Polizei-Soziologe über die fragwürdige Behauptung zunehmender Gewalt an Polizisten und die Bedrohung der offenen Gesellschaft durch das geplante Polizei-Sonderstrafrecht

Screenshot aus dem im Beitrag verlinkten WDR-Monitor-Interview mit Rafael Behr

Über das unsinnige und gesellschaftlich riskante Vorhaben der großen Koalition, ein Sonderstrafrecht für Polizisten, Soldaten, Sanitäter, Feuerwehrleute und andere „Amtsträger“ einführen zu wollen, hatten wir zuletzt erst kritisch berichtet.

Als offizielle Begründung in der Debatte hierzu muss stets die Behauptung herhalten, dass die Gewalt gegenüber Polizeibeamten zuletzt deutlich zugenommen habe. Wie ein Bericht des WDR-Politmagazins „Monitor“ vom 9.3.2017 nun zutreffend analysiert, ist diese Annahme mehr als zweifelhaft, vermutlich sogar einfach schlicht falsch.

Neben dem eigentlichen Bericht stellt der WDR einen Ausschnitt aus einem Interview mit dem an der Hamburger Polizeiakademie lehrenden „Polizei-Soziologen“ Rafael Behr zur Verfügung, das wir in diesem Zusammenhang für wichtig, hörens- und lesenswert halten.

Herr Behr erläutert nicht nur die Fragwürdigkeit der Behauptung, dass es mehr Gewalt an Polizisten und Polizistinnen gäbe, der Soziologe warnt vor allem dringend vor einer Bedrohung für unsere offene Gesellschaft durch die geplante Verschärfung des Strafgesetzbuchs in Form eines Sonderstrafrechts für Polizeibeamte:

 

Wir haben das knapp 6minütigen Interview des WDR mit Herrn Behr transkribiert und stellen diesen Text hiermit der Öffentlichkeit zur Verfügung – die Hervorhebungen im Text stammen von uns:

 

Frage: Alle Annahmen zu Gewalt gegen Polizisten basieren auf der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Wie aussagekräftig sind diese Daten?

Rafael Behr: Dazu muss man wissen, dass jede Statistik interpretationsbedürftig ist. Die nackten Zahlen alleine sagen erst einmal gar nichts, weil wir keine Referenzgröße haben. Wir wissen z.B. nicht, wie viele Kontakte die Polizei mit der Bevölkerung hat. Vor diesem Hintergrund könnte man bemessen, ob eine Gewalttäteraktion steigt oder nicht steigt. Wir zählen Gewaltstraftaten in der PKS plus Widerstände. Nun ist aber nicht jeder Widerstand auch eine Gewaltstraftat, sondern ein Widerstand richtet sich gegen eine Vollzugshandlung. Das heißt, diese Zusammenlegung ist schon mal irreführend und wir haben in der PKS eben auch nur das polizeiliche Hellfeld abgebildet, d.h es ist eine Arbeitsstatistik der Polizei, eine Ausgangsstatistik. Die Polizei tendiert dazu, Angriffe auf sie selbst sensibler und schärfer zu verfolgen und zu interpretieren als andere Delikte. Das heißt, wir haben eine Vielzahl von Verzerrungsfaktoren in der PKS, die alle bedacht werden müssen, um eine Aussagen zu treffen, ob die Gewalt tatsächlich steigt oder nicht steigt. Wenn wir nüchtern das Material betrachten, ist für Alarmstimmung und für eine Hysterie eigentlich kein Platz. [Nur, was wir beobachten ist tatsächlich, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik nicht mehr die materielle Grundlage bildet, sondern sich der Diskurs um Gewalt gegen Polizeibeamte verselbstständigt, das heißt, er ist moralisch geworden. Es ist eine gefühlte Gewalt, die interpretiert wird, die gemeint ist, und eben keine statistisch nachweisbare mehr.]

Frage: Gibt es tatsächlich immer mehr Gewalt gegen Polizisten?

