Mitte Juli 2020 (18./19.7.) kam es in Frankfurt/Main wochenends zu Ausschreitungen zwischen der Polizei und anderen Menschen. Die Diskussion um Ursachen dafür kochte hoch, gab es doch nur wenige Wochen zuvor ähnliche erscheinende Vorfälle in Stuttgart.
Wen man auch zu diesem Thema befragte – fast jede*r hatte eine andere Erzählung und Perspektive sowie Erklärmodelle im Fokus, entsprechend aufgeregt, wenig fruchtbar und zerfasert war dann auch die gesamte mediale Behandlung der Thematik.
An einem Beispiel soll hier dokumentiert werden, wie ein Akteur der Polizeigewerkschaften die Gelegenheit dazu nutzte, sich für mehr „hochauflösende Videoüberwachung“ einzusetzen, die die Stadt Stuttgart nur wenige Tage später beschloss.
Andererseits ist nach der äußerst medienwirksamen und in Teilen populistisch wirkenden Ankündigung, „bald“ rund 30 Polizeikameras zur Überwachung des öffentlichen Raumes installieren zu wollen – und das für immerhin eine Million Euro Steuergelder – nur wenig bis gar nichts passiert. Das berichtet uns der baden-württembergische Datenschutzbeauftragte auf Nachfrage. Es herrscht allgemeine rechtliche wie sachliche Unklarheit in vielerlei Hinsicht.
Im Einzelnen:
Die mediale Vorarbeit
Am Montag, den 27.7.2020 meinte der Vorsitzende einer der drei (!) Polizeigewerkschaften, Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in einem Interview des Deutschlandfunks [auszugsweise, Hervorhebungen von uns] im Zuge der oben erwähnten medialen Behandlung der Vorgänge:
(…) Ich habe überhaupt keine Probleme damit, ganz im Gegenteil, wenn wir über Videoüberwachung bei solchen relevanten Hotspots diskutieren. Das ist für uns nämlich deswegen schon allein von großer Bedeutung, weil wir so eine Vogelperspektive dann haben, um frühzeitig zu erkennen, wo sich was zusammenbraut. (…)
Ich bin der festen Überzeugung, wer hier einfache Antworten parat hat, der hat das Problem nicht richtig verstanden, und ich glaube, wir alle haben das Problem noch nicht richtig verstanden, weil es ja jetzt nicht erst seit Stuttgart und Frankfurt wirklich ein Problem ist, sondern wir nun seit vielen Jahren Angriffe auf Rettungskräfte, auf Kommunalbeamte, auf Polizeibeamte diskutieren und bemängeln, ohne dass ich tatsächlich erkenne, dass sich etwas zum Besseren wendet. Ganz im Gegenteil! (…)
Aber ich würde mal die These wagen, dass es nicht nur Alkohol ist, sondern auch illegale Substanzen, die sich in den Adern derjenigen befinden, die hier Theater machen. Aber deswegen, glaube ich, kann es nur ein ganzes Bündel von unterschiedlichen Maßnahmen sein: Videobeobachtung, Alkoholverbotszonen, Kontrollen durch die Ordnungsbehörden plus die Polizei, um nur einige Stichworte zu nennen. Aber man wird sich wohl auch in dieser Jugendszene etwas intensiver umtreiben müssen. Ich hätte da durchaus mal die Idee, dass wir das tun, was wir ohnehin im Fußball und anderen Bereichen auch schon tun. Wir brauchen solche szenekundigen Kolleginnen und Kollegen, die nichts anderes zu tun haben, als sich tatsächlich in diesen Szenen herumzutreiben, um frühzeitig zu erkennen, wo sich was zusammenbraut, und das schließt Erkenntnisse aus den sozialen Medien mit ein. (…)
Aber wenn ich jetzt sagen würde, dass ich auf dem Opernplatz wirklich nun über einen Zeitraum ständig kontrolliere [im Zuge eines denkbaren Alkoholverbots], dann findet das statt, was wir Verdrängung nennen. (…)
Und am Ende des Tages – und das haben wir noch gar nicht besprochen und das sollte durchaus auch wichtig sein – kann es nicht sein, dass 400 Randale machen und wir nur 40 ermitteln. Deswegen brauchen wir natürlich auch Videobeobachtung, um deutliche Signale nach außen zu senden: Wer Randale macht, wird anschließend auch identifiziert und wird vor den Richter geführt. Das ist ebenfalls ein wichtiges Signal. (…)
in all diesen Situationen liegt das Kernproblem darin, dass wir die Leute identifizieren müssen, und deswegen sage ich gerade, an solchen Stellen ist Videobeobachtung mit hoch auflösenden Kameras durchaus ein probates Mittel, um uns da ein Stück weit näher zum Ziel zu bringen. (…) Das ist kein Allheilmittel, aber es ist hier durchaus eine wichtige Komponente. (…)
Zusammengefasst bzw. hervorgehoben:
- Wenn auch Herr Fiedler zunächst meint, es ginge um präventive Zwecke („Vogelperspektive, um frühzeitig zu erkennen“), so lässt er doch im späteren Verlauf des Interviews klar durchblicken, dass es ihm hauptsächlich um Strafverfolgungszwecke bei der Installation „hoch auflösender Kameras“ geht („Kernproblem, die Leute identifizieren zu müssen“ und „400 machen Randale und wir nur 40 ermitteln. Deswegen brauchen wir natürlich auch Videobeobachtung“). Damit missachtet er jedoch geltendes Polizeirecht, wonach Videoüberwachung vorrangig präventive Zwecke verfolgen muss, um überhaupt zulässig sein zu können. Auch wenn Herr Fiedler (als jemand, der sich mit der polizeirechtlichen Lage auskennen müsste und auskennen wird) nicht der einzige ist, der an dieser Stelle das Recht beugt, um hauptsächlich Strafverfolgung begünstigen zu können – es ist und bleibt sachlich gesehen unrechtmäßig, Polizeikameras hauptsächlich zu Strafverfolgungszwecken einzusetzen.
