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Heimlich, still und leise: Bundesweit einzige „Section Control“-Pilotanlage wird abgeschaltet und abgebaut. Polizei vermeidet Öffentlichkeitsarbeit dazu. [Update]

Ein Bild aus besseren Zeiten der Section Control: Der damalige Nds. Innenminister Pistorius im Kreise anderer stolzer Behörden- und Unternehmensvertreter zur Inbetriebnahme der Section Control Pilotanlage im Dezember 2018 (Bildquelle: Nds. Innenministerium)

Im Juni 2015 ließ das Nds. Innenministerium südlich von Hannover eine von der Jenoptik AG gebaute Section-Control-Überwachungsanlage errichten. Diese ging dann am 19. Dezember 2018 offiziell mit der Polizeidirektion Hannover als Betreiber in Betrieb, wobei zunächst verschwiegen wurde, dass sie bereits seit 2015 – also über vier Jahre – in einem so genannten „Testbetrieb“ betrieben wurde, der schon bis dahin jedes die Strecke durchfahrene Fahrzeug mindestens zweimal fotografierte und deren Kennzeichen erfasste.

Eine gültige Rechtsgrundlage für die Anlage gab es allerdings erst ab Inkrafttreten des neuen (und ebenfalls umstrittenen) Niedersächsischen Polizeigesetzes „NPOG“ am Mai 2019. Infolge zwei anhängiger Klagen gegen Section Control musste aufgrund des Fehlens dieser Grundlage die Anlage im Frühjahr 2019 für einige Monate außer Betrieb genommen werden, was das Innenministerium zunächst nicht einsehen wollte und deswegen das Verwaltungsgericht entscheiden musste.

Während sich das Nds. Innenministerium und die Polizei Hannover bei der Inbetriebnahme in 2018 noch gerne medienwirksam in Szene setzten wurde die Anlage nun zum Jahresende 2023 klammheimlich und ohne jegliche Öffentlichkeitsarbeit dieser Stellen abgeschaltet. Die ersten Medienmeldungen gab es dazu am 22.1.2024.

Zu diesem Vorgang gibt nach ein paar Presseanfragen ein wenig mehr Detail-Informationen. Die wollen wir hier darstellen und gliedern den Beitrag folgendermaßen auf:

1. Was ist passiert?
2. Was war der Grund für die Abschaltung?
3. Warum verschwieg die Polizei Hannover die Abschaltung?
4. Ungelöste Kennzeichnungsfragen
5. Und der neue Landesdatenschutzbeauftragte?
6. Was hat die SectionControl-Pilotanlage gebracht?

Im Einzelnen:

1. Was ist passiert?

Zur Jahresmitte 2023 kündigte die Jenoptik AG, Hersteller und eigentlicher Besitzer der Section-Control-Verkehrsüberwachungsanlage den Vertrag zum Betrieb der Anlage mit Wirkung zum 31.12.2023 auf.

Jenoptik kündigte der Polizeidirektion an, die Anlage zum 1.1.2024 außer Betrieb zu nehmen und anschließend abzubauen.

Weder Polizei, noch Innenministerium noch Jenoptik machten diesen Vorgang öffentlich.

2. Was war der Grund für die Abschaltung?

Seit 2017 gibt es Vorgaben des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) für die Ausgestaltung hinreichend sicher verschlüsselter Kommunikation. In der BSI-Richtlinie TR-02102-1 geht es inbesondere um Schlüssellängen im Zusammenhang mit kryptographischen Verfahren wie z.B. Rivest–Shamir–Adleman (RSA), Diffie-Hellman (DH) oder Discrete Logarithm Integrated Encryption Scheme (DLIES).

Für diese Verfahren hat das BSI sukzessive Schlüssellänge von mindestens 2000 Bit bzw. aktuell 3000 Bit zunächst empfohlen und schließlich in der aktuellsten Version der Richtlinie vom 9.1.2023 ab spätestens 2024 derart verpflichtend vorgeschrieben.

Diese Vorgaben kann die von Jenoptik in 2015 errichtete Anlage nicht einhalten. Das bedeutet, dass die Übertragung der von der Anlage vor Ort erzeugten Daten an die Polizeidirektion Hannover zwar verschlüsselt wird, die Stärke der Verschlüsselung dieser Daten aber nicht mehr aktuellen Anforderungen entspricht und als ggf. kompromittierbar gilt.

Jenoptik hat sich aus nicht bekannt gegebenen Gründen dagegen entschieden, die Verschlüsselungstechnik der Datenübertragung zu aktualisieren und aus diesem Grunde die Pilotanlage bei Hannover aufgegeben.

Dem zuwider wirbt die Jenoptik AG in ihrem Internetauftritt aktuell immer noch für diese Section Control Anlage des Typs „TraffiSection S450“ und dass diese in Deutschland „offiziell zugelassen“ sei. Und ach ja: „Datenschutzkonform“ sei sie auch, es werde die „neueste kryptologische Technologie“ verwendet …

Nebenbei: Jenoptik wirbt außerdem damit, dass die Section Control Anlagen auch zur Kennzeichenerfassung also zum Abgleich mit gesuchten Fahrzeugkennzeichen geeignet seien … o_O

3. Warum verschwieg die Polizei Hannover die Abschaltung?

Die Nicht-Informierung der Öffentlichkeit durch die Polizei Hannover erfolgte eigenen Angaben zufolge „in Absprache mit der Fa. Jenoptik“. Eine weitere Begründung liefert die Behörde nicht.

Wir können daher nur mutmassen, dass es der Polizei oder dem Innenministerium kein Anliegen war, die Öffentlichkeit aufzuklären, weil es nicht gerade wie eine Erfolgsmeldung wirkt, wenn die Anlage nun mangels Datenschutzkonformität außer Betrieb gesetzt werden musste.

Zudem hat das ganze Vorhaben dem NDR zufolge „den Steuerzahlern“ rund eine Million Euro gekostet. Wie viel genau, darüber wollte Polizeidirektion Hannover auf Nachfrage hin keine Kenntnis haben.

4. Ungelöste Kennzeichnungsfragen

Die Beschilderung, die auf die – nun gar nicht mehr stattfindende – Überwachung aller die Strecke befahrenden Fahrzeuge hinweist, ist noch immer nicht demontiert worden.

Ausschließlich Jenoptik sei nun verantwortlich für die Anlage – so weist die Polizei Hannover nun jegliche Zuständigkeit für die teure Technik von sich. Und zum Abbau der unrichtigen Beschilderung „laufen derzeit Gespräche mit allen beteiligten Behörden und der Fa. Jenoptik.“

Eine Überbeschilderung von nur angeblich, aber tatsächlich gar nicht behördlich überwachten öffentlichen Räumen schert die Polizei nicht. Das ist nicht neu.

5. Und der neue Landesdatenschutzbeauftragte?

Ein früher Appell vom Mai 2015 von freiheitsfoo und Patrick Breyer an die damals und bis vor kurzem noch amtierende Niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte Frau Thiel, sich aus guten Gründen gegen Section Control zu positionieren verhallte ergebnislos.

Auch im späteren Verfahren beschränkten sich die Landesdatenschützer*innen auf die Betrachtung und Bewertung rein technischer Aspekte und beklagten sich nur so lange über die umfassende Section Control Verkehrsüberwachung, wie es noch keine im Polizeigesetz fundamentierte Rechtsgrundlage dazu gab. Über grundsätzliche Gefahren der Datensicherheit und -verwendung und breitere gesellschaftliche Auswirkungen bis hin zur denkbaren Variante, die Anlage zusätzlich zum KFZ-Kennzeichenscanning einzusetzen wollte und will man sich dort in der Behörde – zumindest der Öffentlichkeit gegenüber – keine kritische Gedanken machen.

Nun hat das Land Niedersachsen in einem merkwürdigen Verfahren seit kurzem mit dem CDU-Mitglied Herrn Lehmkemper einen neuen Landesdatenschutzbeauftragten, der sich kurz nach Öffentlichwerden der unerwarteten Abschaltung des Section Control Pilots mit einer ebenso merkwürdigen Pressemitteilung zur Sache zu Wort meldete.

