Geräuschloser, aber nicht reibungsloser Zensus 2022: Über Rücklaufquoten, Zwangsgelder und Gerichtsverfahren der noch laufenden Volkszählung. Mehrere Millionen Auskunftsverweigerer, Hunderte Gerichtsverfahren gegen die Volkszählung.

So hatten es sich die Menschen der Parteipolitik und Statistikbehörden gewünscht: Nahezu ganz ohne kritische öffentliche Begleitung laufen die zum Stichtag des 15.5.2022 ausgerichteten Datenzusammenführungen und Befragungen der Menschen in Deutschland rund um den „Zensus 2022“.

Ein halbes Jahr später spricht und berichtet niemand mehr darüber. Und doch gibt es noch viel Bewegung hinter den Kulissen. Wie viele Menschen haben sich der Auskunft verweigert? Wie viele Bußgelder oder Zwangsgeldverfahren gab oder gibt es? Sind Menschen mit ihrem Widerstand gegen die Erfassung vor Gericht gezogen und wenn ja, wie viele und mit welchem Erfolg?

Wir haben dazu alle Bundes- und Landesstatistikämter mit einer Palette an Fragen angeschrieben und um Antworten gebeten. Drei Statistikämter antworteten erst auf weitere explizite Nachfrage, und das auch erst rund einem Monat nach der Presseanfrage. (Alle Anfragen und Antworten lückenlos dokumentiert in unserem Wiki.) Aus den Antworten der Behörden – soweit gegeben – wurde schnell wurde klar, dass es sich bei der Reaktion auf unsere Presseanfrage um eine vom Bundestatistikamt Wiesbaden konzertierte Aktion handelte. Eine dort im Referat B32 des („Presse, Newsroom“) ansässige Mitarbeiterin hatte ein docx-Dokument verfasst und – vermutlich – an alle Landesstatistikämter als Musterantwort-Vorgabe versendet. Darauf kamen wir, als wir uns die Metadaten der Antworten zweier Landesstatistikämter angesehen haben, die der Einfachheit halber ebendieses docx-Dokument weiter verwendet und an uns versendet haben.

Aber auch ohne diesen dezenten Hinweis war das offensichtlich, denn die meisten der Antworten aus den Ämtern waren wortgleich.

Soweit ist an alledem nicht unbedingt etwas auszusetzen. Tragisch wird das ganze erst dann, wenn die Landesstatistikämter in großer Mehrheit die Antworten vom Bundesamt auch dann ohne viel Nachzudenken übernahmen. So verweist das Statistische Bundesamt bei der Beantwortung von drei Fragen – richtigerweise – darauf, dass die Antworten zu diesen drei Fragen nur von den Landesstatistikämtern gegeben werden können, weil nur dort die Informationen dazu vorliegen. Dumm (oder dreist?) nur, wenn ebendiese Landesämter dann genau das wortgleich an uns weitergeben, anstelle sich die Mühe mit der konkreten Beantwortung der Fragen zu machen. Wir haben bei allen Statistikämtern dazu nachgefragt und erst dann individuelle Antworten erhalten.

Im Folgenden möchten wir die aus unserer Sicht wesentlichsten Informationen und Fakten aus den zähen und nicht einfach zu sortierenden Antworten der Statistikämter zusammenfassen und öffentlich machen. Dazu haben wir die Informationen in drei Kategorien unterteilt:

  1. Allgemeine Angaben zum Umfang der Beteiligung/Verweigerung der Befragungen und „Erhebungen“
  2. Übersicht über Höhe und Anzahl von Bußgeldern und Zwangsgeldern
  3. Klagen und Verfahren gegen die Volkszählung
  4. Fazit

Vielleicht an dieser Stelle noch einmal sehr grob und grundsätzlich zum Schema der Befragungen und Real-„Erhebungen“ des Zensus 2022, das dem des Zensus 2011 gleicht. Nach einer umfangreichen (faktisch „heimlichen“) und mehrfachen umfangreichen und verfassungsrechtlich umstrittenen Zusammenführung von Daten aller in Deutschland lebenden Menschen aus verschiedenen staatlichen Datenbanken werden im Zuge der Volkszählung Befragungen („Erhebungen“) in folgenden drei Bereichen durchgeführt:

