Corona als Sündenbock: Volkszählung wird um ein Jahr von 2021 nach 2022 verschoben.

Screenshot aus einem offiziellen Kino-Werbespot für den „Zensus 2011“. Mit Blick auf die heutige Wirklichkeit der Wohnungsnot für viele Menschen und den krebsartig wuchernden Immobilien-Kapitalismus sehr ernüchternd …

Am 2.9.2020 wurde es nun ganz offiziell auf den Seiten des Bundes- und der Landes-Statistikämter verkündet:

  • Die Volkszählung 2021 („Zensus 2021“) wird um ein Jahr verschoben.
  • Die für November 2020 vorgesehene „Melderegister-Datenlieferung“ an die Statistikämter wird ausgesetzt, dafür hat das Bundeskabinett am 29.7.2020 schon eine Rechtsverordnung erlassen. Der umfangreiche Kopiervorgang aus den Meldeamts-Datenbanken soll entsprechend der Zensus-Stichtag-Verschiebung ebenfalls erst später nachgeholt werden, um die Aktualität der Daten zu gewährleisten.
  • Die Volkszählung ist EU-weit koordiniert, dementsprechend soll die Verschiebung der „Zählungen“ EU-weit verschoben werden. Das wird wohl derzeit auf EU-Ebene besprochen.
  • Einen Gesetzentwurf, der für die Verschiebung des Zensus in Deutschland notwendig ist, weil in den Zensus-2021-Gesetzen die Stichtage festgeschrieben worden sind, habe das Bundeskabinett am 2.9.2020 beschlossen.
  • Die offizielle Begründung für das alles lautet: „Einschränkungen durch die Corona-Pandemie, die auch die öffentliche Verwaltung betrafen.“

Indes: Was in dem offiziell benannten Gesetzentwurf drin steht, bleibt der Öffentlichkeit bislang vorenthalten. Weder die Statistikämter noch die Seiten des Deutschen Bundestags liefern den Entwurfstext mit. So muss die Öffentlichkeit zunächst das glauben und sich an das klammern, was in der o.g. Verlautbarung formuliert und bekannt gemacht worden ist. Transparenz geht anders.

Auf zwei Aspekte der Verschiebung möchten wir davon unabhängig aber noch kurz eingehen:

1. Offizielle „Timeline“ der Entscheidung und Hinterfragung der Begründung
2. Folgen der Verschiebung

Im Detail:

 

Offizielle „Timeline“ der Entscheidung und Hinterfragung der Begründung

a) Vorlauf und Entwicklung der Corona-Pandemie-Wahrnehmung in Deutschland samt der Reaktionen der Bundesregierung bis Ende März 2020

  • 8. März 2020: Empfehlung der Bundesregierung zur Absage großer Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern.
  • 13. März 2020: Verschiebung nicht dringend notwendiger Operationen in Krankenhäusern.
  • 17. März 2020: Weltweite Reisewarnung und Beschränkung nicht notwendiger Reisen in die EU.
  • 22. März 2020: Erlass umfangreicher Kontaktbeschränkungen sowie Schließung zahlreicher Geschäfte.

b) Verlautbarungen zur Verschiebung des Zensus 2021

  • Ende März 2020: Der bayrische Ministerpräsident Söder spricht sich für eine Verschiebung des Zensus 2021 um ein Jahr aus.
  • 8. April 2020: Die Statistikämter deuten eine bevorstehende Verschiebung an.
  • 2. Juli 2020: Der Deutschlandfunk berichtet über die geplante Verschiebung.
  • 29. Juli 2020: Das Bundeskabinett beschließt einen Entwurf zur Verschiebung der für den November 2020 vorgesehenen Melderegister-Daten-Zusammenführungen.
  • 2. September 2020: Das Bundeskabinett beschließt einen Gesetzentwurf zur Verschiebung des Stichtages um ein Jahr auf 2022.

Mit Erinnerung an das Lebensgefühl im letzten Drittel des März 2020 und mit etwas nüchterner Distanz erscheint uns der erste medial nachweisbare Hinweis zu einer bevorstehenden Verschiebung des Zensus 2020 durch Herrn Söder vom „Ende März“ reichlich früh, um daran zu glauben, dass ausschließlich die Pandemie diese zu begründen/verschulden habe.

Wir mutmassen also – ohne zugegebenermaßen auch nur irgendeine Form eines Beweises dafür in der Hand zu haben! – dass der Corona-Virus dankbar als in dieser Hinsicht wehrloser Sündenbock herhalten muss, um den Zensus 2021 nicht aufgrund des von Anfang an und schon 2015 absehbar auf Kante genähten Zeitplans vor die Wand zu fahren bzw. ihn erneut nicht noch einmal höchstrichterlich überprüfen zu lassen. Die Verfassungsrichter haben in der Verhandlung 2017 recht deutlich mitgeteilt, dass es kein zweites Gnadenurteil für die Volkszähler geben wird.

 

Folgen der Verschiebung

Formell verpasst man der verwaltungstechnischen Zensus2021-Maschinerie eine einjährige Verschnaufpause. Mutmaßlich wird dabei doch nur ein Teil der Verwaltungsrädchen verschnaufen denn typischerweise leiden die für die Durchführung der Volkszählungen zuständigen Stellen und Menschen in den Endphasen vor dem Stichtag an permanenter Arbeitsüberlastung, gilt es viele Details und Teilaufgaben noch zu erledigen und – vielmehr – den Stand der IT zur Durchführung und Datenverarbeitung des Zensus zu bewältigen. Das war auch beim „Zensus 2011“ nicht anders, wie z.B. an mehreren Stellen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom 24.10.2017 durchschien.

Doch auch bei einer Gesetzesänderung zum Zensusgesetz (ZensG2021) hat die Verschiebung des Stichtags unmittelbare Auswirkungen auf bereits bestehende Zensus-Datentöpfe. So heißt es in dem mittels Verfassungsbeschwerde zur Prüfung dem BVerfG vorgelegten, von der Bundesregierung hastig später hinzugefügten § 9a des Zensusvorbereitungsgesetzes (ZensVorbG2021) in dessen Absatz 6:

„Die Daten sind unverzüglich zu löschen, soweit sie nicht mehr erforderlich sind, spätestens jedoch zwei Jahre nach dem Stichtag.“

Faktisch verlängert sich also die maximal zulässige Aufbewahrungsfrist für diese verfassungsrechtlich – aus unserer Sicht – unzulässige zentrale Zusammenführung und Speicherung persönlichster Daten nahezu aller in Deutschland lebenden Menschen an nur einer Stelle bzw. in nur einer Datenbank (!) um ein Jahr. Das dürfte auch für das Verfahren in Karlsruhe von Bedeutung sein.

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