Darin unterstellt Herr Lehmkemper – ohne eine Grundlage für seine Vermutungen zu benennen – dass es eher wirtschaftliche Gründe gewesen seien, das Kryptoverfahren nicht auf den neuesten und vorgeschriebenen Stand zu bringen. Er lässt sich in der Pressemitteilung wie folgt zitieren:

„Wir sind sehr verwundert darüber, dass in einigen Berichten der Datenschutz als Hauptursache für das Aus der Anlage genannt wurde. Bei der Entscheidung des Herstellers waren – neben wohl auch wirtschaftlichen Gründen – Richtlinien zur IT-Sicherheit ausschlaggebend. Diese sollen das manipulationssichere Übertragen der Daten gewährleisten.“

Tja, aber dann waren es wohl eben doch „Datenschutzgründe“, die das Aus der Pilotanlage besiegelt haben, oder?

In der Pressemitteilung heißt es weiter:

„Bei „Section Control“ gewährleisten kryptographische Signaturen beim späteren Verwenden der damit signierten Daten, dass diese tatsächlich von der Radarstation stammen und elektronisch nicht nachträglich manipuliert worden sind. Es geht also um die Integrität und Authentizität der übertragenen Informationen, was beispielsweise bei der Verwendung als Beweismittel in Ordnungswidrigkeitsverfahren wichtig ist. (…) Der Berichterstattung zufolge hätte der Hersteller der Anlage das System nachbessern müssen und hatte sich dagegen entschieden. „Bei allem Verständnis für unternehmerische Entscheidungen hätten auch wir uns gewünscht, dass die Verkehrs- wie auch die IT-Sicherheit Vorrang hat“, so Lehmkemper.“

Es ist bedrückend, dass sich Herr Lehmkemper in seiner Funktion als Landesdatenschützer nun als Verkehrssicherheitspolitiker meint kompetent engagieren zu können und zu müssen.

Nebenbei, aber ansonsten hierfür unwichtig: Es gibt gar keine „Radarstation“. Gemessen wird die Durchschnittsgeschwindigkeit nicht mittels Radartechnik sondern per Bild-/Videoerfassung und -überwachung.

Zu der Frage der Verhältnismäßigkeit in Sachen Grundrechtseingriff versus Verkehrssicherheit versus Kosten der Anlage gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. In dem o.g. NDR-Bericht wird beispielsweise eine Sprecherin der Autolobby vom ADAC Niedersachsen/Sachsen-Anhalt zitiert, der ADAC habe gar kein Problem mit der Abschaltung. Punktuelle Geschwindigkeitsmessungen hätten den gleichen Effekt. Es sei zudem abzuwägen, ob die großen Kosten für Aufstellung und Inbetriebnahme einer solchen Anlage überhaupt lohnen würden.

6. Was hat die SectionControl-Pilotanlage gebracht?

Zunächst – aus der Sicht der Befürworter*innen – den Erfolg des Durchbruchs derart, dass solche Anlagen zukünftig mit verwaltungsgerichtsfester Rechtsgrundlage in Deutschland einsetzbar sein werden. Die Gerichte haben sich den grundsätzlichen IT-Sicherheits-Bedenken und den Sorgen um weitere Ausweitung der Anlagen und Anlagen-Einsatzzwecke gegenüber verschlossen gezeigt. Die zuerst behandelte Klage scheiterte – medial weitgehend unbeachtet – in letzter Instanz vor dem Bundesverfassungsgericht, das dazu aber keinerlei Begründung liefern wollte. Der zweiten Klage – durch ein Mitglied vom freiheitsfoo betrieben – wurde die Geltendmachung weiterer Bedenken dadurch verunmöglicht.

Auch der vor Gericht vorgebrachte Punkt, dass den Autofahrer*innen mangels rechtzeitiger Beschilderung die Chance zum Ausweichen der Vollüberwachung genommen werde, wollten die Verwaltungsgerichte nicht zur Behandlung annehmen – gilt aber doch die Ermöglichung zum Ausweichen vor einer Videoüberwachung dank einer notwendigen und räumlich rechtzeitig erfolgten Kennzeichnung als ein einst ehernes Grundprinzip zur Wahrung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung.

Neben Niedersachsen haben inzwischen auch Hessen und Sachsen-Anhalt eine eigens an der Section Control ausgerichteten Gesetzesgrundlage für dessen Einsatz geschaffen. Brandenburg erarbeitet gerade eine solche.

Im Dezember 2020, rund zwei Jahre nach Erstinbetriebnahme der Section Control Pilotanlage, warb der damalige niedersächsische Innenminister Pistorius öffentlich dafür, weitere solche Anlagen in Niedersachsen und bundesweit aufzubauen: „Dank geringerer Durchschnittsgeschwindigkeit sinke nachweislich das Unfallaufkommen.“

Derlei Behauptungen wurden immer wieder aufgestellt und wiederholt, doch geben die mittels der Pilotanlagen gewonnen Erfahrungen das gar nicht her. Die Polizeidirektion Hannover hat uns in einer meist zügigen Beantwortung einer Reihe von Fragen und Nachfragen Daten zum Unfallaufkommen auf der Section Control Pilotanlagen-Teststrecke geliefert. Die Informationen liefern einen Überblick über die Anzahl der Verkehrsunfälle. (Die weitere Aufschlüsselung, wie viele Schwerverletzte und Tote es dabei gab konnte uns die Polizei für die angefragten Jahre bislang in keiner vergleichbarer Weise liefern, falls das noch geschieht liefern wir das hier in einem Update nach.)

[Wichtiger Hinweis zur Grafik: Bitte das Update am Ende des Beitrags beachten! Die hier dargestellte Grafik bedarf einer Korrektur, weil uns die Polizei zunächst nicht die „richtigen“ Verkehrsunfallzahlen mitgeteilt hat.]

Grundsätzlich sind die Fallzahlen insgesamt viel zu niedrig, um überhaupt eine wissenschaftlich basierte Aussage über statistisch signifikante Effekte der Anlage treffen zu können. Doch selbst wenn man diesen Grundmangel übergeht kann man anhand der Entwicklung der Unfallzahlen definitiv keine Aussage ableiten, die die Behauptung von Herrn Pistorius stützen würde, wonach „das Unfallaufkommen dank Section Control sinken“ würde.

Dem versucht die Polizeidirektion Hannover bei der Lieferung der Zahlen an uns zu widersprechen zu versuchen, indem sie uns unaufgefordert mitteilt:

„Bei den Verkehrsunfällen ab dem Jahr 2019 ist zum überwiegenden Teil Wildwechsel die Unfallursache. Die Unfallursache Geschwindigkeit wurde beispielsweise im Jahr 2023 nicht einmal erfasst.“

Es klingt wenig plausibel und nachvollziehbar, dass Wildwechsel auf der betreffenden Strecke plötzlich und anders als in allen Jahren zuvor ab 2019 Hauptursache für Verkehrsunfälle gewesen sein soll.

Wenn weiterhin „Geschwindigkeit als Unfallursache“ dank der Section Control-Anlage keine oder keine bedeutende Rolle spielen soll bleibt die Frage, welche Ursachen denn dann die Unfälle hatten. Die Beantwortung der Frage hierzu steht noch aus und wir werden weitere Informationen dazu hier veröffentlichen, falls/sobald sie uns vorliegen.

Man beachte bei der Betrachtung der Werte im übrigen, dass alleine der Aufbau und Testbetrieb der konstruktiv massigen und aufwendigen Anlage schon in 2015 einen Effekt auf das Verhalten der Autofahrer*innen gehabt haben dürfte, selbst wenn die offizielle Inbetriebnahme erst Ende 2018 erfolgte.

