Zum Tode von Horst Herold

Horst Herold ist tot. Das wird heute gemeldet.

Herr Herold war viele Jahre eine zentrale politische Figur der öffentlichen Diskussion um Polizeiarbeit, -mittel und -methoden. Nicht zuletzt bekannt im Zusammenhang mit dem in seine BKA-Chefpositions-Zeit fallenden Deutschen Herbst.

Bei aller Kritik an seinem Wesen und Wirken bleibt, dass er – wie viele anderen Menschen auch – eine sehr vielschichtige und im Öffentlichen in dieser Hinsicht oftmals nur unzureichend gewürdigt gebliebene Persönlichkeit gewesen ist. Zumindest besaß Herr Herold eine gesellschaftstheoretische Tiefe, die mancher heute an politischer und polizeilicher Macht befindlichen Person nur sehr zu wünschen wäre. Dazu eine ausgeprägte informationstechnische Expertise. Das alles eine Kombination, die damals wie heute Seltenheitscharakter hat.

Wir rezitieren Herrn Herold zur Erinnerung aus einem seiner Aufsätze, in denen er „die Grundelemente eines computergestützten Sicherheitssystems“ (aus seiner Sicht) zu erläutern versucht hat. Der Text gibt den wesentlichen Teil des vierten von fünf Punkten aus diesem Beitrag wieder, der dem 1986 bei Luchterhand erschienen Buch „Der Traum der Vernunft – Vom Elend der Aufklärung“ entstammt. Auch sehr lesenswert und weniger schwer zu verdauen ist das Buch „Der Chef“ von Dieter Schenk, das Horst Herold mehrere Charakterseiten abgewinnen und diese beleuchten kann.

Hier nun der Ausschnitt aus Herolds Beitrag von 1986:

(…)

Denn entgegen den Behauptungen bisheriger Wissenschaft ist Kriminalität primär keine an den Verbrecher gebundene Eigenschaft. Kriminalität wird von der gängigen Anlage-Umwelt-Formel nicht allein erklärt. Ein Verhalten ist nicht „von Natur aus“ oder durch Anlage kriminell, sondern empfängt die Qualifikation als „Kriminell-sein“ erst durch die Existenz und die Verletzung einer von der Gesellschaft festgelegten Strafrechtsnorm. Erst im Rahmen einer bestehenden Strafrechtsnorm entsteht die Frage des subjektiven Disponiertseins zu ihrer Verletzung. Kriminalität ist „kein genetisch vorgegebener Aspekt, kein unveränderlicher Teil der Persönlichkeit. Kriminalität wird von der jeweiligen Gesellschaft ihrem Entwicklungszustand entsprechend in Normen definiert“, von ihr produziert, also von ihr selbst „gemacht“. Nach unserem Kulturverständnis scheinen zwar manche Verhaltensweisen wie Raub oder Totschlag als „vom Naturrecht her strafbar“ vorgegeben. Forschungsergebnisse belegen jedoch die sanktionslose Verübung solcher Tatbestände zu anderen Zeiten und Kulturen. Ohne Strafrechtsnormen gibt es keine kriminelle Tat. Werden Strafrechtsnormen aufgehoben, so verwandeln sich bisher kriminelle Akte, wie § 218 oder § 175, gleichsam über Nacht, in bloße private Episoden. Entscheidend für den Kriminalitätsbegriff ist, wie und zu welchen Zwecken die Gesellschaft ihre Normen „macht“.

Von dieser Betrachtung her erscheint das bisherige Nebeneinander verschiedener Strafzwecke, wie Sühne, Besserung, Abschreckung, in denen meist Gruppen- und Individualinteressen zum Ausdruck kommen, als Normenbasis unzureichend. Allein der Strafgrund der Sozialschädlichkeit gibt die mehrheitlich definierte, also demokratisch legitimierte Basis aller Strafrechtsnormen ab. An dieser Forderung gemessen besteht ein Defizit in unserer Ordnung. Privateigentum und Besitz genießen durch Strafvorschriften beinahe fugenlosen Festungsschutz (und niemand will dies ändern), während zumindest gleichgewichtige eigentumslose Interessenlagen, wie Ansprüche auf gerechten Lohn, auf sichere Arbeitsplätze, Schutz vor unverschuldetem Abstieg, die Ansprüche des Verbrauchers auf angemessene Preise, brauchbare Wohnungen nur ungenügend abgebildet oder außerhalb der strafrechtlichen Sanktion geblieben sind. Die Kriminalisierung von Kreditmanipulationen, Steuerflucht, preistreibenden Zwischenhandel, weltweiter Spekulation mit Devisen usw. bleibt weiterhin blockiert. Derjenige, der versucht, die in der Gesellschaft herrschenden Verteilungsgesetze zu unterlaufen, um an den erwirtschafteten Gütern stärker zu partizipieren als es seine eigene soziale Position erlaubt, findet eine massivere strafrechtliche Barriere vor als der, der diese Verteilungsgesetze von seiner höheren Position aus dirigieren und als Mittel des Zugewinnes nutzen kann.

