Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein weist Polizei und Versammlungsbehörde Flensburg zurecht: Verbot von Kreidespray war rechtswidrig, Polizei darf nicht alleine aufgrund von Vermutungen die Versammlungsfreiheit beschränken

Haben nach Meinung von Polizei und Versammlungsbehörde Flensburgs auf Demos nichts zu suchen: Kreidebilder

Wer in Deutschland demonstrieren möchte, muss dieses – wenn nicht tatsächlich spontan – in aller Regel bei einer Behörde vorher ankündigen – bei der Versammlungsbehörde.

Nicht problematisch genug, dass die Versammlungsbehörde in einigen Großstädten Deutschlands gleich in den Polizeiapparat integriert ist und somit Gefahr einer fehlenden nüchtern-sachlichen Distanz zwischen Polizeiinteressen und den Bedürfnissen der Demonstrierenden läuft: Mit Beginn jeder Demonstration geht die Vollstreckungs- und Durchsetzungsgewalt in Sachen der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit häufig in die Hände der örtlichen Polizei über. Oft genug führt das dazu, dass die Polizei dann ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellt, die manchmal für die Polizeimenschen eher unbequemen Ansprüche der Durchsetzung von Versammlungs- und Meinungsfreiheit dagegen hintenan. (Siehe ein aktuelles Beispiel aus Hannover z.B. hier.)

Das ist ein schwerer rechtlicher Konstruktionsfehler der Demonstrationspraxis in Deutschland.

Nachfolgend dokumentieren wir ein weiteres Beispiel einer solchen polizeilichen Verbots- bzw. Beschränkungsentscheidung im Zusammenhang mit einer Demonstration, die einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten konnte.

Der Sachzusammenhang:

Am 12.3.2018 fand in Flensburg eine Demonstration mit dem Titel „Solidarisierung mit Afrin, gegen die Bombardierung“ statt. Nachdem zwei Demonstrierende mit Kreidespray den Schriftzug „no war“ auf den Bürgersteig vor einem Einkaufszentrum geschrieben haben intervenierte die Polizei, sprach einen vor Ort zuständigen Vertreter der Versammlungsbehörde an und forderte ihn dazu auf, die Nutzung von Kreidespray grundsätzlich für die gesamte Demonstration zu verbieten. Dieser zeigte wenig versammlungsrechtliches Rückgrat und folgte den „Empfehlungen“ der Polizei anstandslos.

So sorgte die Polizei kurzerhand dafür, dass den Demonstrierenden die Verwendung von Kreidespray zum Ausdruck ihrer Meinung verboten wurde. (Anmerkung: Die Verwendung von Kreide und Kreidespray im öffentlichen Raum ist ansonsten in der Regel zulässig und erlaubt, solange keine bleibenden „Schäden“ entstehen oder die Meinungsäußerungen nach geltenden Gesetzen strafbar sind.) Das von Polizei und Versammlungsbehörde so gemeinsam verhängte Verbot beruhte auf keinerlei tatsächlichen Grundlagen, vielmehr stand ihm die unbegründete Unterstellung der Polizei Pate, dass die Demonstrierenden doch möglicherweise Lackspraydosen versteckt haben könnten und diese später unzulässigerweise benutzen wollten. Das Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein entschied zurecht:

Das von der Polizei initiierte Kreidespray-Verbot war eindeutig rechtswidrig.

Dass der erzielte Gerichtsentscheid die von der Polizei angeordnete und durchgesetzte Grundrechtsverletzung nicht wieder gut machen kann und nur dank des beharrlichen und anstrengenden (und nicht kostenrisikofreien!) Einsatzes der Demonstranten erstritten wurde, ist an sich selber bereits ein Skandal – und leider kein Einzelfall.

Wir zitieren aus der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Schleswig-Holstein (Az. 3 A 77/18) vom 25.9.2019:

 

„Am 12.3.2018 fand in Flensburg eine von Herrn H. angemeldete öffentliche Versammlung zum Thema „Solidarisiemng mit Afrin, gegen die Bombardierung“ statt.

Kurz vor Beginn der Veranstaltung wurde die Polizei vor Ort darüber informiert, dass 2 Personen im Eingangsbereich der Galerie Flensburg Graffitis gesprüht hätten. Es wurde von der Polizei festgestellt, dass dort mit Kreidespray der Aufruf „no war“ auf den Boden aufgetragen worden war. Als Verursacher wurden Frau P und Herr L festgestellt, deren Personalien aufgenommen wurden.

Die Polizei empfahl daraufhin dem vor Ort anwesenden Vertreter der Versammlungsbehörde der Beklagten, eine Auflage zur Versammlung mündlich auszusprechen, da bei der Demonstration kaum die Möglichkeit bestehe, zwischen Kreidespray und dauerhaft wirkendem Spray zu unterscheiden.

Daraufhin wurde von dem Vertreter der Versammlungsbehörde der Beklagten gegenüber Frau P und Herrn L das Nutzen des Kreidesprays in Verbindung mit der Versammlung untersagt. Die Betroffenen waren mit der Untersagung nicht einverstanden, beachteten aber das Verbot.

