Bundesverfassungsgericht stärkt Versammlungsfreiheit: Bei Illegaler Freiheitsenziehung durch die Polizei muss diese dafür Geld bezahlen

26.11.2011: Demonstrierende auf dem Weg zur offen angekündigten Gleisbesetzung.

Im November 2011 gab es einen der letzten großen mehrtägigen Proteste gegen Castor-Transporte nach Gorleben. In diesem Zuge wurde vielfach und mit sehr unterschiedlichen Mitteln (allermeistens) gewaltfreier Widerstand geübt. So setzten sich beispielsweise am Nachmittag des 26.11.2011 ca. 3.000 Menschen (!) auf die Gleise der Bahn bei Harlingen, über die die Castoren transportiert werden sollten, sangen, spielten und unterhielten sich.

In der Nacht zum darauffolgenden Sonntag räumte die Polizei die Gleise. Die 1.346 Menschen, die nach Aufforderung dazu nicht selber gingen, wurden von übermüdeten Polizisten weggetragen und auf eine Wiese in einen großen von Polizeifahrzeugen gebildeten Kessel gebracht und gefangen genommen.

26.11.2011: Gleisbesetzung bei Harlingen.

Es war 5 bis 10 °C kalt, windig und am Vormittag begann es leicht zu regnen. Wind- oder Regenschutz an den Polizeifahrzeugen zu suchen wurde verboten, es sollte ein „Sicherheitsabstand von 3 Metern“ eingehalten werden. Die Polizei fertigte zudem illegalerweise Bild- und Videoaufzeichnungen von den Gefangenen an, ohne das mitzuteilen oder begründen zu können.

Obwohl viele der „in Gewahrsam genommenen“ schriftlich die Vorführung vor einen Richter zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit verlangten, schaffte es die Polizei nicht, einen Richter zu besorgen oder die Eingesperrten zum Amtsgericht hinzubringen.

27.11.2011: Illegales Fotografieren und Filmen der im Freiluftkessel Gefangenen durch die Polizei.

Einige der Gefangengenommenen durften ab ca. 13 Uhr das Freiluft-Gefängis verlassen, wenn sie denn zuvor Ihre Personalien abgaben. Andere konnten erst Stunden später am Sonntag nachmittag wieder gehen.

Viele Betroffene klagten gegen diesen Freiheitsentzug und bekamen im November 2013 vom Landgericht Lüneburg bestätigt, dass der Freiheitsentzug durch die Polizei in dieser Form unzulässig gewesen ist.

Aber sowohl das Landgericht als auch später (im September 2015) das Oberlandesgericht Celle verweigerten einer Betroffenen die Anerkennung einer Entschädigungszahlung für die illegale Gefangennahme. Begründung (u.a.):

„Die Beschwerdeführerin habe bereits Genugtuung dadurch erfahren, dass das Landgericht die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme festgestellt habe.“

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Erst das daraufhin angerufene Bundesverfassungsgericht stellt in einer nun öffenlich gewordenen Entscheidung vom Februar 2017 fest, dass das LG Lüneburg und das OLG Celle in dieser Sache unrichtig entschieden haben. So schreiben die Karlsruher Richter u.a. (Hervorhebung durch uns):

„Nach diesem Maßstab können die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben, denn die Erwägungen, aufgrund derer das Landgericht und das Oberlandesgericht einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Geldentschädigung für den erlittenen rechtswidrigen Freiheitsentzug verneint haben, werden der Bedeutung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht gerecht. (…) [Die] Anforderungen an die Verwirklichung grundrechtlichen Schutzes haben die angefochtenen Entscheidungen in verfassungsrechtlich nicht mehr tragfähiger Weise verkannt.

Und das BVerfG fügt mit Blick auf den Schutz der Versammlungsfreiheit an späterer Stelle hinzu (Hervorhebung durch uns):

Zu beanstanden ist weiter, dass weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht in der etwa zehnstündigen Festsetzung der Beschwerdeführerin die hiermit verbundene abschreckende Wirkung für zukünftige potentielle Demonstrationsteilnehmer berücksichtigt haben. Bei Fortführung der Sitzblockade seien ähnliche Unannehmlichkeiten zu erwarten gewesen. Die Entscheidungen lassen insoweit die Wirkung des staatlichen Zwangs unbeachtet, der mit der Einkesselung der Versammlungsteilnehmer einhergeht und der darauf gerichtet ist, deren freie Willensbetätigung ganz wesentlich einzuschränken. Gerade dieser Willensbeugung und dem Ausgeliefertsein der staatlichen Hoheitsgewalt kann eine abschreckende Wirkung für den künftigen Gebrauch grundrechtlich garantierter Freiheiten – namentlich der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Teilnahme an Demonstrationen – zukommen. In der Folge sind die Fachgerichte gehalten, entsprechende Erwägungen bei der Frage nach der Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen.“

Es „lohnt“ sich also, gegen unrechtmäßige Einkesselungen der Polizei gerichtlich vorzugehen und dieses Unrecht nicht einfach so unkommentiert stehen zu lassen.

Inwiefern einem „normalen“ Menschen, dem bei der Wahrnehmung seines Demo-Grundrechts so ein Unrecht widerfährt, die juristischen Möglichkeiten und das notwendige Geld sowie die notwendige Zeit für einen solchen Gerichtsmarathon zur Verfügung stehen, das ist eine ganz andere Frage. Insofern wirft das Urteilsverhalten der genannten Land- und Oberlandesgerichte aus Niedersachsen ein schlechtes Licht auf die Realität der Verteidigung von Grund- und Menschenrechten.

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