Heimlich, still und leise – Die Volkszählung 2022 wirft lange, digitale schwarze Schatten voraus: Massenhafte Datenübermittlungen und weitreichende Kompetenzübertragungen am Parlament vorbei an die Bundesregierung

Die Volkszählung 2021 („Zensus 2021“) wurde um ein Jahr verschoben, angeblich wegen Corona. Das dürften einige aufmerksame Menschen noch mitbekommen haben.

Von den damit verbundenen Gesetzesänderungen, die als Teil eines großen Gesetzänderungspakets im Dezember 2020 Bundestag und Bundesrat passiert haben wissen sicherlich weniger Leute etwas.

Und was diese Gesetzesänderungen für Auswirkungen haben – darüber wurde und wird noch viel weniger berichtet. Wir möchten das hier kurz und knapp und möglicherweise immer noch nicht vollständig wenigstens nachholen und damit für etwas mehr Transparenz sorgen. Transparenz und Aufklärung, an der es Bundesregierung, die Statistischen Ämter und die Kommunen mangeln lassen.

Also:

„Online first“ als Leitmotiv

Der „Zensus 2022“ soll sich nun auf den Stichtag des 15. Mai 2022 beziehen (statt auf den 16. Mai 2021 wie zuvor geplant) und – vor allem im Vorfeld – weitestgehend geräuschlos und unbemerkt vonstatten gehen.

Auch die in 2022 beginnenden Befragungen von Einwohnern, Wohnungsbesitzern und die Erhebungen und Erfassungen der mit dem historisch belasteten Begriff bezeichneten „Sonderbereichen“ (wie z.B. Altenwohnheime, Seniorenresidenzen, Pflegeheime, Wohnheime für Menschen mit Behinderungen, Student*innenwohnheime, Krankenpflegeschüler*innenheime, Gefängnisse, Kliniken, Sanatorien, Krankenhäuser, Psychiatrische Anstalten, Obdachlosenheime, so genannte „Notunterkünfte“, Flüchtlingsheime bzw. -lager, Heime für so genannte „schwer erziehbare“ Kinder, Klöster, Kasernen) sollen nach erklärtem Willen der Statistiker möglichst digitalisiert erfolgen: „Online first“ sei das Leitmotiv der Volkszählung, so das erklärte Ziel der Verantwortlichen, die sich Ende Mai/Anfang Juni zu einem Online-Fachgespräch in breiter Runde zur Vorbereitung des Zensus zusammenfanden.

Voraussetzung für die Durchführung des Zensus sind – aus gesetzgeberischer Sicht – im wesentlichen zwei Gesetze: Das Zensusvorbereitungsgesetz (ZensVorbG2021, nun geändert in : ZensVorbG2022) und das Zensusgesetz (ZensG2021, inzwischen geändert und umbenannt in ZensG2022).

Bedeutsame Änderungen in den Zensusgesetzen

Die mit Wirkung zum 10. Dezember 2020 durchgeführten Änderungen und Neubenennungen der Gesetze haben es aber durchaus in sich. Zwar wurde – soweit erkennbar – an der Methodik der Zusammenziehung und Verarbeitung von sensiblen personenbezogenen Daten nichts geändert, und doch fallen insbesondere zwei Ergänzungen auf:

1.) Im Zensusvorbereitungsgesetz wurde im §5 ein zusätzlicher Stichtag (das war Sonntag, der 7.2.2021) hinzugefügt, zu dem ein weitreichender Meldedatenbestandsabgriff und die zentrale Zusammenführung dieser Datensätze verfügt wurde.

2.) Zudem gibt es in beiden Gesetzen je eine grundlegende Änderung. So darf entsprechend neuem §16a ZensVorbG2022 und §36a ZensG2022 die Bundesregierung nun eigenmächtig und ohne weitere Beteiligung von Bundestag oder Bundesrat zusätzliche Datenübermittlungen genehmigen/anordnen sowie deren Termin oder gar den Zensusstichtag verschieben. Es gibt keine Informationspflicht dazu gegenüber Öffentlichkeit oder Parlament, lediglich die recht schwammige Bedingung, dass das alles „soweit erforderlich ist, um eine ordnungsgemäße Durchführung des Zensus 2022 zu gewährleisten.“

Zusammengefasst: Mehr Daten der gesamten Bevölkerung für die zentrale, angeblich ja gut gesicherte „Bundes-Meldedatenbank“ der Statistiker und eine weitreichende Kompetenzübertragung vom Parlament zur Regierung. Und das bei minimaler bis gar keiner Öffentlichkeitsarbeit dazu.

