Die hannoversche Zeitung „HAZ“ lädt einen Polizeigewerkschaftler aus Anlaß zur Diskussion um die Rolle der Polizei bei den „Corona-Spaziergängen“ zum Interview ein und lässt diesen dann bei der Verbreitung von Populismen, Polizeiwünschen und einseitigen Thesen offen gewähren (HAZ-Beitrag vom 8.1.2022). Es gibt kein Nachfragen und kein Nachbohren, zumindest kein ernst zu nehmendes Hinterfragen oder Ausleuchten bei der Ausbreitung einseitiger Polizeiperspektiven durch den Polizeivertreter. So wird das „Interview“ zur kritikbefreiten Bühne, zu einer reinen PR-Maßnahme der Polizei-Interessen.
Im Folgenden ein paar Kritikpunkte an den Aussagen des Polizeigewerkschaftlers Dietmar Schilff und der Nicht-Intervention durch den HAZ-Interviewer Michael B. Berger.
In chronologischer Reihenfolge:
Schilff: „Solche Einsätze bei politisch kontrovers behandelten Themen sind wir gewohnt, wir kennen sie auch noch aus den Zeiten der Castor-Transporte, als die Atomtransporte nach Gorleben polizeilich begleitet werden mussten. Die Polizei ist dazu da, geltendes Recht durchzusetzen. Das ist unsere Aufgabe, auch wenn das dem einen oder anderen Bürger nicht gefällt.“
Herr Schilff stellt die jahrzehntelang andauernden und weitestgehend friedlichen Proteste gegen die deutsche Atompolitik (ohne jegliche Beteiligung rechter Gruppen) auf die gleiche Stufe mit den vielschichtigen, sehr unterschiedlich orientierten und in Teilen von rechten Strömungen durchsetzten Proteste im Zuge der Corona-Pandemie. Das ist nicht nur plump, sondern im Detail unzulässig und unvergleichbar. Es ist auch deswegen unfair, weil man den zum Teil pressefeindlich bis gewalttätig ausgeprägten Corona-Protesten durch den Vergleich mit den Anti-Atom-Protesten durch den Vergleich mit den Gorleben-Protesten eine positive und menschen- und lebensfreundliche Grundhaltung und Grundstimmung zuschreibt, die sie zumindest in Teilen nicht aufweisen.
Wichtiger aber:
Anders als Herr Schilff darstellt setzt die Polizei im Zuge von Versammlungen nicht (nur) – mehr oder weniger! – geltendes Recht durch. Nach Versammlungsbeginn nimmt sie in rechtlicher Hinsicht die Stellung der Versammlungsbehörde ein. Dadurch wird ihr ein weitreichender Entscheidungs- und Handlungsspielraum zuteil. Tatsächlich ist es dann die Polizei, die in vielfach gerichtlich kritisierter Weise Befugnisgewalt über bspw. Auflösung oder Duldung unangemeldeter Demonstrationen erhält und ausübt. Und die damit zugleich Hebel in der Hand hält, die über Entstehung oder Eskalation von Gewalt entscheiden können.
Schilff: „Bei diesen Auseinandersetzungen besteht allerdings auch die Gefahr, dass sich meine Kolleginnen und Kollegen mit Corona infizieren. Wie übrigens auch bei anderen Gelegenheiten. Deshalb fordern wir als GdP schon lange, dass Infektionen im Dienst als Dienstunfall anerkannt werden. Darüber gibt es Gespräche mit dem Innenministerium. (…) Ob sich Kollegen bei diesen letzten Einsätzen infiziert haben, ist mir nicht bekannt und auch schwer feststellbar. Nachgewiesen sind Infektionen mit Corona etwa bei der Ausbildung zur Selbstverteidigung. Das Amtsgericht Augsburg hat gerade ein Urteil gesprochen, nach dem eine Infektion, die etwa bei einer Ausbildung oder Fortbildung geschieht, als Dienstunfall gewertet wird. Wir haben in Niedersachsen drei Präzedenzfälle, bei denen es auch um Infektionen im normalen Dienst geht, die gerade geprüft werden.“
Zu verlangen, dass pauschal Corona-Infektionen bei Polizist*innen als „Dienstunfall“ klassifziert werden sollen ist unverschämt. Herr Schilff gibt selbst zu, dass nicht nachvollziehbar ist, wo, wann und durch was oder wen eine Infektion ausgelöst worden ist.
Sollte die Polizei mit dieser Forderung Erfolg haben, so dürfte das die Statistiken um „Gewalt an Polizist*innen“ noch weiter verfälschen, als das bislang schon der Fall ist. Das dürfte die geneigten Politiker*innen und Polizeifürsprecher*innen aber ebenso wie jetzt schon davon abhalten, derlei nur auf den ersten Blick objektiv wirkende Zahlen als Argument für allerlei autoritatives Wirken und repressive Gesetzesänderungen zu missbrauchen.