  1. Personenerhebungen/Haushaltebefragungen: Dazu werden stichprobenartig bis zu rund 11 Millionen Menschen persönlich aufgesucht und zur Beantwortung zahlreicher Fragen aufgefordert. Diese kann wahlweise mündlich oder schriftlich erfolgen, ist aber auf jeden Fall verpflichtend, also nicht freiwillig. Klagen hiergegen müssen an die jeweils zuständige kommunale Erhebungsstelle gerichtet werden. Mit Bezug darauf geben die allermeisten Statistikämter keine Informationen zu Buß- und Zwangsgeldern und Gerichtsverfahren in diesem Zusammenhang heraus oder beteuern, nichts darüber zu wissen.
  2. Gebäude- und Wohnungszählung (GWZ): Alle Besitzer*innen von Wohngebäuden oder -flächen werden schriftlich dazu aufgefordert, einen Fragebogen (nach Vorgaben der Ämter am besten online!) auszufüllen. Darin geht es um Angaben zu Art und Nutzung des Gebäudes und zu deren Bewohner*innen. Auch diese Beantwortung ist Pflicht und nicht freiwillig. Klagen gegen die GWZ richten sich formell gegen die jeweilige Landesstatistikbehörde.
  3. Gemeinschaftunterkünfte, Wohnheime, „Sonderbereiche“: Diese (aus unserer Sicht besonders sensible) Gruppe von Unterkünften werden ebenfalls mittels Besuch durch Volkszähler*innen erfasst. Diese besuchen die Leitung der Heime, Gefängnisse, Kliniken, Anstalten etc. und holen sich dort die von den Statistikern verlangaten Angaben zu Unterkunft und deren Bewohner*innen. Gerichtsverfahren hierzu haben ebenfalls die Landesstatistikbehörden als Verfahrensgegner.

Nun die Zusammenfassung unserer Erkenntnisse aus den Presseanfragen an die Statistikämter. Alle Angaben beziehen sich – wenn nicht anders angegeben – auf den Stand vom 25.10.2022.

Also:

 

1Allgemeine Angaben zum Umfang der Beteiligung/Verweigerung der Befragungen und „Erhebungen“

11,1 Millionen und damit 92% der zuvor erwarteten Menschen wurden im Zuge der Haushaltebefragungen“als existent festgestellt“. Die restlichen Prozent sind e ntweder noch nicht erfolgte Rückmeldungen aus den Befragungen/Fragebogen-Erhebungen oder Menschen, die tatsächlich gar nicht (an der vermuteten Stelle wohnend) existieren/leben/wohnen. Bei dieser Haushaltebefragung gehen die Volkszähler von Tür zu Tür (der mittels Lotterie ausgewählten) Stichproben-Haushalte und befragen die Betroffenen entweder direkt oder lassen einen Fragebogen zurück, auf dem die zu erhebenden Daten eingetragen werden müssen.

GWZ: 92% der schriftlich zum Ausfüllen eines Online- oder Offline-Fragebogen aufgeforderten Wohngebäudebesitzer haben bis 25.10.2022 diesem auch nachgegeben. Das sind rund 23 Millionen Fragebögen, die bislang ausgefüllt worden sind. Anders herum ausgedrückt: Rund 2 Millionen Immobilienbesitzer haben zur Gebäude- und Wohnungszählung bislang nicht geantwortet.

Sowohl bei der Befragung von Wohnheimen als auch der „Erhebungen“ bei anderen Gemeinschaftsunterkünften wurden mehr als 100% der eigentlich zu erwartenden Menschen festgestellt (382.000 + 1.500.000 Menschen). Mit exakt 108% bzw. 105% leben dort also mehr Menschen, als im Melderegister verzeichnet. Das sind in absoluten Zahlen rund 28.000 Menschen in den Wohnheimen und 71.000 Menschen in Gemeinschaftsunterkünften.

Interessantes Detail: „In welchem Umfang bei den Auskunftspflichtigen nochmals nacherhoben werden musste, weil bspw. Merkmale nicht vollständig beantwortet wurden, kann nicht beziffert werden. Bei einer Online-Selbstauskunft sind fehlende oder fehlerhafte Angaben aufgrund der hinterlegten Plausibilitätsprüfungen nicht möglich. Bei einer schriftlichen Auskunft (Papier-Fragebogen) ist die Erhebungsstelle angewiesen bei den Auskunftspflichtigen in solchen Fällen nachzufassen.“ In anderen Worten: Wer bei dem schummelbehafteten Ausfüllen des Online-Fragebogens keinen Fehler angezeigt bekommt, braucht sich auch weiter keine Sorgen zu machen.