Doch weiter zur Frage, was das Pilotprojekt für Folgen hatte:

Jenoptik teilt uns auf Nachfrage mit,

dass „eine Weiterentwicklung der Section-Control-Technik für Deutschland [] derzeit nicht vorgesehen [sei]“.

Ist das das Ende der Section Control für Deutschland? Es wäre aus persönlichkeitsrechtlicher Sicht zu schön um wahr zu sein. Jenoptik scheint jedenfalls kein Interesse mehr an der Section Control für Deutschland zu haben, während baugleiche Anlagen in Österreich und in der Schweiz von allem hier ungerührt weiter betrieben werden.

 

UPDATE 18.2.2024

Die Polizeidirektion hat uns auf unsere letzten Fragen geantwortet. Sie liefert uns neue Zahlen zur Anzahl von Verkehrsunfällen und Unfällen mit Getöteten, Schwerverletzten, Leichtverletzten, mit Wildwechsel als Unfallursache und „Hauptursache Geschwindkeit“ als angebliche Unfallursache.

Zusammengefasst in Stichworten:

  • Die zuvor von der Polizei an uns gelieferten Zahlen bezogen sich auf die Unfälle beider Fahrtrichtungen der Bundesstraße 6 im Bereich der Section Control. Diese ist allerdings nur in Fahrtrichtung Norden aufgebaut worden. (Warum eigentlich?) Das bedeutet, dass die bislang von der Polizei gelieferten Daten bezüglich der Bewertung des Effekts der Section Control Pilotanlage aussagelos sind und damit auch die erste von uns daraus erstellte Grafik!
  • Leider liefert die Polizei weder die komplette Aufschlüsselung der Unfallstatistik nach Unfallursachen und auch die Anzahlen der Unfälle mit Getöteten, mit Schwer- und Leichtverletzten lassen sich mangels weiterer Informationen nicht sachlich auswerten, weil diese Unfallzahlen nicht darstellen, wie viele Unfälle dieses insgesamt betrifft und Doppeltzählungen in dieser Form der Zahlenstatistik auftauchen können, wie die Polizei selber bei der Lieferungen der Zahlen betont.
  • Wir haben aus diesem Grund deswegen lediglich die Anzahl der Unfälle mit Getöteten in einer weiteren Grafik dargestellt. Die darin enthaltenen Zahlen sind numerisch so gering, dass sich keine statistisch belastbare Aussage über eine etwaige Wirkung der Section Control auf die Entwicklung von Unfallzahlen mit Getöteten ableiten lässt.
  • Und auch die Anzahl der Verkehrsunfälle insgesamt und die neu dazu erstellte Grafik kann keinen oder wenn überhaupt nur einen kontraproduktiven Beleg dafür liefern, dass die Section Control-Verkehrsüberwachung in irgendeiner Weise dafür gesorgt hat, die Unfallzahlen zu senken.
  • Auch interessant: Die Kurvenverläufe der Unfallzahlen beider Zahlenwerte (1. Summierte Zahlen zu Unfällen auf beiden Fahrtrichtungen, also mit und ohne Section Control und 2. Zahlen zu Unfällen nur auf der Fahrtrichtung mit Section Control) weisen die gleiche Charakteristik auf bzw. haben eine annähernd gleiche Form. Daraus könnte man die Hypothese entwickeln, dass ein Effekt der Section Control Anlage auf die Gesamt-Unfallzahl nicht erkennbar oder summarisch vernachlässigbar ist.

Hier nun die Grafiken zu den neuen Fallzahlen:

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Endlich (ein wenig) Öffentlichkeitsarbeit zur neuen Flotte von Polizeidrohnen in Niedersachsen

DJI Mavic 3 Enterprise mit zusätzlicher Wärmebildkamera. (Bildquelle: DJI-Werbevideo)

Wie gewohnt macht das niedersächsische Innenministerium ein großes Geheimnis um die große Zahl neu angeschaffter Polizeidrohnen. Darüber haben wir seit Mai 2023 berichtet und Monate danach hat das Innenministerium – endlich – mittels einer Pressemitteilung vom 28.11.2023 selber darüber informiert. Doch abseits der selbstgefälligen und inhaltlich nebelkerzartigen Äußerungen der Hardliner-Innenministerin Niedersachsens, Frau Behrens, lässt die Pressemitteilung viele Fragen offen und ungeklärt, die wir dem Ministerium noch Ende November 2023 gestellt haben. Erhielten wir darauf einen Teil der Antworten noch Ende Dezember 2023 steht die Beantwortung der Nachfragen – wie in diesem Kontext gewohnt – auch noch über vier Wochen noch aus. Wir haben uns entschlossen, uns nicht noch weiter hinhalten zu lassen und möchten also vorab schon einmal über den neuen Kenntnisstand zu den neuen Polizeidrohnen „für den flächendeckenden Einsatz“ in Niedersachsen berichten:

  • Es gab Anfang 2022 eine „strategische Neuausrichtung im Bereich der Drohneneinsätze bei der Polizei“, über die im weiteren Detail allerdings nichts bekannt oder öffentlich geworden ist.
  • Es gibt nun „insgesamt 13 Drohnen für den flächendeckenden Einsatz“ in Niedersachsen.
  • Insgesamt wurden 85.000 Euro für DJI-Drohnen der Typs Mavic 3 Enterprise Thermal ausgegeben. Die wiegen je 920 Gramm, haben eine Flugzeit von bis zu 45 Minuten und sind mit einer Weitwinkel-Wärmebild- und Zoom-Kamera ausgestattet.
  • Mit Stand November 2023 hatte die Polizei Niedersachsen 30 ausgebildete Drohnenpiloten am Start.
  • Zur Frage, wie denn die Einsätze von Polizeidrohnen gekennzeichnet werden, was bspw. im Zuge derer Einsätze mit dem Polizeigesetz als Gesetzgrundlage zwingend erforderlich ist antwortet uns die Polizei, dass die Polizeidrohnenpiloten „grundsätzlich im Brust- und Rückenbereich mit der Kennzeichnung „Luftbildaufnahme“ gekennzeichnet sind. Fahrzeuge sind mit Magnetschildern „Drohneneinsatz“ ausgestattet.“
  • Über Anzahl und Zweck der Drohneneinsätze liegen „momentan noch keine validen Zahlen vor“.
  • Die niedersächsische Landesdatenschutzbehörde wurde zur Beschaffung der Polizeidrohnen nicht eingebunden.

Nach wie vor gibt sich die Polizei also dem Irrglauben hin, dass die Beschilderung eines einzelnen Polizeifahrzeugs und des abseits stehenden Drohnenpiloten ausreichend sei, um alle potentiell von den Kameras der Polizeidrohne erfassten Menschen über den Beobachtungszustand zu informieren und diesen ausreichend Gelegenheit zum Ausweichen vor der Drohnenüberwachung biete.

Unklar ist, welche genauen Gesetzesteile von NPOG, StPO und OWiG die Polizei Hannover meint als Rechtsgrundlage für den Drohneneinsatz heranziehen zu können.

Ob die eigene Unsicherheit ob der Anwendung der neuen Polizeidrohnen der Grund für die lange Bearbeitungszeit der noch offenen Presseanfrage ist oder eher die konkrete Nachfrage, ob die Behörde tatsächlich der Meinung ist, dass die geschilderte Kennzeichnungspraxis den gesetzlichen Anforderungen genügt, das ist uns nicht bekannt.

Wir werden hier darüber berichten, sobald wir Antwort aus dem Nds. Innenministerium erhalten haben.

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Terrorangst Weihnachten 2023: „Gefährder“ ohne vorherige Aufklärung etwaiger konkreter Gefahren in den Irak abgeschoben

Alter Posterhinweis. Heute so aktuell wie damals.

Am 3.12. bzw. 4.12.2023 berichteten wir über den Fall eines Irakers, in Sachsen-Anhalt wohnend und in Niedersachsen arbeitend, dem vorgeworfen wurde online seine Bereitschaft zu einem Messerattentat erklärt zu haben.