- Herr Fiedler lässt die Gelegenheit der Diskussion und des Interview auch nicht aus, um die populäre bis populistische Erzählung von angeblich zunehmender Gewalt gegenüber „Rettungskräfte, Kommunalbeamte und Polizeibeamte“ zu nähren und zu manifestieren zu versuchen. Diese Behauptung wird durch stetes Wiederholen nicht wahrer und erzeugt einen gesellschaftlichen Handlungsdruck, der keine faktisch fundierte Grundlage besitzt (siehe z.B. den tagesschau.de-faktenfinder vom 24.6.2020 zur Frage der Belastbarkeit dieses polizeilich wie sicherheitsfanatisch gern genutzten Duktus). Die Zusammenbindung von „Rettungskräften und Kommunalbeamten“, oft noch ergänzt durch „Feuerwehrleute“ mit den Polizeibeamten ist dabei ein durchaus hinterhältiger Trick, um hierfür gemeingefällige Zustimmung ergattern zu können.
- Schließlich fällt auch noch die verbale Beschreibung Fiedlers von „Herumtreibern“ und „Theater-Machern“ auf, in dessen Zusammenhang Herr Fiedler „szenekundige Beamte“ fordert. Genauer zitiert fordert er „szenekundigen Kolleginnen und Kollegen, die nichts anderes zu tun haben, als sich tatsächlich in diesen Szenen herumzutreiben“. Es geht also um eine Infiltrierung der Jugendszenen mit Polizeikräften. Der Grat zwischen einem „szenekundigen Beamten“ und einem Polizeispitzel ist dabei praktisch denkbar schmal und entsprechend schwerwiegend die potentielle negativen Einflüsse/Effekte durch so eine Form von „Polizeiarbeit“.
- Fast anekdotisch bleibt dann nur noch der Fakt, dass Herr Fiedler selber den sicherlich polizeilich nicht wirklich gewünschten Verdrängungseffekt, den Polizeikameras auslösen können und der deren Sinn zunichte macht – sofern man sich nicht dem Ziel ergeben möchte, peu à peu alle Ecken des öffentlichen Raumes per Polizeikamera überwachen zu wollen. Doch im Interview lenkt er dann schnell von dem selber eingebrachten Einwand ab bzw. behandelt diesen nicht weiter.
Die populistische Umsetzung
Zwei Tage nach diesem Interview, am Mittwochabend, den 29.7.2020, beschloss der Gemeinderat der Stadt Stuttgart die Anschaffung und Inbetriebnahme von „rund 30 Überwachungskameras“:
„Als Reaktion auf die Krawalle in Stuttgart werden künftig an Wochenenden zentrale Plätze der Innenstadt mit Videokameras kontrolliert. Das hat der Gemeinderat am Mittwochabend entschieden. „Der Beschluss macht den Weg frei, auf städtischen Flächen rund 30 Kameras zu installieren“, teilte die Stadt Stuttgart mit. Geplant sei eine Beobachtung in den Nächten auf Samstag, auf Sonntag und vor Feiertagen jeweils von 20.00 bis 6.00 Uhr. Die Maßnahme soll rund eine Million Euro kosten. Wann die Kameras in Betrieb gehen, ist noch unklar. Ob die Überwachung jeweils fortgesetzt wird, soll der Gemeinderat halbjährlich neu entscheiden.“
Erstaunlich zügig, wie da eine Million Euro für eine Maßnahme besorgt und bewilligt werden kann, deren Effekt nach Ansicht von Wissenschaftlern keinen wirklichen Sinn ergibt. Man darf fragen, warum solche Hau-Ruck-Aktionen nicht auch (oder besser: statt dessen) für andere Zwecke mit besseren Erfolgsaussichten möglich sind.
