diese Advents-Videoüberwachung punktuell über die Jahre begleitet. In 2017 gab es gar keine Videoüberwachung, in 2019 wurden fünf Kameras aufgestellt in 2020 fielen die Weihnachtsmärkte wegen Corona ganz aus und in 2021 erteilte uns die Polizei auf unsere Presseanfrage erst gar keine Antwort.
Über die „Ausbeute“ der polizeilichen Maßnahmen zum Schutz der Weihnachtsmärkte und ihrer Besucher*innen (Polizeiwache, Polizeistreifen, Videoüberwachung) konnte man in 2019 beispielsweise lesen (Hervorhebungen durch uns):
„Der Weihnachtsmarkt in Hannover hat laut Stadt in diesem Jahr 1,85 Millionen Besucher verzeichnet – und die Zahl der Taschendiebstähle und anderen Straftaten fällt im Verhältnis dazu äußerst gering aus. Wie die Polizei am Montag auf HAZ-Anfrage mitteilte, registrierten die Beamten zwischen dem Auftakt des Marktes am 25. November und dem 20. Dezember, also vergangenem Freitag, nach ersten Zählungen nicht einmal 20 Delikte. (…) Neun Taschendiebstähle, acht weitere Straftaten: Laut Behördensprecher André Puiu gab es bis Freitagabend neun Taschendiebstähle, am 11. Dezember wurden zwei mutmaßliche Täter festgenommen. Bei den weiteren Straftaten registrierte die Polizei sogar nur acht Delikte, darunter je zwei Körperverletzungen und Sachbeschädigungen, darüber hinaus wurde etwa Holz an einem Glühweinstand entwendet. Außerdem zeigte laut Puiu ein Betrunkener den Hitlergruß, und in einem Fall hatten Unbekannte versucht, in eine Marktbude einzubrechen.“
Nicht schön, aber auch nicht besonders spektatkulär. Vor allem: Ist bei Betrachtung dieser Fallzahlen die Videoüberwachung notwendig und hilfreich, also verhältnismäßig? Neun Taschendiebstähle bei 1,85 Millionen Besuchern? o_O
In diesem Jahr spendiert die Polizei vier Kameras zu den bereits bestehenden und dauerhaft betriebenen, um die Besucher der Weihnachtsmärkte in der Innenstadt Hannovers ganztägig und -nächtig zu überwachen und die Bilder aufzuzeichnen. Unsere dazugehörige Presseanfrage wurde sogar beantwortet, doch entspann sich daraus ein ca. drei Wochen lang währender Dialog, bis wir endlich die Informationen bekommen hatten, die wir auch angefragt hatten.
Und das Ergebnis des vielen Hin und Her? Wir fassen die Informationen in Stichpunkten zusammen.
Aber vorweg: Unserer Ansicht nach entsprichen die Kameras nicht den rechtlichen Anforderungen des für „temporäre Videoüberwachung“ zuständigen § 32 (3) Satz 1 Nr. 2. In anderen Worten: Die Polizei filmt und zeichnet die Menschen der Weihnachtsmärkte rechtswidrig auf.
Ein Mitglied unserer Redaktion hat am 11.12.2022 Klage vor dem Verwaltungsgericht Hannover gegen die Weihnachtsmarkt-Videoüberwachung eingelegt (Klagetext zum Verfahren 10 A 5210/22), denn das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hatte bei einer Behandlung anderer temporärer Videoüberwachung der Polizei Hannover Regeln für die Zulässigkeit solcher Anlagen aufgestellt. Regeln, die unserer Meinung nach nicht eingehalten werden, obwohl sich das Gericht damals an einem von der Polizeidirektion selber entwickelten und vorgeschlagenen Bewertungssystem zur Verhältnismäßigkeit polizeilicher Videoüberwachung orientiert hat. Am 15.12.2022 wurde dann noch ein dazughöriger Eilantrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt (Eilantragtext 10 B 5284/22) Es bleibt abzuwarten, was aus Klage und Eilantrag wird – wir werden hier dazu auf dem Laufenden halten.