In unserem Beitrag kritisierten wir dabei insbesondere einige Medienportale, die mit Bezug auf nur Ihnen vorliegenden Informationen über ein Attentat dieses Menschen auf den Weihnachtsmarkt in Hannover spekulierten und diese Spekulation „BILD-like“ als offene Fragen in die Headlines stellten.

Am 15.12.2023 wurde der Iraker dann in den Irak abgeschoben. Rechtsgrundlage hierfür soll die Abschiebeanordnung nach § 58a des Aufenthaltsgesetzes gewesen sein. Wir haben daraufhin eine Presseanfrage an das Niedersächsische Innenministerium gestellt – immerhin hatte die niedersächsische Polizei den Iraker inhaftiert. Dennoch wies das Ministerium in Hannover die Anfrage pauschal zurück und verwies uns stattdessen an drei andere Stellen (Innenministerium Sachsen-Anhalt, LKA Niedersachsen und Generalbundesanwalt). Die schrieben wir dann alle an, richteten aber auch die nur vom Nds. Innenministerium beantwortbaren Fragen nochmals an dieses.

Die Antworten dieser vier Stellen – sofern man sie im Einzelnen als „Antwort“ bezeichnen möchte – hier nun stichpunktartig zusammengefasst:

LKA Niedersachsen:

  • Das LKA kann nicht bestätigen, dass der Iraker ein Attentat auf den Weihnachtsmarkt in Hannover geplant oder erwogen hat.

Innenministerium Sachsen-Anhalt:

  • Der Iraker wurde per Flugzeug abgeschoben.
  • Der Iraker wurde anwaltlich vertreten.
  • Die Abschiebung erfolgte in gemeinsamer Arbeit und Planung der Behörden aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen und zusammen mit dem Generalbundesanwalt, formell zuständig war aber das MI Sachsen-Anhalt.
  • Als Abschiebegrund (bzgl. § 58a AufenthG) wird die „Abwehr einer terroristischen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ genannt. Dafür sei die Abschiebung „geeignet und erforderlich“ gewesen.
  • Zur Frage, ob die Abschiebung die richtige Entscheidung war, wenn man dabei inkauf nimmt, dass weitere Aufklärung durch Befragung des Terrorverdächtigen damit verunmöglicht wird bezieht das MI Sachsen-Anhalt keine Stellung.

Generalbundesanwalt:

  • Der Generalbundesanwalt hat beim Bundesgerichtshof ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
  • „Weitere Auskünfte kann ich Ihnen hierzu nicht erteilen.“

Innenministerium Niedersachsen (auf erneutes Nachfragen hin):

  • Zur Frage, ob die Abschiebung die richtige Entscheidung war, wenn man dabei inkauf nimmt, dass weitere Aufklärung durch Befragung des Terrorverdächtigen damit verunmöglicht wird möchte das MI Niedersachsen auch auf erneutes Nachhaken hin einfach keine Stellung beziehen.
  • Und der Frage, ob die Innenministerin Behrens weiterhin zu ihrer Aussage vom 30.11.2023 stehe, wonach es keine konkreten Anschlagspläne auf irgendeinen Weihnachtsmarkt gegeben habe, dieser Frage weicht das MI Niedersachsen aus bzw. ignoriert diese, indem es mit einem Textbaustein antwortet, der auf diese Frage einfach gar nicht eingeht.

Fazit

Die Behörden mauern weitgehend, was weiterführende Informationen betrifft.

Die angeblichen Pläne oder Überlegungen des Irakers zu einem Messerattentat wurden als „Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ interpretiert, womit die Abschiebung nach § 58a AufenthG ermöglicht wurde.

Einen konkreten Anlaß, ein Attentat auf den Weihnachtsmarkt in Hannover gehabt zu haben, scheint es nach Aussagen von Behörden und Innenministerin (nach derzeitigem Stand) anders als von NDR und WDR formuliert nicht gegeben zu haben.

Um diese Diskrepanz zu erklären bieten sich folgende Gedankenspiele an:

a) Die Behörden wissen mehr als sie zugeben. In dem Fall hätte die Innenministerin die Unwahrheit gesagt.

b) WDR und NDR wissen mehr als die Behörden. In dem Fall stellt sich die Frage, warum sie dieses Wissen nicht mit den Behörden geteilt haben.

c) Die Informationen und/oder Behauptungen von WDR und NDR sind falsch. Dann wurde nicht ausreichend sorgfältig recherchiert und geprüft angesichts der mit den Nachrichtenbeiträgen erzeugten Verunsicherung der Öffentlichkeit.

Welche dieser drei Szenarien der Wahrheit am nächsten kommt (oder welche andere Wahrheit es gibt) können wir nicht beurteilen.

Unklar bleibt für uns jedoch nach wie vor, warum der Iraker nicht vor Gericht gestellt und entsprechend verurteilt worden ist und stattdessen die Abschiebung bevorzugt worden ist. Im Interesse einer weiterführenden Aufklärung kann es unseres Ermessens nach jedenfalls nicht richtig sein, den Beschuldigten (und nicht Verurteilten!) weiter befragen und den Sachverhalt möglicherweise besser aufarbeiten zu können. So aber wirkt die Abschiebung wie eine Bestrafung ohne Verurteilung. Und der Befriedigung einer in Teilen durch Populismus aufgeladenen öffentlichen Stimmung und Erwartungshaltung, „harte Kante“ zu zeigen.

Wir werden weiter über den Fall berichten, sofern uns weitere Informationen dazu zukommen.

Was bleibt ist die pauschale unterschwellig bleibende Erhöhung des allgemeinen Gefühls der Terrorgefahr. Einer Terrorgefahr die in abstrakter wie fallbezogener Form so häufig als Begründung für polizeiliche und geheimdienstliches Handeln im Offenen wie im Heimlichen herhalten muss.

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Zum 40. Geburtstag noch einmal: Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in leichter Sprache

Heute wird das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 40 Jahre alt – am 15. Dezember 1983 verkündete das Bundesverfassungsgericht das wegweisende so genannte „Volkszählungsurteil“. Dessen Bedeutung steigt mit der Zunahme der Digitalisierung im gesellschaftlichen Leben ständig.

Ähnlich massiv zunehmend sind auch die Bedrohungen und Beschneidungen dieses wesentlichen Grundrechts, das sich auf der Würde des Menschen und des Rechts auf freie Entfaltung des Menschen, fundamentiert in den Artikeln 1 und 2 des Grundgesetzes stützt.

Anlässlich dieses „Geburtstags“ feiern und diskutieren wir am morgigen Samstag, den 16.12.2023 in Hannover.

So langsam füllt sich auch das dazugehörige Pad mit den Vorschlägen für die Tagesthemen. Der Anwalt und Menschenrechtsaktivist Rolf Gössner wird zu Gast sein, ebenso andere Aktivisten aus dem Gebiet des Menschen- und Persönlichkeitsrechtsschutzes.

Das Treffen morgen ist kostenlos und anmeldefrei.

Wir nehmen den heutigen Tag zum Anlaß, um die von uns vor Jahren geleistete Übersetzung wichtiger Teile des Volkszählungsurteils in leichte Sprache erneut zu präsentieren:

1.

Heutzutage gibt es viele Computer und Rechenmaschinen. Diese Anlagen speichern viele Informationen. Die Anlagen untersuchen diese Informationen und arbeiten mit ihnen. Das nennt man Daten-Verarbeitung. Die Computer werden darin ständig schneller und immer besser. Unter diesen Daten sind auch viele Informationen über einzelne Menschen.

In Deutschland gibt es das Grund-Gesetz. Das Grund-Gesetz ist das wichtigeste Gesetz von allen. Im Grund-Gesetz steht, dass sich jeder Mensch frei entfalten können soll. Er soll seine eigene Entwicklung selber beeinflussen und bestimmen. Im Grund-Gesetz steht auch, dass jeder Mensch eine eigene Würde besitzt. Niemand darf mit anderen Menschen würdelos umgehen.