Behr: Wir können durchaus sagen, im Bereich der geringeren Verletzungen gibt es höhere Zahlen und je höher der Verletzungsgrad ist, umso geringer werden die Zahlen. Das ist auch gut so, aber davon spricht im Moment niemand. Ich will überhaupt nicht kleinreden, dass Polizeibeamte vielen Belastungen ausgesetzt sind, nur im Moment wird alles unter diesem Superbegriff „Gewalt“ oder „Angriff auf“ subsumiert und es mangelt sozusagen an der Nüchternheit, diese Belastungsmomente tatsächlich zu benennen. Z.B. ist es was anderes, wenn ein Polizist sich beklagt, dass er dauernd fotografiert wird, während er seine Amtshandlungen ausführt und die Leute vielleicht sagen, wir stellen dich auf YouTube ein. Das ist ein Belastungsfaktor, eine psychische Belastung, aber das ist keine Gewalt. Das ist auch noch kein Angriff.

Frage: Wie groß ist das Vertrauen in die Polizei in Deutschland?

Behr: Die Angst hat abgenommen, die Wertschätzung ist gestiegen und zwar nicht, weil die Polizei so martialisch auftritt, sondern weil sie verhältnismäßig auftritt. Das heißt, das Vertrauen der Bevölkerung, dass wir es mit einer Polizei zu tun haben, die professionell arbeitet, die ihren Job gut macht, das ist über lange Jahre hoch und auch stetig. Wir hätten also überhaupt keinen Anlass, Polizeibeamte und Polizeibeamtinnen immer wieder als wehrlose Opfer einer überbordenen Gewalt in der Gesellschaft zu etikettieren. Wir könnten sehr wohl auf Selbstbewußtsein in der Polizei bauen.

Frage: Die Regierung will härtere Strafen für Angriffe auf Polizisten. Ist das notwendig?

Behr: Offenbar war es nicht genug, die bisherigen Gesetzestatbestände zu bedienen und zu benutzen. Für Fachleute besteht aber kein Zweifel daran, dass es eigentlich keine Regelungslücke gibt. Denn bisher wurden sowohl die Vollzugshandlungen der Polizei, wenn sie hoheitliche Dinge getan haben, z.B. jemanden festgenommen, das war geschützt, durch den §113 – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte – und die persönliche Integrität der Beamten ist geschützt wie die von Jedermann durch den §223 der Körperverletzung. Es gibt also eigentlich hier keinen Bedarf für eine Neuregelung. Was jetzt geschieht ist also quasi eine Symbolik.

Frage: Was spricht dagegen, die Autorität der Polizei mit schärferen Gesetzen zu stärken?

Behr: In einer gesellschaftlichen Situation, in der es quasi unmöglich oder unmoralisch erscheint, Polizeihandeln zu hinterfragen, verändert sich natürlich auch diese Form von checks-and-balances gegenüber dem Staat. Unsere Polizei ist deshalb so wertgeschätzt, weil sie sich der öffentlichen Kritik immer gestellt hat. Wenn das abnimmt und die Polizei sich sozusagen nicht mehr auf Kritik einlassen muss, verselbständigen sich natürlich auch Routinen und Polizeilogiken. Innere Sicherheit ist ja viel mehr als die Abwesenheit von Kriminalität und Terror. Innere Sicherheit heißt ja auch soziale Sicherheit, Gerechtigkeitsempfinden, Zutrauen zur Umwelt etc. Das alles verschmilzt im Moment mit dieser Angst vor Terrorismus und deshalb zieht sich hier die Zivilgesellschaft sukzessive auch hinter einen starken Staat zurück. Und das halte ich für eine Bedrohung von offenen Gesellschaften. Wir wissen beispielsweise von anderen Gesellschaften in Norwegen beispielsweise, dass es auch anders geht, dass man hier bewusst auf einen starken Staat verzichtet und zivilgesellschaftliche Abwehrkräfte mobilisiert indem man einfach mehr darüber nachdenkt, was macht uns als Zivilgesellschaft eben aus, was ist uns wert und teuer, was wollen wir nicht verlieren. Diese Debatte wird bei uns in Deutschland im Moment nicht so heftig geführt.

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