Rund 400.000 bundesweit zufällig ausgewählte Personen werden im Rahmen des Zensus 2022 und seiner „Wiederholungsbefragung“ zu einem „kurzen persönlichen Interview) aufgefordert bzw. damit belastet. Diese laufen seit Ende Mai 2022 und sollen bis 28.11.2022 beendet sein. Wer bis Ende dieses Monats nicht geantwortet hat, scheint drumherum gekommen zu sein.

 

2.Übersicht über Höhe und Anzahl von Bußgeldern und Zwangsgeldern

Statistikamt Baden-Württemberg: 160.000 Heranziehungsbescheide mit Zwangsgeldandrohungen.

Statistikamt Bayern: Ca. 200.000 Heranziehungsbescheide zur GWZ.

Statistikamt Berlin-Brandenburg: 63.700 Zwangsgeldverfahren in Brandenburg und 42.300 in Berlin. 47.600 Zwangsgeldverfahren in Berlin zu Haushalte- und „Sonderbereichs“-Befragungen. [Anm.d.Red.: „Einleitung von Zwangsgeldverfahren“ bedeutet: Versenden von „Heranziehungsbescheiden“ inklusive einer Zwangsgeldandrohung.]

Statistikamt Bremen: 8.000 Zwangsgeldandrohungen. Mit dem ersten Heranziehungsbescheid wird eine Verwaltungsgebühr von 33,09 Euro erhoben. Bislang keine Zwangsgelder verhängt, dessen Höhe würde in erster Stufe 300 Euro pro Objekt betragen.

Statistikamt Hessen: Unbekannte Anzahl von Zwangsgeldandrohungen verschickt. Noch keine Zwangsgeldverfahren eingeleitet. Erstes Zwangsgeld in Höhe von 300 Euro je Gebäude/Wohnung.

Statistikamt Mecklenburg-Vorpommern: 35.000 Zwangsgeldandrohungen.

Statistikamt Niedersachsen: „Für die Gebäude- und Wohnungszählung sind in Niedersachsen derzeit keine Zwangsgeldverfahren geplant.“ Bislang auch keine Bußgelder im Zuge der GWZ. Vermutlich „niedrige 5stellige Zahl“ an Zwangsgeldandrohungen im Zuge der Haushaltebefragungen und „Sonderbereichs“-Befragungen. Die Höhe der Buß- oder Zwangsgelder „iegt im Ermessensspielraum der örtlichen Erhebungsstellen“. (!)

Statistikamt Nordrhein-Westfalen: 400.000 Heranziehungsbescheide zur GWZ.

Statistikamt Nord (Hamburg und Schleswig-Holstein): 76.000 Zwangsgeldandrohungen in Schleswig-Holstein, 17.500 Zwangsgeldfestsetzungen in Hamburg. Zwangsgeldhöhe 300 Euro je Gebäude/Wohnung in erster Zwangsverfahrenstufe.

Statistikamt Rheinland-Pfalz: 102.800 Zwangsgeldandrohungen im Zuge der GWZ. Bis zum o.g. Stichtag aber noch keine Einforderung von Zwangsgeldern.

Statistikamt Saarland: Eine einzelne Zwangsgeldandrohung. Bislang keine Ordnungs- oder Bußgelder verhängt.

Statistikamt Sachsen: Nur Bußgelder, keine Zwangsgelder möglich. Bislang keinerlei Bußgelder festgesetzt.

Statistikamt Sachsen-Anhalt: 39.000 „Mahnbescheide“ im Zuge der GWZ.

Statistikamt Thüringen: Bislang keine Einleitung von Zwangsgeldverfahren.

 

3.Klagen und Verfahren gegen die Volkszählung

Statistikamt Baden-Württemberg: 0 Klagen. Aber 7 Widersprüche gegen Bescheide der Erhebungsstellen zu den Haushaltebefragungen.

Statistikamt Bayern: Das könne „zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht konkret beziffert werden“ … sagt das Amt. o_O

Statistikamt Berlin-Brandenburg: 59 Gerichtsverfahren gegen die GWZ in Berlin, 89 in Brandenburg. 42 Gerichtsverfahren gegen die Haushalte- und „Sonderbereichs“-Befragungen in Berlin.

