Derzeit verfolgt die Große Koalition in Berlin unter Federführung der „Verteidigungs“ministerin von der Leyen und Innenminister de Maiziere die Absicht, die Militarisierung des zivilen, öffentlichen Lebens in Deutschland voranzutreiben. Seit Jahren schon wird das Ziel des Einsatzes der deutschen Armee („Bundeswehr“) im Inneren verfolgt, die Öffentlichkeit durch wiederholte Forderungen an diesen Gedanken gewöhnt.
In den Diskussionen der letzten Wochen (vielmehr: Bekanntmachungen ohne vorherige öffentliche Diskussion dazu!) wurde im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des vielfach kritisierten neuen „Weißbuchs des Bundesverteidigungsministeriums“ nun klar, dass die Bundesregierung Fakten schaffen will: Die Armee soll unter bestimmten Bedingungen mitsamt ihrer Kriegswaffen- und Überwachungstechnik in Deutschland eingesetzt werden dürfen. Dabei berufen sich die Regierenden auf einen höchst umstrittenen Plenarbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 2012. Die Grundlage hierfür sieht das hohe Gericht in den Artikeln 35 und 87a des Grundgesetzes.
Wir möchten zum Gehalt dieser Debatte beitragen, indem wir zum einen wesentliche Passagen des Beschlusses aus Karlsruhe sowie Auszüge aus kritischen Stellungnahmen des Grundrechtekomitees aus 2012 und 2016 zum anderen so konzentriert wie möglich vorstellen, zum Nachlesen anbieten sowie zur Bildung einer eigenen Meinung anregen.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG vom 17.8.2012 (Zugrundeliegender Beschluss 2 PBvU 1/11 vom 3.7.2012):
Der Einsatz der Streitkräfte als solcher wie auch der Einsatz spezifisch militärischer Kampfmittel kommt allerdings nur unter engen Voraussetzungen in Betracht. Insbesondere sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 87a Abs. 4 GG zu berücksichtigen, der vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen den Einsatz der Streitkräfte zur Bewältigung innerer Auseinandersetzungen besonders strengen Beschränkungen unterwirft. Diese Beschränkungen dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass der Einsatz statt auf der Grundlage des Art. 87a Abs. 4 GG auf der des Art. 35 Abs. 2 oder 3 GG erfolgt.
Enge Grenzen sind dem Streitkräfteeinsatz im Katastrophennotstand nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG durch das Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Unglücksfalls gesetzt. Hiervon erfasst werden nur ungewöhnliche Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes. Insbesondere stellt nicht eine Gefahrensituation, die ein Land mittels seiner Polizei nicht zu beherrschen imstande ist, allein schon aus diesem Grund einen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG dar. Die Voraussetzungen des besonders schweren Unglücksfalls gemäß Art. 35 Abs. 2 und 3 GG bestimmen sich in Abgrenzung zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Einsatz der Streitkräfte im inneren Notstand. Auf der Grundlage von Art. 35 Abs. 2 und 3 GG können Streitkräfte daher nur in Ausnahmesituationen eingesetzt werden, die nicht von der in Art. 87a Abs. 4 GG geregelten Art sind. So stellen namentlich Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen, keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 GG dar. Denn nach Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG dürfen selbst zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer Streitkräfte auch dann, wenn das betreffende Land zur Bekämpfung der Gefahr nicht bereit oder in der Lage ist, nur unter der Voraussetzung eingesetzt werden, dass Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes besteht. Schließlich muss der Unglücksfall bereits vorliegen. Dies setzt zwar nicht notwendigerweise einen bereits eingetretenen Schaden voraus. Der Unglücksverlauf muss aber bereits begonnen haben und der Eintritt eines katastrophalen Schadens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorstehen.
Der Einsatz der Streitkräfte wie der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel ist zudem auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig. Eine umfassende Gefahrenabwehr für den Luftraum mittels der Streitkräfte kann auf Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht gestützt werden.
Lesenswert ist darüber hinaus das Sondervotum von Richter Gaier, auf das auch in den Grundrechtekomitee-Stellungnahmen vom 27.8.2012 und vom 17.8.2016 u.a. Bezug genommen wird. Das Komitee schreibt (auszugsweise):
Das Bundesverfassungsgericht hat am 17.8.2012 eine Plenarentscheidung zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren vom 3.7.2012 veröffentlicht (2 PBvU 1/11). Das Urteil stellt einen schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bruch dar. Es eröffnet Möglichkeiten für bewaffnete Inlandseinsätze, die von den VerfassungsgründerInnen in Erinnerung an die unheilvolle Rolle von Militäreinsätzen in deutschen Landen eindeutig verboten wurden.
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie kritisiert seit Jahren die Entgrenzungen des Militärischen sowohl nach Außen als auch nach Innen. Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm war die Bundeswehr bereits mit Spähpanzern auf Brücken und Flugzeugen zur Luftüberwachung präsent. Immer stärker benutzt die Bundesregierung das Einfallstor der Amtshilfe nach Art. 35 GG, um die Bundeswehr im Inneren zur Geltung zu bringen. Nach der jüngsten Entscheidung kann die Armee jetzt auch mit den ihr eigenen Waffen zum Einsatz kommen. (…)
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zur Bundeswehr und deren Befugnissen schon immer eine militärfreundliche Auslegung verfolgt, wodurch die Friedensverfassung dieser Republik nach und nach ausgehebelt wurde. Im Out-of-Area-Urteil von 1994 wurde die NATO von einem Verteidigungsbündnis zu einem System kollektiver Sicherheit uminterpretiert, um über Art. 24 GG Militäreinsätze in aller Welt zu ermöglichen.