Hier nun stichpunktartig die Fakten zur Überwachung:
Es geht um vier Stück dreh-, schwenk- und zoombare Überwachungskameras, jeweils auf den Dächern am Rande der Weihnachtsmärkte aufgebaut.
Die Kameras sind vom 21.11. bis zum 22.12.2022 in Betrieb und zeichnen in diesem Zeitraum ununterbrochen Bilder auf. Zu den Löschfristen gab es seitens der Polizei unterschiedliche Angaben. Zunächst war auf der Polizei-Internetseite von einer „dauerhaften Aufzeichnung“ die Rede. Auf weitere Nachfrage hin heißt es, die Bilder würden jeweils für maximal fünf bis sieben Tage gespeichert. Zum Schluss hieß es, die Aufzeichnungen würden nach sieben Tage sukzessive gelöscht.
Zunächst hieß es, dass die Bilder der Kameras in Echtzeit „überwacht würden, um bei erkannten Konflikten ein schnelleres Einschreiten von Einsatzkräften zu ermöglichen.“ Das nennt sich „Live-Monitoring“. Auf eine Nachfrage von uns dazu hieß es zunächst: „Es findet kein dauerhaftes Monitoring durch die Beamtinnen und Beamten statt. Die Bilder werden anlassbezogen beobachtet.“ Dann übernahm die Haupt-Pressesprecherin das Zepter der Beantwortung unserer Anfragen und teilte inhaltlich anderslautend mit: „Es findet möglichst ein dauerhaftes Live-Monitoring durch die Beamtinnen und Beamten statt.“ Und dann später noch einmal anders: „Die Aufgabe eines „möglichst dauerhaften“ Live-Monitoring wird im Hauptamt wahrgenommen.“ Und dann später sogar noch einmal etwas weiter differenzierend: „Nur zu den Öffnungszeiten des Weihnachtsmarktes wird ein sog. Live-Monitoring durch Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten in den Diensträumen des Polizeikommissariates Mitte durchgeführt.„
Es wurden 18 Hinweisschilder für die temporäre Videoüberwachung aufgestellt. Unserer Ansicht nach ist das nicht ausreichend, zum Teil sind die Schilder auch nicht an der „richtigen“ Stelle plaziert. Die Schilder weisen nicht darauf hin, dass die Bilder aufgezeichnet werden. Und wann mensch die videoüberwachte Zone verlässt wird einem auch nicht mitgeteilt – zurück bleibt also das unterbewusste Gefühl andauernden Überwachtwerdens …
Um genau ermitteln können, welche und wie viel Straftaten von einer Überwachungskameras potentiell erfasst werden können müssen Detailkarten erstellt werden, aus denen unter Berücksichtigung baulicher Gegebenheiten (Gebäude, Vegetation) der „Sichtbereich“ der Kamera hervorgeht. Solche Karten hatte die Polizei bei vorhergehenden Gerichtsverfahren stets präsentiert. In diesem Fall – so ergab sich allerdings erst nach vielen vielen Nachfragen – hat sie sich diese Arbeit nicht gemacht. Das ist einer der Hauptkritikpunkte im Zuge der eingereichten Klage.
Ebenso kann die Polizei keinerlei räumlich wie zeitlich differenzierte Statistik vorweisen, aus der klar hervorgeht, dass es zu Zeiten der Weihnachtsmärkte im Bereich der Kameras deutlich mehr Straftaten gibt als sonst. Bedrückenderweise wollte uns die Polizei-Pressestelle dazu mit der Anzahl der Taschendiebstähle im gesamten Jahr und dann auch noch für die gesamte Region Hannover (Stadt Hannover plus Umland Hannover) abspeisen und meinte, unserer Nachfrage damit Genüge getan zu haben …
Position der vier temporären Polizei-Überwachungskameras zu den hannoverschen Weihnachtsmärkten 2022
Kaum bis gar keine Öffentlichkeitsarbeit dazu. Immerhin eine eigene Internetseite der Polizei: Diese Seite war innerhalb des Internetauftritts der Polizei Hannover so gut wie unauffindbar. Nach unserer Kritik daran hat die Polizei diesen Mangel inzwischen behoben. Leider fehlt auf der Seite eine Karte mit der Darstellung, wo genau die Kameras befindlich sind. Wir haben dem Mangel mit der Grafik in diesem Beitrag behoben.