Deswegen darf jeder Mensch selber bestimmen, welche Informationen er über sich selber an andere weiter gibt. Er darf auch sagen, was andere mit seinen Informationen tun dürfen und was nicht.

2.

Für dieses Recht hat das Bundes-Verfassungs-Gericht einen Namen. Das Gericht nennt das das “Recht auf informationelle Selbst-Bestimmung”.

Das Gericht sagt, dass dieses Recht eigentlich immer gilt. Ausnahmen davon darf es nur unter bestimmten Bedingungen geben. Ausnahmen darf es nur dann geben, wenn das für alle anderen in Deutschland sehr wichtig ist. Außerdem muss es dafür immer ein Gesetz geben. So ein Gesetz muss eindeutig sein. Das bedeutet, dass man das Gesetz verstehen kann. Das Gesetz muss unmißverständlich sein. Und man soll außerdem sehr darauf achten, dass so ein Gesetz gut formuliert ist: Wenn es einen Menschen eventuell gefährdet, muss man sehr vorsichtig damit umgehen.

3.

Ob man also mit Informationen über einen Menschen gegen seinen Willen umgehen darf oder nicht, hängt von vielen Dingen ab. Zum Beispiel: Wenn man nicht weiss, zu welchen Menschen die Informationen gehören, dann darf man diese Informationen in ein Computersystem geben. Dann nennt man diese Informationen: “anonymisierte Daten”. Manchmal möchte man wissen, wie die Menschen in einem Land leben. Dann fragt man alle Menschen und sammelt diese Informationen. Es kommt dabei nicht darauf an, wie ein einzelner Mensch lebt. So etwas nennt man Statistik.

Für eine Statistik darf man anonymisierte Daten über Menschen sammeln.

4.

Im Jahr 1983 sollte es eine Volks-Zählung geben. Eine Volks-Zählung ist eine Statistik. Bei einer Volks-Zählung möchte man lernen, wie die Menschen in einem Land leben. Dazu stellt man vielen Menschen viele Fragen. Dann lässt man einen Computer die Antworten der Menschen auswerten.

Für die Volkszählung von 1983 gab es ein Gesetz. Das Gesetz hieß “Volks-Zählungs-Gesetz 1983”. Das Gericht sagt, dass dieses Gesetz eindeutig geschrieben ist. An bestimmten Stellen soll das Gesetz aber noch verbessert werden. Es muss besser beschrieben werden, wie man die Volks-Zählung durchführt.

5.

Das Volks-Zählungs-Gesetz von 1983 hat aber einen großen Fehler. Denn das Gesetz erlaubt die Weitergabe von persönlichen Informationen über einzelne Menschen. Das aber gehört verboten. Wenn man vielen Menschen viele Fragen stellt, dann darf man die Antworten nicht an Behörden weitergeben. Und darum ist das Volks-Zählungs-Gesetz von 1983 unzulässig. Es muß neu geschrieben werden.

Deswegen musste die Volks-Zählung damals verschoben werden.

Das Urteil des Bundes-Verfassungs-Gericht ist sehr lang. In weiteren Teilen des Urteils sagt das Gericht unter anderem:

Früher wurden die Daten von Menschen mit der Hand auf Papier-Bögen eingetragen. Heute werden die Daten in Computern gespeichert und verarbeitet. Das nennt man automatische Daten-Verarbeitung. Im Computer können die Daten auf unbestimmte Zeit gespeichert werden. Und sie können innerhalb weniger Sekunden wieder abgerufen werden. Außerdem kann man verschiedene Daten-Sammlungen zusammen bringen.

Wenn diese Daten-Sammlungen dann vom Computer verarbeitet wird, kann folgendes passieren:

Alle diese gesammelten Daten aus verschiedenen Bereichen von dem Leben eines Menschen ergeben ein Ab-Bild über den Menschen, von dem diese Daten stammen. Dieser Mensch kann das oft nicht mehr kontrollieren. Er kann nicht über-prüfen, ob die Daten überhaupt richtig sind. Er kann nicht kontrollieren, ob die Rechen-Ergebnisse etwas richtiges über ihn aus-sagen. Und er kann vielleicht nicht mehr erkennen, was andere mit diesen Informationen machen.

Das alles kann den Menschen in seinem Leben beeinflussen. Der Mensch kann sich davon unter Druck gesetzt fühlen.

(Absatz 153 im Urteil vom Bundes-Verfassungs-Gericht.)

Im Grund-Gesetz steht aber, dass der Mensch einen Wert und eine Würde hat. Der Mensch soll frei selbst bestimmen können, wann er Informationen über sich selber an andere gibt und welche Daten das sind. Wegen der automatischen Daten-Verarbeitung muss man deshalb das Recht auf die freie Selbst-Bestimmung besonders schützen.

Ein Mensch kann sich gehemmt und unsicher fühlen, wenn er nicht gut genug weiß, wer welche Informationen über ihn hat. Dann ist der Mensch nicht mehr richtig selbst-bestimmt. Er ist in seiner Lebens-Planung und in seinen Entscheidungen eingeschränkt. Er ist weniger frei. Er kann sich nicht mehr frei entfalten. Der Mensch mag unsicher werden und befürchten, dass ihm sein Verhalten Nachteile bringt. Zum Beispiel durch das Mitmachen in einer Bürger-Initiative oder durch die Teilnahme an einer Demonstration. Um nicht aufzufallen, würde er seine Grund-Rechte nicht mehr ausüben. Vielleicht versucht der Mensch dann, möglichst nicht aufzufallen.

Das ist auch nicht gut für unsere Gemeinschaft. Jeder Mensch soll nämlich die Freiheit haben, selbst-bestimmt an ihr mitwirken zu können.

(Absatz 154 im Urteil vom Bundes-Verfassungs-Gericht.)

Deshalb muss jeder Mensch davor geschützt werden, dass unbegrenzt Daten über ihn erfasst, gespeichert, verarbeitet oder weitergegeben werden.

Das Grund-Recht auf informationelle Selbst-Bestimmung soll das garantieren:

Jeder Mensch darf selbst bestimmen, wem er welche Information über sich her gibt und was mit diesen Informationen passiert.

(Absatz 155 im Urteil vom Bundes-Verfassungs-Gericht.)

Ob Informationen über einen Menschen von anderen benutzt werden dürfen, muss in Gesetzen fest-geschrieben werden. Ansonsten ist das verboten. Verbote gegen unerlaubte Weitergabe oder Verwertung von persönlichen Daten schützen den Menschen.

Wer mit solchen auf einen Menschen bezogene Informationen arbeitet, der hat bestimmte Pflichten:

1. Die Pflicht, die betroffenen Menschen aufzuklären.

2. Die Pflicht, diesen Menschen auf deren Wunsch hin eine umfassende Auskunft über den Umgang mit ihren Daten zu erteilen.

3. Die Pflicht, unerlaubt gespeicherte Daten zu löschen.

(Absatz 162 im Urteil vom Bundes-Verfassungs-Gericht.)

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Hamburger Chef der „Deutschen Polizeigewerkschaft“ will nicht erklären, was er im Streit mit der Fußballfanszene unter „post-mortale Klugscheißerei“ versteht

Ein Spraybild: "Überall Polizei. Nirgendwo Gerechtigkeit."

Vorschlag für ein Epitaph anderer Natur.

Beim Fußballspiel FC St. Pauli gegen Hannover 96 vom 10.11.2023 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen der im Stadion eingesetzten Hamburger Polizei und Hannoveraner Fußballfans. Über den genauen Hergang und die Bewertung des polizeilichen Handelns gibt es Streit.

Ein NDR-Beitrag vom 28.11.2023 berichtet über die Spannungen zwischen Polizei und Fußballfans anhand dieses und anderer Vorfälle.