Staatlicher Datenhunger

Unverändert zu den Planungen für 2021 bleibt der staatliche Datenhunger auf Höchstniveau. Etwa zehn Millionen Menschen sollen durch „Stichprobenbefragungen“ 2022 mindestens erfasst werden, ein Anteil von über 12% der Bevölkerung. 2011 hatte sich die Bundesregierung noch mit gut 9 Millionen Befragten zufrieden gegeben. Da es den Bundesländern darüberhinaus freisteht, genauere Daten zu erheben (ergo: noch mehr Menschen befragen zu lassen), könnte der Stichprobenanteil der Bevölkerung sogar noch auf 11,4 Millionen Menschen (oder 13,7%) wachsen.

Diese Menschen müssen dann den großen Fragenkatalog beantworten, mit Fragen nach Beruf, Betrieb, Schulbildung, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und anderen Daten, die dem Staat offenbar unverzichtbar sind. Immerhin verzichtet man 2022 anscheinend auf die zusätzliche Abfrage von religiösen Bekenntnissen (die durch die automatisiert übertragenen Datenlieferungen der Meldeämter aber natürlich dennoch im großen Datensee landen).

Die zusätzlichen Datenlieferungen über Meldeämter, Vermieterinnen, oberste Bundesbehörden oder die Jobcenter sorgen dafür, dass Querbezüge und Personenidentifikationen ggf. möglich werden. Das Gesetz sagt dazu:

„Die Daten sind auch zu übermitteln, sofern Einzelangaben, welche Betroffenen zugeordnet werden können, enthalten sind.“

Soweit alles beim Alten. Auch der Rückumschlag für die Gebäudeerhebungen wird wie 2011 wieder unfrankiert ankommen. „Online first“ halt. Bedenken second.

Und wofür der ganze Aufwand?

In dem amtlichen Werbevideo für den Zensus 2011 wurden damals folgende Fragen gestellt

Wie entstehen Wohnungen da, wo wir sie brauchen?
Welche Infrastruktur bringt uns weiter?
Wie viele Studienplätze brauchen wir?
Wie lenken wir unseren Verkehr?

und dadurch suggeriert, die Durchführung der Volkszählung sei notwendig, um diese Fragen zu beantworten. Ein nachträglicher Abgleich wirkt ernüchternd.

Zwar kann man den Statistikern sicher nicht vorwerfen, für Wohnungsnot, zu wenig „sozialen Wohnungsbau“, Fehlkalkulationen und Ignoranz der Bildungspolitik und den steigenden Einfluss kapitalistisch orientierter Mächte in diese oder gar für das umwelt- und klimapolitische Desaster unserer Zeit verantwortlich zu sein. Aber „gute Zahlen“ machen eben noch lange keine „gute Politik“. Und mit Blick darauf darf man den Zensus und dessen Genauigkeits- und Datenversessenheitsansprüche mit gutem Recht kritisieren und zudem die Frage in den Raum werfen, ob die dafür eingesetzten Hunderte von Millionen Euro das Ergebnis und den Aufwand wert sind oder ob es nicht auch weniger anspruchsvoll und weniger persönlichkeitsrechtsinvasiv ginge. Wer als Reaktion auf diese Kritik entschuldigend auf die Zensus-Vorgaben der EU-Richtlinie verweist verkennt den großen Einfluss, den Deutschland darauf ausgeübt hat und weiter ausüben könnte, wenn die Politikvertreter dieses Landes in Brüssel nur wollten …

Weiterführendes

Logo des Arbeitskreis Zensus (AK Zensus)

Bei Interesse an grundlegenden Fragen und Kritiken rund um die Volkszählung sei auf die zu 2011 entstandene, sehr umfangreiche Sammlung von Informationen und Materialien im Wiki des Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung verwiesen. Aus dem AK Vorrat entstand nämlich der dem vorherigen Zensus 2011 kritisch zugewandte „AK Zensus“ zensus11.de, dessen Homepage inzwischen leider nicht mehr im Original verfügbar ist. Das gilt übrigens auch für die ehemalige, privat betriebene Webseite zum Thema Volkszählungsboyott vobo11.de. Für eine sehr kompakte Sammlung an Kritik und Hinweisen ist die Volkszählungsfibel 2011 nach wie vor lesenswert.

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