Statistikamt Bremen: 26 Klagen gegen GWZ-Heranziehungsbescheide.

Statistikamt Hessen: 1 Eilverfahren und 2 Klageverfahren gegen die GWZ.

Statistikamt Mecklenburg-Vorpommern: 16 Klagen gegen die GWZ.

Statistikamt Niedersachsen: 10 Eilverfahren und 89 Klageverfahren gegen die GWZ.

Statistikamt Nordrhein-Westfalen: 145 Klageverfahren gegen die GWZ.

Statistikamt Nord (Hamburg und Schleswig-Holstein): 1 Eilverfahren.

Statistikamt Rheinland-Pfalz: 7 Eil- bzw. Klageverfahren gegen die GWZ.

Statistikamt Saarland: 1 Klage, die gegen alle Landesstatistikämter gerichtet ist.

Statistikamt Sachsen: 0 Klagen oder Eilverfahren.

Statistikamt Sachsen-Anhalt: 12 Klagen gegen die GWZ.

Statistikamt Thüringen: 1 Klage, die gegen alle Landesstatistikämter gerichtet ist.

 

4.Fazit

Millionen von Menschen haben sich zumindest bis Ende Oktober 2022 dem Zensus aktiv verweigert und sehen sich derzeit mehr oder weniger der Androhung eines Zwangsgeldverfahrens ausgesetzt. Befragte, die z.B. mittels Verzögerungstaktiken (Ausreizen oder Aussitzen von Fristen, Anforderung von Papierunterlagen zur Beantwortung, die dann oft per einfacher Briefpost – also rechtlich unsicher – verschickt werden, sind dabei im Vorteil.

Und rund 360 Menschen ist die Verweigerung sogar so viel Zeit, Geld und Mühe wert, die Gerichte zur Sache anzurufen und Klageverfahren einzulegen – und das alleine nur im Zusammenhang mit der GWZ! Es gibt keine Möglichkeit, Informationen über die Anzahl der Klagen gegen die Haushaltebefragungen zu erhalten … oder uns werden diese Daten bewusst vorenthalten bzw. man möchte sie gar nicht wissen …

Das ist alles andere als eine geräusch- oder widerstandslose Volkszählung. Nur, dass diese Knack- und Mahlgeräusche mangels Presse und Öffentlichkeit von ebendieser ferngehalten werden.

Beachtenswert ist, wie unterschiedlich die einzelnen Landesämter die Verweigernden behandeln bzw. mit welchem Inbrunst sie diese mittels Zwangsgeldverfahren verfolgen. Bis hin zu dem „Ermessensspielraum“ der kommunalen Erhebungsstellen bei der Festsetzung der Höhe von Buß- und Zwangsgeldern. Letzteres vermag im Einzelfall der Willkür Tür und Tor zu öffnen.

Niedersachsen, Sachsen und Thüringen scheinen (bislang) eine eher weniger repressive Zwangsverfahren-Praxis an den Tag zu legen (wobei verwirrt, dass Sachsen angeblich nur Bußgelder verhängen will, was einen „einfachen“, wenn auch nicht billigen Ausweg aus der Beantwortungszwang eröffnen würde). Hamburg erscheint daher als Hardliner, wenn wir die Antwort richtig interpretieren, dass die Volkszähler aus der Hansestadt als bundesweit bislang einzige tatsächlich auch schon Zwangsgelder erpresst verhängt zu haben scheinen. Und dann noch Bremen, das bereits als einziges Bundesland bereits bei der Zwangsgeldandrohnung mit einer „Verwaltungsgebühr“ aufwartet.

Merkwürdig ist, wie unterschiedlich hoch die Fallzahlen für die Gerichtsverfahren in den einzelnen Bundesländern ausfallen (nur bezogen auf die GWZ!). Während die Betroffenen in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen eher klagefreudig erscheinen wählen Zwangsbefragte aus Baden-Württemberg, Hessen, Hamburg, Schleswig-Holstein oder Sachsen diese juristische Variante des Widerstands diesen Weg nie oder so gut wie nie. Ach ja und dann noch Bayern, wo das Statistikamt nicht in der Lage oder willens ist anzugeben, wie oft schon Klage gegen sein Tun erhoben worden ist …

 

Hinweis auf weitere Beiträge zum „Zensus 2022“ (ehemals „Zensus 2021“):

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