In dem Beitrag kommt auch Thomas Jungfer, der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft in Hamburg (DPolG) zu Wort. Auf die Kritik eines Fanvertreters, die Eskalation hätte vermieden werden können, wenn die Polizei nicht den konfrontativen Weg gewählt hätte, gewaltsam in den Block der Hannoverschen Fußballfans einzudringen antwortet der Polizeigewerkschaftler:

„Hinterher wird immer gerne post-mortale Klugscheißerei betrieben. Hinterher weiß es jeder besser.“

Dazu haben wir Herrn Jungfer eine Presseanfrage gestellt und um eine Erläuterung gebeten, welche Bedeutung das Adjektiv „post-mortal“ in diesem Zusammenhang besitzt.

Leider ist Herr Jungfer nicht bereit gewesen, uns dazu eine Antwort zu geben.

Letztenendes disqualifiert sich der Polizeigewerkschaftler mit seiner ausfälligen und unsachlichen Kommentierung selber. Als öffentlicher Vertreter der Polizeibehörde sollten nüchterne und die angespannte Situation nicht weiter anheizende Äußerungen eine Selbstverständlichkeit sein.

Und das, wo die Niedersächsische Innenministerin sich mehr und mehr als Hardlinerin herausstellt und zuletzt im nicht erst seit Wochen oder Monaten schwelenden Konflikt zwischen Fußballfanszene, Fußball-Kommerz-Betreibern und Innenpolitikern auf Law-and-Order setzt.

Dem vorausgegangen war ein Treffen der SPD-Innenministerin mit Chef und Chefin der beiden Fußballvereine Hannover 96 und Eintracht Braunschweig. Vertreter der Fanszene waren zu diesem „Fußballgipfel“ nicht eingeladen …

Anstelle sich über „post-mortale Klugscheißerei“ zu beschweren wäre dem Polizeifunktionär zu wünschen sich über pränatale Deeskalationsstrategien Gedanken zu machen. Stattdessen schraubt man weiter an der Eskalationsspirale. Ein Ende dieser aussichtslosen Verhaltensweise ist nicht in Sicht und Fußballspiele erinnern in diesen Tagen hinsichtlich der polizeilichen Aus- und Aufrüstung eher an einen Castor-Transport nach Gorleben denn an eine sportliche Auseinandersetzung.

Dass Fußballspiele polizeifrei sein können scheint vielen aus der Kaste der „Sicherheitsbehörden“ derzeit undenkbar.

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Polizeiliche Videoüberwachung von Weihnachtsmärkten in Hannover in der Kritik: Gerichtsverfahren gegen die Polizei geht in die zweite Instanz

Gegen die polizeiliche Videoüberwachung des Altstadt-Weihnachtsmarktes in Hannover 2022 hat ein Besucher der Märkte vor fast genau einem Jahr Klage eingereicht. Die Videoüberwachung entspreche nicht den gesetzlichen Vorgaben und sei zudem unverhältnismäßig und wirkungsarm, so ungefähr sein Tenor.

Nachdem das Verwaltungsgericht Hannover einen dazugehörigen Eilantrag (Az. 10 B 5428/22) noch im Dezember 2022 verwarf lehnte das Gericht auch das Hauptsache-Verfahren (Az. 10 A 5210/22) nach einer mündlichen Verhandlung im Oktober 2023 die Klage ab bzw. entschied zugunsten der für die Videoüberwachung verantwortlichen Polizeidirektion Hannover.

Gegen dieses Urteil hat der Betroffene nun Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg eingelegt.

Schon im Eilverfahren hat das Verwaltungsgericht dem Kläger wichtige Gerichtsunterlagen, die nur in Form einer so genannten „E-Akte“ digital in der Gerichts-EDV vorlagen, nicht zugänglich gemacht bzw. über dessen Existenz nicht informiert.

Und auch im Hauptsache-Verfahren war offenbar schon vor der mündlichen Verhandlung am 10.10.2023 klar, wie diese ausgehen würde, schrieb doch das Verwaltungsgericht vorwegnehmend in einer Pressemitteilung vom 4.10.2023:

„Die Videoüberwachung diente der Verhinderung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten.“

Dabei war die Behandlung der Frage, ob die polizeiliche Überwachung der Weihnachtsmarktbesucher diese verhindern könnten einer der Haupt-Schwerpunkte des Verfahrens. Aber scheinbar keinevoffene Frage mehr für das Gericht.

In der Pressemitteilung zum klageabweisenden Urteil schreibt das Gericht dann am 10.10.2023:

„Die Beklagte [i.e. Polizei Hannover] hat Auswertungen der polizeilichen Kriminalstatistik vorgelegt, aus denen sich eine erhöhte Gefahr für Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Rahmen des innerstädtischen Weihnachtsmarktes ergibt.“

Das ist sachlich falsch, denn genau diesen Beweis konnte die Polizeidirektion nicht vorlegen oder vortragen. Da sich das Verwaltungsgericht für die mündliche Verhandlung einen festen Zeitrahmen von 90 Minuten gesetzt hatte und den größten Teil dieses Zeitrahmens der Behandlung anderer, zweitrangiger Fragen widmete, wurde dieser relevante Punkt nur kurz behandelt.

Es stellt sich zudem die Frage der Verhältnismäßigkeit. So wurde der viereinhalb Wochen lang dauernde Weihnachtsmarkt 2022 von rund 1,85 Millionen Menschen besucht. Bei den drei Weihnachtsmärkten 2017-2019 [in 2020 und 2021 gab es wegen Corona keine Weihnachtsmärkte] lag die Anzahl der in diesem Zeitraum bei diesem Menschenaufkommen erfassten Straftaten bei 18 (2017), 21 (2018) und 16 (2019) – viele davon als geringfügig einzustufende. Für das Jahr 2022 meinte die Polizei bei der mündlichen Verhandlung noch keine Zahlen vorlegen zu können.

Im Nachgang zum Weihnachtsmarkt 2019 schrieb die Hannoversche Allgemeine Zeitung:

„(…) Der Weihnachtsmarkt in Hannover hat laut Stadt in diesem Jahr 1,85 Millionen Besucher verzeichnet – und die Zahl der Taschendiebstähle und anderen Straftaten fällt im Verhältnis dazu äußerst gering aus. Wie die Polizei am Montag auf HAZ-Anfrage mitteilte, registrierten die Beamten zwischen dem Auftakt des Marktes am 25. November und dem 20. Dezember, also vergangenem Freitag, nach ersten Zählungen nicht einmal 20 Delikte. Der Weihnachtsmarkt ist am Sonntag zu Ende gegangen. Vom letzten Wochenende gibt es noch keine Daten. Neun Taschendiebstähle, acht weitere Straftaten: Laut Behördensprecher André Puiu gab es bis Freitagabend neun Taschendiebstähle, am 11. Dezember wurden zwei mutmaßliche Täter festgenommen. Bei den weiteren Straftaten registrierte die Polizei sogar nur acht Delikte, darunter je zwei Körperverletzungen und Sachbeschädigungen, darüber hinaus wurde etwa Holz an einem Glühweinstand entwendet. Außerdem zeigte laut Puiu ein Betrunkener den Hitlergruß, und in einem Fall hatten Unbekannte versucht, in eine Marktbude einzubrechen. (…)“

Bislang hat die Polizei trotz mehrfacher Aufforderung keinen einzigen Vorgang/Fall benennen können, in dem ihre Videoüberwachung präventiv oder wenigstens bei der Strafverfolung hilfreich gewesen ist.

Das Thema ist derzeit auch aktuell wie selten zuvor: So wünscht sich mindestens eine der beiden medienwirksam auftretenden Polizeigewerkschaften beispielsweise die Aufrüstung der weihnachtlichen Videoüberwachung mit automatisierter „intelligenter“ Gesichtserkennung der Marktbesucher.

Nun wird sich also das Oberverwaltungsgericht Lüneburg mit der Materie beschäftigen müssen.

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Medienkritik: Zur Festnahme eines Terrorverdächtigen in Helmstedt/Niedersachsen. Und was daraus gemacht wird. [Update]

Am 21.11.2023 hat die niedersächsische Polizei in Helmstedt einen 20jährigen Iraker in „Präventionsgewahrsam genommen“, also verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, einen Anschlag auf Menschen im Zuge der Vorweihnachtszeit geplant oder zumindest mit dem Gedanken dazu gespielt zu haben.