HAZ: „Sie sagten, die Polizisten stünden unter anderem auch wegen der Anti-Corona-Maßnahmen ständig in den Stiefeln. Andererseits fallen Großeinsätze am Rand von Fußballstadien aus, weil es wegen Corona derzeit keine Auseinandersetzungen mit Hooligans gibt. Schafft das nicht einen Ausgleich?“
Schilff: „Nein, das fällt kaum ins Gewicht. Corona beschert uns – und das mittlerweile schon seit zwei Jahren – etliche Zusatzbelastungen. Wir müssen sehr viel mehr Kontrollen machen als noch vor Corona. Im Nahverkehr, aber auch im Einzelhandel. Jetzt kommen auch noch die sogenannten Spaziergänge hinzu.“
Dieses ist die einzige Stelle, an der man dem Interviewer kritisches Nachfragen zugestehen mag. Doch selbst das ist nur halbherzig und scheinbar. Denn wie sonst kann man die Antwort derart unkommentiert und unhinterfragt so stehen lassen? Es waren und sind in aller Regelmäßigkeit die Polizeigewerkschaften, die immer wieder den immensen Arbeitseinsatz durch die Fußball-Großveranstaltungen beklagt haben. Und nun ist das auf einmal nicht mehr „ins Gewicht fallend“? Es sei daran erinnert, dass es innerhalb der letzten zwei Corona-Jahre ebenfalls wieder volle Fußballstadien gab. Also zeitgleich zu anderen zeitgleich laufenden Zusatzaufgaben für die Polizei aufgrund des Pandemie-Status.
Nebenbei: Dass der Interviewer von „Auseinandersetzungen mit Hooligans“ spricht und damit die einseitige Schwarz-Weiß-Malerei konservativer Medien fortführt, spricht Bände über die Grundhaltung der „HAZ“ zur Thematik des marktgetriebenen „Profifußballs“ und der vielschichtigen gesellschaftlichen Kontroversen drumherum. Es geht um weit mehr, ja um etwas ganz anders als nur „Hooligans“. Dem breitgefächerten und bunten Wirken der Ultra-Szene tut man damit jedenfalls unrecht und vertieft nur die Debatten- und Haltungsgräben.
Schilff: „Bei der Polizei ist übrigens die Bereitschaft, sich impfen und auch boostern zu lassen, sehr groß.“
Es wäre spannend zu wissen, ob es für diese leichtlippige Behauptung auch Fakten gibt, oder ob es sich hierbei nur um eine persönliche Meinung oder subjektive Wahrnehmung von Herrn Schilff handelt. Belastbare Daten zu dieser Frage liegen nicht vor und werden seitens des Interviewers auch nicht eingefordert.
Schilff: „Wir erleben seit Jahren, dass die Respektlosigkeit gegen Amtsträger, aber auch insbesondere gegen Polizeibeschäftigte sehr gewachsen ist. Das hat mit den Anti-Corona-Demonstrationen einen neuen Höhepunkt erlebt.“
Fraglos gibt es Respektlosigkeit gegenüber „Amtsträger“ und Polizist*innen. Fragwürdig und tatsachen-unbelegt ist dagegen das seit Jahren von den dafür interessierten Kreisen kolportierte Narrativ, dass diese „sehr gewachsen“ ist. Die in der Diskussion um dieses Thema herangezogenen Statistiken sind für diese Behauptung jedenfalls aus mehreren Gründen unbelastbar.
Und selbst wenn man dann der Frage nachgeht, warum es überhaupt „Respektlosigkeit“ gegenüber Polzist*innen gibt, dann müsste seitens der dafür zuständigen Polizeistellen zunächst eine selbstkritische Analyse erfolgen. Respekt und Ankerkennung wie auch Vertrauen lassen sich nicht verordnen oder per Gesetzesverschärfungen abverlangen. Sie müssen mühsam erarbeitet und erworben werden. Nicht nur eine mangelnde Fehlerkultur innerhalb der Polizeistrukturen arbeiten dem entgegen.
Schilff: „Es gab vereinzelt Todesdrohungen, etwa an den Oldenburger Polizeipräsidenten Johann Kühme. Es gibt den einen oder anderen, der das hinter sich hat. Auch Gewerkschafter. Man wird in den sozialen Netzwerken schon ziemlich schwer beleidigt. Wenn man hört, man solle auf seine Familie aufpassen oder auf seine Kinder, dann gehen solche Drohungen schon unter die Haut. Das ist ein Riesenproblem – und auch einer der Gründe, weshalb wir uns immer gegen Namensschilder auf den Uniformen gewehrt haben. Wir wissen allzu gut, dass über die Namensschilder auch ausgekundschaftet werden kann, wo einer wohnt und lebt.“
Es ist bitter und unerträglich, wie – wem und mit welcher politischen Haltung auch immer ausgestattet – Menschen solche Drohungen zuteil werden.