Mit dem BVerfG-Urteil von 2007 zum Tornado-Einsatz in Afghanistan wurde der Bundesregierung bereits ein weiter Spielraum in kriegspolitischen Entscheidungen zugestanden. Selbst Völkerrechtsverstöße bei Militäreinsätzen würden nicht die Beteiligung an Kriegseinsätzen in Frage stellen. Nachdem alle Dämme gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr in aller Welt gebrochen wurden, wird nun auch der Damm zum Schutz der Bevölkerung vor Bundeswehreinsätzen im Inneren gebrochen. (…)
Und weiter im aktuellen Beitrag des Grundrechtekomitees:
Bislang verbietet das Grundgesetz Bundeswehreinsätze im Inneren bis auf wenige Ausnahmeregelungen strikt. Amtshilfe-Einsätze dürften höchstens mit polizeilichen Mitteln durchgeführt werden. Vor einer Grundgesetzänderung ist man bislang zurückgeschreckt, da die dafür notwendigen Mehrheiten wohl nicht zustande kommen würden. Stattdessen beruft man sich jetzt auf einen rechtlich höchst umstrittenen Plenar-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012 (2 PbvU 1/11).
Vor der Veröffentlichung des neuen Weißbuches im Juli 2016 wurde noch kontrovers um eine mögliche Grundgesetzänderung in dieser Frage gestritten. Dann einigte sich die Koalition darauf, dass der Verfassungsgerichtsbeschluss von 2012 eine hinreichende Grundlage sei, um die Bundeswehr bei „terroristischen Großlagen“ einsetzen zu können. Das Weißbuch beruft sich ausdrücklich auf diesen Beschluss, weswegen ihm nun erhöhte Bedeutung zukommt. „Der Einsatz der Streitkräfte hat damit auch im Zusammenhang mit heutigen Bedrohungslagen zur wirksamen Bekämpfung und Beseitigung katastrophischer Schadensereignisse in den engen Grenzen einer ungewöhnlichen Ausnahmesituation nach der geltenden Verfassungslage seine Bedeutung.“ (Weißbuch, S. 110) Zugleich wird im Weißbuch auf die Notwendigkeit gemeinsamer Übungen von Bundeswehr und Polizei verwiesen.
Angesichts der konkreten Ankündigung solcher Übungen und der Aufwertung des Verfassungsgerichtsbeschlusses durch das Weißbuch fordert das Grundrechtekomitee, der schleichenden Aushöhlung des Grundgesetzes ein Ende zu setzen. Die in der deutschen Vergangenheit begründete strikte Trennung von Militär und Polizei muss aufrechterhalten bleiben. Die Argumentation, in Zeiten des Terrors seien innere und äußere Sicherheit nicht mehr zu trennen, stellt eine Scheinlegitimation für Inlandseinsätze der Bundeswehr dar. Dem gilt es entschieden zu widersprechen. Denn Bundeswehreinsätze mit militärischen Waffen sind nicht nur verfassungswidrig, sondern gefährden die Grundlagen der Demokratie.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass der genannte Verfassungsgerichtsbeschluss seinerzeit höchst umstritten war. Die öffentliche Kritik (Z.B.: „Karlsruhe fällt Katastrophen-Entscheidung“, Süddt. Ztg. 17.8.2012) entzündete sich zu Recht an dem Vorwurf, die Verfassungsrichter hätten die Verfassung nicht interpretiert, sondern verändert. Dazu sei aber nur der Gesetzgeber befugt. Nur Richter Gaier hatte ein abweichendes Sondervotum abgegeben, in dem es u.a. heißt: „Das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung schließt den Kampfeinsatz der Streitkräfte im Inneren mit militärischen Waffen (…) aus. (…) Insoweit hat der Plenarbeschluss im Ergebnis die Wirkungen einer Verfassungsänderung“.
Die Eingrenzungen im Plenarbeschluss auf „Ultima-Ratio“-Situationen, Schadensfälle „katastrophischen Ausmaßes“ u.a.m. dienen eher der Beschwichtigung der Öffentlichkeit, als dass sie eine echte Eingrenzung bewirkten. Letztlich ist auch ein Einsatz der Bundeswehr gegen Demonstrierende denkbar, wenn nur ein Schadensfall katastrophischen Ausmaßes als Folge prognostiziert wird. In Zeiten, in denen der Terrorismusverdacht u.a. durch die §§ 129a/b auf breite Gruppen ausgeweitet wird (z.B. PKK-Anhänger), können solche Prognosen nicht ausgeschlossen werden.
Die Unbestimmtheit der Definitionen im Plenarbeschluss öffnen vielmehr einer Entgrenzung für Bundeswehreinsätze Tür und Tor. Auch hierzu noch einmal Richter Gaier: „Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis – etwa bei regierungskritischen Großdemonstrationen – viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen. Das ist jedenfalls bei Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte nicht hinnehmbar. Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen.“