In einem offenen Mahnbrief an die Bundeskanzlerin Merkel und an den Bundeswirtschaftsminister Gabriel warnen wir die Bundesregierung davor, die wesentlichen Datenschutzprinzipien von Datensparsamkeit und Datenvermeidung den Wirtschaftsinteressen der deutschen Industrie zu opfern.
Genau das hatten beide auf dem „nationalen IT-Gipfel“ in der vergangenen Woche offen angekündigt.
In unserem Schreiben verweisen wir auf die enge Verknüpfung von Datensparsamkeit mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und damit auf die ersten beiden Artikel des Grundgesetzes, welches die Würde des Menschen und das Recht auf freie Entfaltung gewährleisten soll.
Der Inhalt unseres Mahnbriefs im Ganzen:
Sehr geehrte Frau Merkel,
sehr geehrter Herr Gabriel,neulich haben Sie beide auf dem so genannten „IT-Gipfel“ gesprochen. Ohne über die mangelhafte Vertretung zivilgesellschaftlicher Gruppen und engagierter Menschen auf diesem Treffen diskutieren zu wollen, möchten wir uns kurz auf Ihre Äußerungen bezüglich der Bedeutung von Datensparsamkeit und Datenvermeidung als grundlegende Prinzipien innerhalb einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft beziehen.
Sie, Frau Merkel, werden wie folgt zitiert:
„Angela Merkel hat sich auf dem 9. IT-Gipfel in die Phalanx ihrer Kabinettskollegen eingereiht, die ein „neues Verständnis“ von Datenschutz fordern. Europa dürfe sich „die Verwendung von Big Data“ nicht selbst zerstören durch einen „falschen rechtlichen Rahmen“, betonte die CDU-Politikerin am Donnerstag in Berlin. Es sei nun „existenziell notwendig“, dass der im EU-Rat von den Mitgliedsstaaten festgezurrte Entwurf zur Datenschutzreform „im Parlament nicht zu sehr verwässert wird“.
Die EU-Länder haben sich im Juni nach jahrelangen Debatten dafür ausgesprochen, traditionelle Datenschutzprinzipien etwa zur Zweckbindung und zur Datensparsamkeit aufzuweichen. Diesen Kurs unterstützt Merkel nachdrücklich. Zuvor hatte sie Daten bereits als wichtigen Rohstoff des 21. Jahrhunderts bezeichnet und unterstrichen, dass der Datenschutz „nicht die Oberhand“ gewinnen dürfe.“
Sie, Herr Gabriel, werden folgendermaßen wiedergegeben:
„Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel will den Datenschutz neu fassen. „Die Minimierung als oberstes Ziel ist das Gegenteil des Geschäftsmodells von Big Data“, warb der SPD-Politiker am Donnerstag zum Auftakt des 9. IT-Gipfels in Berlin für ein „anderes Verständnis“ dafür, die Privatsphäre in der digitalen Welt abzusichern.
„Wir müssen in Richtung Datensouveränität gehen“, erläuterte Gabriel. Es sei wichtig, einen „selbstbestimmten Umgang“ mit persönlichen Informationen zu erlernen. Derzeit fehle es auch im Entwurf für die europäische Datenschutz-Grundverordnung „an Anreizen für Anonymisierung und Pseudonymisierung“. Diese seien wichtig für „intelligente Dienste“, sodass sich die Bundesregierung hier noch in Brüssel für Korrekturen einsetzen wolle.“
Neben der rein fachlichen Anmerkung, dass Anonymisierung in Zeiten von „Big Data“ faktisch oft nicht praktiziert werden kann und Pseudonymisierung keine Garantie für den Schutz personenbezogener Daten sein kann und dass weiterhin der Wunsch zur Erziehung zum „selbstbestimmten Umgang“ in Zeiten des immer komplexer werdenden Alltags für die Menschen in unserer Gesellschaft ein Wunschtraum bleiben wird, möchten wir hauptsächlich auf folgendes hinweisen.
In den Artikeln 1 und 2 des Grundgesetzes heißt es jeweils in den Absätzen 1:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Und:
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Das Bundesverfassungsgericht hat daraus das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung abgeleitet und beschreibt das unter anderem wie folgt:
„Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen.“
Den Weg, die Sie entsprechend Ihrer Verlautbarungen vom „IT-Gipfel“ deutschland- und EU-weit einschlagen wollen, ist ein wirtschaftsfreundlicher, aber keiner, der die grundlegendsten Bedingungen für eine freie Gesellschaft in Zeiten eines zunehmend digitalisierten Alltags schätzen oder würdigen würde.
Wir fordern Sie dazu auf, Grundrechte nicht gegen Wirtschaftsinteressen auszuspielen und zu entwerten und sowohl in Deutschland als auch in der EU bei den letzten Verhandlungen zum beabsichtigten EU-Datenschutzgrundverordnung für die Beibehaltung und Stärkung des Prinzips der Datensparsamkeit einzutreten.
Gleichzeitig kündigen wir unseren, jeweils individuellen zivilen Widerstand gegen Ihre Bestrebungen an.
Viele gute Grüße von den Menschen von freiheitsfoo.