Fazit
Die Polizeidirektion wartet mit zum Teil widersprüchlichen und vor allen sehr zögerlichen Antworten zu den genauen Umständen allweihnachtlicher Videoüberwachung auf. Ob die Vorgaben des Polizeigesetzes im Sinne des OVG-Urteils aus 2020 eingehalten werden und darüber hinaus eine Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und ausreichende Kennzeichnung gegeben sind, das wird das Verwaltungsgericht Hannover im Laufe der kommenden Woche vorab per Eilverfahren entscheiden.
[Update 21.12.2022]
Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag zur Abschaltung der Videoüberwachung abgelehnt (Beschluss 10 B 5284/22). Dem liegen u.a. neue und nicht bekannte bzw. nicht öffentliche Angaben der Polizei zugrunde, die dem Antragsteller bislang nicht zugekommen lassen worden sind.
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Am 13.11.2022 ließ der Chef der CDU-Fraktion im Stadtrat Hannover, Felix Semper im Zuge einer Diskussion um das „Sicherheitsgefühl“ von Frauen in der Landeshauptstadt mittels Zeitungsbericht verlauten:
Auch eine Videoüberwachung schließt er an bestimmten Plätzen nicht aus, seine Fraktion werde das jetzt im Zuge der Haushaltsberatungen ins Gespräch bringen. „Das wirkt präventiv und trägt zur Aufklärung bei.“
Herr Semper ist seit seinem 15. Lebensjahr in der CDU respektive „Jungen Union“. Er ist nun 35 Jahre alt, als Anwalt im Bau- und Immobilienrecht tätig und – so seine eigene Angaben – „Recht und Gerechtigkeit waren ihm schon immer ein besonderes Anliegen.“ Jüngst erst freute er sich über die geplante Ausweitung umstrittener Waffenverbotszonen in Hannover. [Achtung: Die Seiten der CDU Hannover und die von Herrn Semper sind mittels Tor-Browser nicht abrufbar.]
Wir haben Herrn Semper zwei Tage nach dem Bekanntwerden seines Vorstoßes zum Ausbau der Videoüberwachung in Hannover über seine gmx-Mailadresse eine Presseanfrage gestellt: Wie viele Kameras er sich an welchen Stellen vorstelle, wer diese betreiben solle, ob es Bildaufzeichnung und/oder Live-Monitoring der Bilder geben solle, was die Rechtsgrundlage für alles sei, wie teuer das alles wäre und vor allem, worauf er seine Behauptung, die Videoüberwachung würde effektiv präventiv wirken, gründe.
Wir erhielten keine Antwort, noch nicht einmal eine Rückmeldung auf ein weiteres Nachhaken dazu. Nun haben wir die CDU-Stadtratsfraktion und die CDU Hannover-Stadt darum gebeten, uns zu antworten oder uns zu einer Antwort von Herrn Semper zu verhelfen.
Neuigkeiten dazu werden wir in diesem Beitrag hier als „Update“ nachtragen.
Und vielleicht als Erinnerung: Es gab sie schon einmal, eine jahrelang illegal betriebene Videoüberwachung durch die Stadt Hannover. Damals – vor rund 15 Jahren – nutzte die Stadt den Zugriff auf die Bilder der zahlreichen Polizeikameras mit der offiziellen Begründung, somit die Funktionsfähigkeit von Ampelanlagen live überprüfen zu können. Auf Nachhaken zur Frage der Rechtsgrundlage stellte sich dann schnell heraus, dass es ebendiese gar nicht gab, daraufhin wurden die Anlagen, mittels der man die Polizeikamerabilder abgriff heimlich, still und leise außer Betrieb gesetzt.
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