Otl Aicher, Gestalter, Denkender, Schaffender und Universalgelehrter und -lernender mit Rückgrat wäre heute 100 Jahre alt geworden, wäre er nicht schon 1991 nach einem Motorradunfall gestorben.
War es die letzten Jahrzehnte medial ruhig um ihn, wird er nun, da er sich nicht mehr gegen die Art und Weise seines Gedenkens wehren kann, vielfach gerühmt und gewürdigt. Erwartbar, dass die unbequemen Seiten seines Wesens in diesem Zuge unterbelichtet und untergewichtet – wenn übrerhaupt erwähnt – bleiben.
Nachfolgend ein paar kurze Auszüge aus seinem zusammen mit Josef Rommen verfassten Buch „typographie“ aus 1988, im Verlag ernst&sohn erschienen. Otl Aicher verzichtete aus guten Gründen weitestgehend auf Großbuchstaben.
„der innenminister ist für mehr sicherheit. heute genügt es nicht mehr, verbrechen zu verurteilen und verbrecher zu bestrafen. es geht darum, bereits das umfeld zu kontrollieren, in dem verbrechen entstehen. es geht darum, personen und gruppen zu erfassen, die beim zustandekommen von verbrechen wirksam werden.
der schlüssel dazu ist eine ausweitung von beobachtung, informationsermittlung und informationsverarbeitung. die technologie der datenermittlung und datenverarbeitung drängt, ob man sie braucht oder nicht, auf den markt, auch auf den, der sich schutz der demokratie nennt.
(…)
der unbescholtene bürger hat keine angst vor seinem leumundszeugnis. sagt der innenminister. er übersieht allerdings, daß er damit auf dem weg in den überwachungsstaat ist.
die demokratische struktur zerfällt, immer mit dem argument, dem bürger zu dienen. ein wohltätiger postfaschismus entsteht mit einem umfassenden kontrollsystem. wobei allein das wertsystem des kontrollapparates und nicht das des kontrollieren, des demokratischen subjekts über die bewertung der kontrollen und die auswertung der daten entscheidet. das grundmotiv dieser hilfestellung für den bürger und seine sicherheit ist der satz: gemeinnutz geht vor eigennutz.
ließe sich die richtigkeit eines solchen satzes verifizieren, so wäre zum mindesten zu fragen: wer bestimmt, was gemeinnutz ist? der innenminister?
(…)
kann der staat überhaupt ein bild des idealen bürgers haben? woher weiß er, was der richtige bürger zu denken und zu tun hat und worin seine sicherheit besteht? ein staat besitzt keine intelligenz, höchstens interessen. und er hat so viele bürger, wie er einwohner hat. den bürger an sich gibt es nicht. er ist eine wortblase, vorzüglich geeignet, vom thema, nämlich den einzelnen bewohnern eines landes, abzulenken.
jeder bürger ist ein individuum, hat eigene vorstellungen und lebt sein eigenes leben, allein, mit anderen, in einer gesellschaft, aber immer als einzelne person, sein leben besteht aus handeln, sich verhalten, aber nicht im befolgen von gesetzen. der gesetzesgehorsam ist für ein gemeinwesen unerläßlich, er ist aber kein lebensziel. jeder bürger entwickelt sein leben selbst auf seine weise.“
Jedes Buch Otl Aichers ist lesenswert.