Auf einer anderen Ebene unerträglich ist es dann allerdings, diese menschenverachtenden Handlungen seinerseits politisch zu missbrauchen, um gegen eine Kennzeichnung von Polizist*innen zu wettern. Eine Kennzeichnung, die seitens des Europäischen Menschengerichtshofs von Deutschland gerichtlich abverlangt wird. Eine Kennzeichnung, die – so ist es inzwischen auch den sich in dieser Frage vormals seit Jahren dumm stellenden Polizeigewerkschaften erklärt worden – eben nicht namentlich erfolgt, sondern in pseudonymisierter Form. Also so, dass die Polizist*innen keine wie von Herrn Schilff skizzierte Verfolgung oder Benachteiligung befürchten müssen.
Dass Herr Schilff – wohlwissentlich – dennoch so argumentiert, ist unsachlich und unredlich. Es ist populistisch. Dass Herr Berger von der HAZ das nicht einordnen kann, ist für den Flagschiff-Reporter peinlich.
Dann noch die das „Interview“ abschließende Frage von Herrn Berger von der HAZ:
HAZ: „Die große Koalition in Hannover regiert noch gut neun Monate. Haben Sie als Chef einer der beiden Polizeigewerkschaften noch Wünsche an die Regierung?
Schilff: „Na, sicherlich. Es wird in Landtagsreden stets die Wertschätzung des öffentlichen Dienstes und der Polizei in Niedersachsen betont. Das steht aber in einem eklatanten Widerspruch zu der Alimentation der Beamten wie auch der Pensionäre, die an den Tariferhöhungen gar nicht teilnehmen können. Und die Aktiven stehen im bundesweiten Vergleich in der Besoldungshierarchie immer noch an zwölfter, 13. oder auch 14. Stelle, in Teilbereichen sogar an letzter Stelle von 16 Bundesländern. Das trägt nicht dazu bei, für den Beruf einer Polizistin oder eines Polizisten in Niedersachsen zu werben. Auch wenn wir etwa Angestellte für IT-Aufgaben als Fachkräfte gewinnen wollen, muss sich Niedersachsen diesbezüglich endlich bewegen.“
Alle Menschen sollten gerecht entlohnt werden. Polizist*innen einem Bundesländer-Ranking zu unterwerfen kann nichts anderes als ständig Verlierer produzieren. Vielleicht wäre ein Vergleich des Lohns von Polizist*innen mit anderen Berufsgruppen fairer. Wie der ausginge, dafür fehlt hier die notwendige Expertise. Angemerkt sei hier aber immerhin, dass Erzieher*innen, Pflegekräfte, Essensausfahrer*innen, Paketboten und Zeitungsausträger*innen keinen Beamtenstatus mit den entsprechenden Vorteilen erlangen können.
Zum Ende: Was fehlt.
Was gar nicht thematisiert wird: Wieso geht die Polizei Niedersachsen so sehr unterschiedlich mit Protesten in den Zeiten des Corona um? Das wäre doch das eigentlich interessante am Komplex gewesen.
Unangemeldete bzw. unangekündigte Versammlungen müssen nicht zugleich Demonstrationen sein, auf aufgelöst gehören. Wenn daraus Straftaten begangen, andere Menschen verunglimpft oder bedroht werden, dann ist das etwas anderes. Warum aber ließ die Polizei in Niedersachsen solch ausgeprägte Demonstrationen mit (zum Teil) rechter Ausprägung so lange freiem Lauf, während man vermeintlich „linken“ Protesten deutlich eher mit Polizeigewalt und Versammlungsauflösungen oder gar mit polizeilicher Nichtanerkennung von Versammlungsstatus begegnet?
Derzeit bemüht sich bspw. die Polizei Hannover, ein anderes Bild von sich und ihrem Umgang mit den Corona-Demonstrationen (i.e. „Spaziergängen“) zu zeichnen bzw. zeichnen zu lassen.
Inwieweit stellt sich das juristische Versammlungsrecht, dessen Ausprägung in Form des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes seit seiner Installation in 2011 sehr umstritten ist, überhaupt als sinnvoll und haltbar heraus?
Und wenn man schon einen Polizeivertreter zum Interview geladen hat: Wie stellt sich dieser eigentlich zur aktuellen Diskussion um die Nutzung rechter Symbole und Slogans durch einige Polizeien, wie z.B. auch durch die Polizeidiretion Hannover (Stichwort: „thinblueline“)?
Das alles auszuleuchten, zu hinterfragen und zu diskutieren wäre eine gute journalistische Arbeit gewesen und hätte diesem Interview einen Sinn geben können.