Was in der Verlautbarung fehlt ist der erhoffte Effekt des Millionen-Euro-Vorhabens, man vermisst aber genau so die Benennung der Rechtsgrundlage für die Videoüberwachung oder auch die Klärung der Frage, wer denn die Videokameras betreiben soll, ob es eine Aufzeichnung von Bildern gibt (und wie lange die vorgehalten werden sollen) sowie wer bzw. welche Stelle die Überwachungsbilder erhalten, beobachten und auswerten soll.
Ach ja – und wie ist das dann mit den Kameras im Zusammenhang mit Demonstrationen? Werden die neuen Kameras dann wieder abgebaut, verhüllt oder sonstwie für jedermensch ersichtlich außer Betrieb gesetzt?
Der Stand der Dinge
Zurecht warf der Landesdatenschutzbeauftragte Baden-Württembergs wichtige Fragen auf:
„Der Landesdatenschutzbeauftragte Stefan Brink sieht die Videoüberwachung zentraler Plätze in Stuttgart kritisch. Im SWR äußerte er rechtliche Bedenken: „Ich habe da zunächst mal meine Zweifel, bin aber sehr gespannt, bis mir die Stadt Stuttgart ihr Konzept vorstellt.“ Videoüberwachung im öffentlichen Raum dürfe nur unter bestimmten Voraussetzungen durchgeführt werden: „Für die Öffentliche Hand heißt das, dass es sich um Kriminalitäts-Schwerpunkte handeln muss, die überwacht werden.“ Deshalb will der Datenschutzbeauftragte die Standorte in der Stuttgarter Innenstadt genau überprüfen lassen, „ob alle Kameras an solchen Kriminalitäts-Schwerpunkten aufgestellt sind oder doch mit der Zielrichtung installiert würden, möglicherweise zukünftige Randale zu verhindern.„“
Wir haben dazu bei seiner Behörde nachgefragt und als Antwort darauf im Wesentlichen folgendes zur Antwort bekommen:
- Ein Konzept zur geplanten Videoüberwachung im städtischen Raum Stuttgarts liegt noch nicht vor.
- Ebenso ist noch nicht mitgeteilt worden, an welchen Stellen die Videoüberwachung praktiziert werden soll.
- Es gab noch keine Gespräche der Landesdatenschutzbehörde mit der Stadt Stuttgart.
- Die Stadt Stuttgart hat auf Nachfrage des Landesdatenschutzbehörde vom 27.7.2020 geantwortet, dass sie gar nicht der richtige Ansprechpartner sei. Die behördlichen Datenschützer sollten sich stattdessen an das Polizeipräsidium Suttgart wenden. Das haben diese dann auch getan. Es soll Gespräche geben, aber es gibt noch keine Verabredung dazu.
- Rechtsgrundlage für eine polizeiliche Videoüberwachung wäre § 21 Absatz 3 des Polizeigesetzes (PolG). Bei den überwachten Bereichen muss es sich um Kriminalitätsschwerpunkte handeln, deren „Kriminalitätsbelastung“ sich deutlich von denjenigen anderer Stadtbereichen abheben muss. Dieser Umstand, der alleinig – aus rechtlicher Sicht – die angekündigte Videoüberwachung legitimieren könnte – muss sachlich nachweisbar sein.
- Derzeit wird in Stuttgart keine Videoüberwachung öffentlichen Raums (durch Polizei oder Kommune) durchgeführt. Die gab es mal, wurde aber aufgrund nicht ausreichender Kriminalitätsbelastung wieder aufgegeben.
Vorläufiges Fazit
Erneut wird die Videoüberwachung – trotz formell zum Teil widersprüchlicher Verlautbarungen – als Allheilmittel zur Bekämpfung von komplexen gesellschaftlichen Problemen/Phänomenen eingeführt. Und das, obwohl sowohl der Effekt dieser Überwachungsmaßnahme wissenschaftlich bestritten wird und zudem fraglich ist, ob die angekündigte breite Videoüberwachungsinitiative überhaupt auf rechtlich sicherem Boden durchgeführt werden darf.
Es ist weiterhin bemerkenswert, dass sich der Gemeinderat Stuttgarts meint in der Lage zu sehen beurteilen zu können, ob und wie viele Polizeikameras in Stuttgart zulässig und notwendig sein, auf Nachfragen dazu aber (zumindest zum Zeitpunkt der Abstimmung hierüber) weder Konzept noch Begründung von (noch gar nicht bekannten?) Kamerastandorten vorlegen kann. Und stattdessen den Landesdatenschützer kurzerhand an das Polizeipräsidium Stuttgart ab- bzw. verweist.
Man kann den gesamten Vorgang durchaus als polizeilich-parteipolitischen Schaubetrieb mit populistischen Zügen bewerten.
Wir werden versuchen, die Vorgänge weiter im Auge zu behalten und weiter zu hinterfragen, um hier ggf. via Update weiter darüber zu informieren.