(…)

In den Schutzbereich der in diesem Zusammenhang bestehen Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG gehört grundsätzlich auch die Verwendung von Kreide bzw. Sprühkreide während der Versammlung, soweit dies wie hier zum Schreiben von Parolen passend zum Thema der Versammlung verwendet werden soll. In den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit und der dadurch bewirkten Erlaubnisfreiheit des Versammlungsgeschehens fallen nämlich jedenfalls solche nicht verbotenen Veranstaltungen und Aktionen, die durch gemeinsame Kommunikation geprägt sind und auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung zielen, die also funktionale Bedeutung für die Versammlung haben. Das kann bei einer gegen Kriegshandlungen gerichteten Versammlung wie hier auch der per Kreidespray auf dem Boden zum Ausdruck gebrachte Wunsch „no war“ (oder ähnliches) sein. Anders als im Falle der Verwendung von Ölfarbe zur Herstellung sog. „Graffiti“, die das Erscheinungsbild einer fremden Sache erheblich und dauerhaft verändern, deshalb strafbar und auch im Rahmen einer Versammlung nicht akzeptabel sind, ist die Verwendung von Kreide (auch Sprühkreide) grundsätzlich nicht strafbar, da sie fremdes Eigentum jedenfalls nicht dauerhaft beeinträchtigt. Daher ist gegen die Verwendung von Kreide zur Vermittlung des Ziels einer Versammlung jedenfalls für die Dauer der Versammlung grundsätzlich nichts einzuwenden; ob für den Zeitraum nach Schluss der Versammlung eine sofortige Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands (Reinigung der mit Kreide gestalteten Flächen) verlangt werden kann, ist eine andere Frage, die vorliegend nicht entscheidungserheblich ist, und daher nicht geklärt zu werden braucht.

(…)

Hinreichende tatsächliche Gründe für die Annahme einer unmittelbaren Gefahr in dem vorgenannten Sinne (Einsatz von Ölfarben durch Versammlungsteilnehmer) zum Zeitpunkt der angeordneten Beschränkung sind für das erkennende Gericht nicht erkennbar:

– Soweit angeführt worden ist, es sei vor Versammlungsbeginn Kreidespray genutzt worden, rechtfertigte dies auch angesichts der Erklärungen der Betroffenen lediglich die Annahme, dass auch nach Versammlungsbeginn Kreidespray genutzt werden würde. Das wäre jedoch – wie ausgeführt – zulässig gewesen.

Soweit angeführt worden ist, es sei möglicherweise auch Ölfarbe mitgeführt worden (verborgen unter einem Poncho), sind keine tatsächlichen Anhaltspunkte für diese Annahme ersichtlich, so dass es sich lediglich um eine Vermutung handelt; Frau P und Herr L waren vor Beginn der Versammlung nicht durch die Benutzung unzulässiger Ölfarben in Erscheinung getreten, und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung lagen und liegen auch keine Erkenntnisse dafür vor, dass sie zuvor einmal im Rahmen ihrer Versammlungsteilnahmen Ölfarbe eingesetzt haben, bzw. wegen Sachbeschädigung in diesem Zusammenhang vorbestraft sind.

– Soweit angeführt worden ist, im Laufe der Demonstration sei schwer zu unterscheiden, ob bei der Benutzung von Sprühdosen Kreide oder Ölfarbe zum Einsatz komme, sodass die Benutzung aller Spraydosen angebracht sei, ist ein solch pragmatischer Ansatz angesichts der schwierigen und verantwortungsvollen Aufgabe der Polizei im Versammlungsgeschehen zwar nachvollziehbar, jedoch kann dieser Gesichtspunkt die Untersagung eines rechtmäßigen Verhaltens (Verwendung Kreidespray) allein im Interesse einer effektiveren Abwehr verbotenen Verhaltens (Verwendung Ölfarbe) nicht rechtfertigen. Es ist bereits im allgemeinen Polizeirecht ein zwingender Grundsatz, dass ein Verwaltungsakt nicht lediglich dem Zweck dienen darf, den Behörden die Aufsicht zu erleichtern. Erst recht ist dies vorliegend angesichts der grundrechtlichen Relevanz der Problematik (Art. 8 GG) zu beachten.

Dementsprechend lagen der damaligen Prognose der Versammlungsbehörde, es könnte zu Sachbeschädigungen durch Einsatz von Ölfarb-Spraydosen kommen, keine belastbaren Fakten, sondern nur Vermutungen zugrunde, was der hohen gesetzlichen Hürde für eine beschränkende Verfügung nach § 13 Abs. 1 Versammlungsfreiheitsgesetzt nicht genügt.“

Polizeiliche faktenbefreite Vermutungen (anders ausgedrückt: Unterstellungen!) genügen also nicht, um den Menschen ihre Versammlungsfreiheit zu beschneiden. Vielen Dank für das Erstreiten dieses Urteils!

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