Zwar sind die Stafrechtsnormen formal an alle Mitglieder der Gesellschaft adressiert, was diesem Aspekt den Anschein von Rechtsgleichheit sichert. Die faktische Ungleichheit, die sich dahinter oft versteckt, hat ein sarkastischer Beobachter mit dem Satz beschrieben, das Straf recht wende sich mit der gleichen gravitätischen Erhabenheit an Arme wie an Reiche, nicht unter den Brücken der Seine ihr Nachtlager aufzuschlagen, so, als ob ein Rothschild Gelegenheit zur Normverletzung hätte.

Gleichheit der Rechtsanwendung gehört zu den Grundvoraussetzungen der Strafrechtspflege. Trotz lautersten Willens der im staatlichen Sanktionsapparat Tätigen produziert die Verbrechensverfolgung jedoch Ergebnisse, die, im Widerspruch zu allen Untersuchungen, wonach Kriminalität ein Verhaltensbestandteil aller Schichten ist, eine Benachteiligung der Unterschicht ergeben. Nach den Ergebnissen der Dunkelfeldforschung ereignen sich jährlich etwa 15 Millionen Straftaten. Nur 4 Millionen werden der Polizei bekannt und in der Kriminalstatistik registriert. Hiervon werden nur 2 Millionen Straftaten aufgeklärt; nur etwa die Hälfte wird angeklagt. Knapp 300 000 Täter erhalten Freiheitsstrafen, aber nur 50- bis 60 000 ziehen tatsächlich in die Gefängnisse ein. Erfahrungsgemäß wird dieser Rest von Tätern nicht durchgängig von den Gesellschaftsschädlichsten gestellt, sondern zu einem hohen Anteil auch von denjenigen, denen es an Ausdrucksvermögen, Geschick oder materiellen Möglichkeiten mangelt, sich selbst oder mit Hilfe von Anwälten oder Sachverständigen dem Urteil zu entziehen oder von jenen, die dem Strafprozeß, seinem Ritual und der Hochsprachlichkeit des Verfahrens buchstäblich „sprachlos“ gegenüberstehen.

Das schichtenselektive Endergebnis des Prozesses zwischen Verdacht und Urteil, setzt sich in seinen Teilen gruppenselektiv zusammen. Die Konzentration auf Wiederholungstäter, Jugendliche und Ausländer, die, wenn man der Kriminalstatistik folgt, den Grundstock der Kriminalität zu bilden scheinen, gibt nicht die effektive Kriminalitätslage, sondern einen Prozeß von Teilselektionen wieder: bei Jugendlichen, weil die ausgefeilten Verfolgungstechniken eher zu ihren Lasten gehen und weit weniger zu Lasten der erwachsenen Routiniers; bei Vorbestraften, weil der einmal praktizierte und registrierte Normbruch den fortdauernden Hintergrund für die Annahme erneuten kriminellen Verhaltens liefert; bei Ausländern, weil ihr Aussehen und ihre sprachliche, kulturelle und wohnungsmäßige Ausnahmesituation mit den Ermittlungsrastern eher faßbar wird. Dennoch verlangen gesellschaftliche Gruppen unter Berufung auf die Statistik ständig nach verschärfter Repression. Die Repression verstärkt die Selektivität der ohnehin selektierten Gruppen und reproduziert dadurch die Argumentationsbasis neuer Forderungen. Die Irrtumsspirale dreht sich unablässig weiter.

Betrachten wir das Ganze noch einmal im Zusammenhang: Aus der riesigen Gesamtmasse der an sich sozialschädlichen Verhaltensweisen kriminalisiert die Gesellschaft nur einen Teilbereich; aus der Masse jener, die diese Normen brechen wird nur ein kleiner Teil erfaßt; von diesem kleinen Teil zieht nach einer Kette von Ausfilterungen nur ein minimaler Bruchteil der erfaßten Täter tatsächlich in die Gefängnisse ein. Von den insgesamt erzeugten Sozialschäden bis hin zu dem geringen Rest an Tätern, die effektiv zu haften haben, vollzieht sich ein die Postulate der Gleichheit und Gerechtigkeit unserer Ordnung von Schritt zu Schritt verkürzender count down. Damit wird nicht behauptet, daß Justiz und Polizei das Recht mißachten und Entscheidungen treffen, die mit den geltenden Gesetzen nicht vereinbar sind. Gemeint ist vielmehr, daß die in der Strafverfolgung Tätigen sich über die selektiven Endwirkungen ihres Tuns nicht im klaren sind und – persönlich im besten Glauben – ihre Entscheidungen innerhalb von Strukturen und Mechanismen treffen, die bestimmte Schichten begünstigen und andere benachteiligen.

(…)

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