Die bislang öffentlich gewordenen Fakten zu diesem Vorgang sind mager. Zeitungen und Nachrichtenportal verbreiten allerdings nahezu unisono, dass dieser Mann einen Anschlag auf „den“ Weihnachtsmarkt in Hannover geplant habe. Es gibt mehrere Weihnachtsmärkt in Hannover.

Der NDR am 1.12.2023 dazu:

„Ziel des Anschlags könnte nach Informationen von NDR und WDR möglicherweise der Weihnachtsmarkt in Hannover gewesen sein. Das „können wir derzeit nicht ausschließen“, sagte ein Sprecher des niedersächsischen Landeskriminalamts (LKA) am Freitag der Deutschen Presse-Agentur.“

„Nicht ausschließen“ zu können ist als Tatsachenaussage wertlos.

In einem weiteren NDR-Bericht vom Vortag ist es sogar noch vager bzw. wird diese Annahme sogar konkret entkräftet. Die Nds. polizeifreundlich eingestellte Innenministerin Behrens – und wer sollte besser informiert sein als diese! – entkräftet sogar noch viel deutlicher:

„(…) Das Landeskriminalamt erklärt, der 20jährige Mann, der in Helmstedt festgenommen worden war habe sich in Chats dazu bereit erklärt, einen Anschlag für die Terrororganisation Islamischer Staat zu verüben – möglicherweise auf dem Weihnachtsmarkt in Hannover. (…) NDR-Interviewer Jan Starkebaum: „Frau Behrens, wie konkret waren diese Anschlagspläne des Mannes, der das festgenommen wurde?“. Innenminsterin Behrens: „Also so konkret waren sie glaube ich nicht, dass wir sagen können, für einen bestimmten Weihnachtsmarkt. Aber er hat angekündigt, dass er Anschläge im Zusammenspiel mit Großveranstaltungen in der Weihnachtszeit offensichtlich ausüben möchte und deswegen haben wir ihn in Präventionsgewahrsam genommen, damit wir sicher gehen können und diese Erkenntnisse vertiefen können.“ (…)

Das straft – nach bisherigem Erkenntnisstand – alle diejenigen Medien Lügen, die konkret von einem Anschlagsplan auf einen hannoverschen Weihnachtsmarkt schreiben oder – auch nicht viel besser – ihre Überschriften – so wie das Populismusblatt mit den vier großen Buchstaben gerne – mit Fragen schmücken. So lautet die Überschrift des o.g. NDR-Beitrag vom 1.12.2023 beispielsweise:

„Terroranschlag auf Weihnachtsmarkt in Hannover geplant?“

Nüchterne und faktenbasierte Berichterstattung geht anders.

Die Frage, warum sich diese Berichterstattung in den Vermutungsmodus begibt kann von hier aus nicht beantwortet werden.

.

Update 4.12.2023

Ein weiterer Bericht des NDR zur Sache vom 4.12.2023 beginnt erneut mit der o.g., gar nicht rhetorischen Frage. Wichtiger ist, dass in dem Beitrag nun folgendes steht:

„Der Iraker steht nach Informationen von NDR und WDR im Verdacht, ein Attentat mit einem Messer auf einem Weihnachtsmarkt in Hannover geplant zu haben.“

Demnach besitzen NDR und WDR Informationen, die über den Kenntnisstand der Innenministerin neun Tage nach der Verhaftung des mutmasslichen Attentäters hinausgehen? Das wirft Fragen auf: Warum teilen die beiden Sendeanstalten ihre Informationen nicht mit Polizei und Staatsanwaltschaft? Und falls diese doch auf dem gleichen Wissensstand sein sollten: Warum verlautbart die Innenministerin dann etwas anderes?

Auch auf diese Fragen haben wir keine Antworten.

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Einladung zum 40. Geburtstag des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung

Am 15. Dezember 1983 fällt das Bundesverfassungsgericht das Volkszählungsurteil.

Zur 40. Wiederkehr dieses „Ereignisses“ organisieren wir am 16.12.2023 ein ganztägiges Treffen in Hannover und laden hiermit dazu herzlich ein.

Das Treffen ist anmeldefrei, die Teilnahme kostenlos.

U.a. wird der Anwalt, Publizist und Menschenrechtsaktivist Rolf Gössner von der Bewegung gegen die Volkszählung (VZ) der 1980er Jahre berichten, zur Bedeutung des VZ-Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1983 sowie darüber, welchen Einschränkungen das damals kreierte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung im Laufe der Jahrzehnte ausgesetzt war und weiterhin ist.

Wir wollen aber nicht nur erinnern, sondern mit Diskussionen und Gesprächen die Entwicklung und den Zustand dieses wichtigen Grundrechts beleuchten sowie Pläne und Aktivitäten zu seiner (Wieder-)Belebung beizutragen versuchen.

Das Treffen findet weitgehend selbstorganisiert statt, alle wichtigen Informationen gibt es auf einer eigenen Internetseite:

https://freiheitsfoo.de/40j-gis/

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Üstra-Hauptversammlung 2023, ÖPNV in Hannover: Keine Evidenz für Sinnhaftigkeit allgegenwärtiger Videoüberwachung, Details zum Üstra-Hack, Ungereimtheiten zur Bargeldlos-Politik der Üstra im Zuge von Fahrkartenautomaten-Sprengungen, Üstra-Deutschlandticket-Praxis

Am 31.8.2023 fand die diesjährige Hauptversammlung des ÖPNV-Anbieters für Hannover, der Üstra AG statt. Wir haben erneut Fragen und Antworten eines teilnehmenden Aktionärs dokumentiert und möchten mit diesem Beitrag auf einige uns wichtig oder erwähnenswerte erscheinende Informationen stichpunktartig hinweisen. Inhaltlich geht es um Videoüberachung des öffentlichen Raums im ÖPNV und drumherum, um die Zusammenarbeit mit der Polizei, die IT-Sicherheit (nach einem erfolg- und folgenreichen Angriff auf die Üstra-IT), um Umgereimtheiten bei einer „Bargeldlos“-Aktion im Zuge von Fahrkartenautomaten-Sprengungen, Schlagstöcke beim Üstra-Sicherheitsunternehmen Protec, Umgang mit sog. Schwarzfahrern und vieles mehr.

Stichpunktartig und ohne besondere Sortierung:

Videoüberwachung

Die Üstra betreibt aktuell 3.099 Überwachungskameras.

Der Betrieb und die Instandhaltung der Kameras kostet der Üstra jährlich 196.000 Euro.

Erneut und noch immer liegen der Üstra keinerlei Informationen oder Belege vor, ob oder in welchem Umfang ihre Videoüberwachung bei der Strafverfolgung hilfreich gewesen ist oder nicht. (War auch in den letzten Jahren, bspw. 2020 und 2022 schon so!) Und das, obwohl die Polizei in 2022 in fast 300 Fällen die Videoüberwachungsfestplatten bei der Üstra angefordert und abgeholt hat.

In ungefähr jedem 14. Fall, in dem die Üstra auf die Aufzeichnungen ihrer Kameras in Bussen und Bahnen zugreifen wollte war entweder Kamera oder Aufzeichnungstechnik defekt.

Rein technisch betrachtet kann die Polizei auf alle stationären Üstrakameras zugreifen. Das sei angeblich aber noch nie vorgekommen. So der Vorstand.

Die Polizeidirektion Hannover nutzt das Glasfaser-Leitungsnetz der Üstra zur Steuerung und Bildübertragung der polizeieigenen stationären Überwachungskameras. Dafür zahlt sie der Üstra jährlich Gebühren zwischen 10.000 und 20.000 Euro. Die Üstra und die Polizeidirektion Hannover sind enge Freunde.

Schwarzfahren

Die Üstra hat keine Informationen darüber, wie häufig die von ihr angetretenen Strafverfahren gegen Schwarzfahrer*innen zu deren Verurteilung und Inhaftierung geführt haben.

IT-Hack(s)

In allen vorherigen Geschäftsberichten wurde das Risiko durch IT-Angriffe als „niedrig“ bewertet. Das wurde auch jedes Jahr auf der Hauptversammlung kritisiert. Doch erst jetzt, nach dem erfolgreichen und schwerwiegenden Angriff wurde das auf „mittel bis hoch“ heraufgestuft. Eine späte, bittere Erkenntnis …

Dieser schwerwiegende IT-Hack begann mit einer am 9.3.2023 von einem/einer MitarbeiterÜin geöffneten Phishing-Mail samt Anhang.

Der sich daraufhin im System einnistende Trojaner erwarb sich peu à peu Admin-Rechte und setzte in der Nacht vom 30. zum 31.3.2023 die IT-Infrastruktur der Üstra außer Betrieb und verschlüsselte deren Daten.

Der Angriff betraf alle Anwendungen im Office-LAN, ca. 1.000 Mitarbeiter*innen mit PC-Arbeitsplätzen waren betroffen.

30-40 Mitarbeiter*innen arbeiten seither an der Rekonstruktion verloren gegangener Daten.

Derzeit kann noch nicht beurteilt werden, ob personenbezogene Daten abgeflossen sind. Seit Ende Juni 2023 tauchen im Darknet Daten von den Üstra-Servern auf.

Bis jetzt kostete der Angriff der Üstra grob 1,4 Millionen Euro.

Die Üstra setzt hauptsächlich auf Microsoft, sowohl in der IT-Infrastruktur als auch bei der Bewältigung von IT-Angriffs-Schäden.

Auf den Vorschlag, zukünftig freie und offene Systeme und Software zu setzen gab es keinerlei Reaktion seitens des Vorstands.

Wasserstoff-Technologie

Anders als beim vorherigen Vorstand scheint das Thema Wasserstoff-getriebener Busse und Bahnen derzeit keine besonders hohe Priorität zu genießen. Es gibt eine seit 2020 aus 6 Personen bestehende Projektgruppe, die allerdings bislang erfolglos versucht hat, Förderungen zur Anschaffung von drei Wasserstoffbussen an Land zu ziehen.

Festgestellt werden konnte immerhin, dass sich keiner der derzeit in Nutzung befindlichen Bus- und Stadtbahn-Betriebsstätten für die Nutzung als Wasserstoff-Tankstelle eigne …

Protec-„Sicherheitsdienst“

Wie oft der im letzten Jahr beim Üstra-eigenen „Sicherheitsunternehmen“ Protec eingeführte Teleskop-Metall-Schlagstock eingesetzt wurde und wie oft dadurch Menschen verletzt worden sind, darüber führt die Üstra keine Statistik und macht auch keine Anstalten, das zu ändern.

Diese potentiell knochenbrechende Waffe war von der Üstra zur Einführung in einem Blogbeitrag verniedlichend als „kleiner Stock für Deeskalation und Sicherheit“ bezeichnet worden.

Fahrkarten-Automaten – Sprengungen und Chancen auf (Nicht-)Beibehaltung der Möglichkeit Fahrscheine mit Bargeld zu erwerben. Verlust des Rechts anonymen Unterwegsseins im öffentlichen Raum

Am 24.3.2023 teilte die Üstra mit, „dass ab sofort an allen oberirdischen Üstra-Haltestellen keine Fahrkarten mehr mittels Bargeld erworben werden können. Grund dafür ist die hohe Anzahl von Automaten-Sprengungen in den vergangenen Wochen. Allein seit Anfang Dezember wurden 20 Fahrkartenautomaten komplett zerstört.“ Die Üstra führt weiter die Sicherheit der Kunden als Grund für die Maßnahme an.

Für viele Menschen brachte das erhebliche Probleme mit sich – Fahrkarten konnten und können nun nicht mehr (gegen Bargeld) am Automaten „gestöpselt“ werden. Es steht die Sorge im Raum, dass die Üstra unter dem neuen Vorstand die „Bargeldbefreiung“ der Fahrkartenautomaten unter Ausnutzung eines günstigen Vorwands zur Regel werden lassen möchte und die derzeitige Situation als Eingewöhnungsphase einsetzt.

Dafür spricht auch, dass der Schritt aus unserer Sicht heraus nicht schlüssig ist: Wir haben zum Sachverhalt viel bei der Üstra nachgefragt und herausgefunden, dass es zwar eine besorgniserregende Serie von Sprenganschlägen gab, diese dauerte jedoch – von wenigen Einzelfällen abgesehen – „nur“ vom Dezember 2022 bis zum Februar 2023. Warum also einen Monat nach dem Ende dieser Serie das Bargeld aus den Automaten entfernen?

Die Üstra verweist darauf, dass ab Frühjahr 2024 neue Automaten installiert werden sollen. Diese seien mit Farbkassetten ausgerüstet, die die im Automaten enthaltenen Geldscheine im Falle einer Sprengung zur weiteren Verwendung unbrauchbar werden lassen. Doch auch das scheint nur vorgeschoben zu sein, denn die Mehrzahl der bislang gesprengten Automaten – so wurde uns auf mehrfache Nachfrage hin bekundet – besaßen ebenfalls diese Schutztechnik. Und die Diebe hätten es dann auf das ungeschützte Hargeld, auf die Geldmünzen abgesehen.

Auf diese Ungereimtheiten in der von der Üstra nach außen hin kommunizierten Logik hingewiesen und nachgefragt, warum denn die neuen Automaten sicherer als die alten sein sollen antwortete der Vorstand sinngemäß: „Sollten sich die Sprenganschläge wiederholen, stellen wir wieder auf ausschließliche Bezahlung der Tickets ohne Bargeld um. Wir gehen aber davon aus, dass die Sprengungen bei den neuen Automaten schwieriger durchzuführen sind als bei den jetzigen Automaten.“

Diese Aussage nährt die zuvor genannten Befürchtungen, dass hier ein Zwang zur bargeldlosen Bezahlung manifestiert werden soll. Damit einhergehend eine weitere bedeutende Beschneidung des Persönlichkeitsrechts der ÖPNV-Nutzer und des Rechts, sich anonym im öffentlichen Raum bewegen zu können.

Dazu passt im weiteren die Ankündigung der Üstra, die für das Jahr 2026 angekündigten neuen Stadtbahnen des Typs TW4000 „mit Beacons im Eingangsbereich für das E-Ticketing“ auszurüsten. Damit sollen Fahrgäste identifziert und deren Bewegungen in der Bahn erfasst werden.

„Deutschlandticket“ (49-Euro-Ticket)

Die Üstra will ab Frühjahr 2024 das 49-Euro-Ticket auch als Chipkarte anbieten. Die gute Nachricht dazu: Um diese zu erwerben muss mensch keinen Kundenaccount bei der Üstra einrichten – so die Aussage und Behauptung des Vorstands zumindest.

Ob das 49-Euro-Ticket tatsächlich das „Erfolgsmodell“ ist, als das es Üstra und Bundesverkehrsminister gerne feiern bleibt unklar. Es hat immerhin nicht dazu gereicht, wenigstens das Vor-Corona-Nutzungsniveau im ÖPNV wieder zu erreichen. Und „dank“ des IT-Hacks bei der Üstra kann diese auch gar keine Zahlen dazu vorlegen, wie viele der bis Ende August 2023 von ihr verkauften 60.785 49-Euro-Tickets schon vorher ein Üstra-Monatsticket-Abo hatten und wie viele neue Abo-Kunden überhaupt hinzugekommen sind.

Übrigens führt die Üstra derzeit mangels technischer Ausstattung auch gar keinen Abgleich etwaig kontrollierter „Deutschlandstickets“ mit den VDV-ETS-Sperrlisten durch, kann also gar nicht erkennen, ob es sich dabei um ein noch im Abo gültiges Ticket handelt oder nicht.

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