Vor 45 Jahren: Inkrafttreten des Radikalenerlasses – Interview mit einem Berufsverbot-Ge/Betroffenen und eine ausgegrabene Gollwitzer-Stellungnahme

Bildquelle: Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Bilddatei-Signatur: 410_P1_DGH_079. (Mit Dank an das Institut für die Genehmigung zur Bildverwendung!) Gestaltet wurde das Plakat von der Werkstatt „Demokratische Graphik Hamburg“.

Am 28. Januar 1972 beschlossen die die Ministerpräsidenten der damaligen west-deutschen Bundesländer den so genannten „Radikalenerlass“. Der daraus resultierende „Runderlass zur Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst“ vom 18. Februar 1972 – morgen vor 45 Jahren! – hatte für viele hundert Menschen zur Folge, dass Sie Ihren Beruf nicht oder nicht mehr ausüben durften. Berufsverbote kannte man bereits aus der Zeit des nationalsozialistisch geprägten Deutschlands.

Die westdeutsche Nachkriegs-Berufsverbots-Ära (auch in der ehemaligen DDR gab es eine politisch ausgerichtete Berufsverbotspraxis) dauerte bundesweit bis 1985 als Saarland als erstes Bundesland den Radikalenerlass aufhob. Bis 1991 hatten alle Bundesländer gleichgezogen. Bayern war das letzte Bundesland in dieser Reihe, ersetzte den Erlass allerdings durch eine in Teilen nicht minder fragwürdige zwangsweise schriftliche Befragung jedes Bewerbers für den öffentlichen Dienst im „Freistaat“.

Der Landtag in Niedersachsen schickt sich seit einigen Jahren gegen parteipolitische und persönliche Widerstände innerhalb von CDU und FDP an, die unrühmliche, undemokratische und verfassungswidrige Geschichte der politischen Berufsverbote aufzuarbeiten und die davon zu Unrecht schwer beeinträchtigten Menschen wenigstens formell zu rehabilitieren. Damit betritt der Landtag bundesweit Neuland, umso mehr kann man diesem Bemühen Achtung zollen.

Nachfolgend ein von uns schriftlich geführtes Interview mit Matthias Wietzer, dem 12 Jahre lang verboten worden ist, trotz erfolgreichen Lehramtsstudiums und mit „gut“ bewertetem Vorbereitungsdienst als Lehrer zu arbeiten. Fünf Gerichtsprozesse und fünf Jahre Arbeitslosigkeit waren (u.a.!) die Folge. Matthias Wietzer hat sich scheinbar nicht verbittern lassen. In jahrzehntelanger Arbeit und meistens ohne öffentliche Anerkennung hat er zusammen mit anderen an der Aufarbeitung dieses beschämenden Teils der deutschen Geschichte mitgewirkt und den politischen Erfolg in Niedersachsen mit begründet.

Der daran anschließende Text des Theologen, Schriftstellers und Sozialisten Helmut Gollwitzer rundet diesen Blogbeitrag ab. In einem Brief an den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt, an den damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher und an die Ministerpräsidenten und Innenminister der damaligen Bundesländer erläutern drei Mitglieder einer ökumenischen Gruppe aus West-Berlin kurz und prägnant, worum es beim Radikalenerlass geht und wer davon getroffen werden sollte. Der Text entstammt dem 1972 bei Pahl-Rugenstein erschienenen Lese- und Arbeitsbuch „Wortlaut und Kritik der verfassungswidrigen Januarbeschlüsse. Materialien für Studenten, Beamte, Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst.“

 

Interview mit Matthias Wietzer

freiheitsfoo: Herr Wietzer, welches war für Sie der schockierendste, bedrückendste oder vielleicht sogar traumatischste Moment in Ihrer persönlichen, vom Radikalenerlass beeinflussten Lebensgeschichte?

Matthias Wietzer: Über diese Frage muss ich nachdenken … Bedrückend war die Situation, als kurz vor der Geburt meiner Tochter 1990 die Lebensperspektive unserer Familie sehr ungewiss war. Nach 12 Jahren Berufsverbot und damaliger Arbeitslosigkeit war die unsichere persönliche und auch ökonomische Zukunft schon sehr belastend. Glücklicherweise konnte ich einige Monate später nach Ablösung der Albrecht-Regierung in Niedersachen wieder in meinem Beruf arbeiten.
Überrascht und etwas schockiert war ich, als mir der niedersächsische Pressesprecher des sogenannten Verfassungsschutzes – der Behörde, die mich nachweislich jahrzehntelang bespitzelt hat – am Rande einer Veranstaltung einen „günstigen Prozessverlauf“ bei meinem anstehenden Berufsverbotsprozess wünschte.
Gesundheitliche Beeinträchtigungen oder gar traumatische Momente habe ich zum Glück nicht erleben müssen.

15.12.2016: Vor dem Landtag fordern niedersächsische Betroffene ihre Rehabilitierung: Rolf Günther, Cornelia Booß-Ziegling, Rolf Schön, Jürgen Reuter und Matthias Wietzer (v.l.n.r.)

freiheitsfoo: Wie haben Sie es geschafft, trotz der schweren und für Sie lebenslang wirkenden Folgen Ihres eigenen Berufsverbots nicht zu verbittern? Oder sind Sie verbittert?

Matthias Wietzer: Nein, verbittert bin ich nicht. Die umfassende und breite Solidarität im In- und Ausland, die materielle Unterstützug durch den „Heinrich-Heine-Fond“ und das Eintreten für die eigenen Interessen waren wertvolle Mittel gegen Verbitterung, Resignation und Frust. Orientierung und Hilfe bekam ich insbesondere auch durch zahlreiche mich stark beeindruckende, faszinierende Menschen: durch Frauen und Männer, die im antifaschistischen Kampf in Hitlerschen Konzentrationslagern oder später auch in Adenauerschen Gefängnissen wegen ihrer Gesinnung gequält bzw. inhaftiert wurden. Ihr Beispiel gab und gibt auch Kraft schwierige individuelle Lebenssituationen durchzustehen und zu verarbeiten.
Auch wenn wir vom Berufsverbot Betroffenen jahrzehntelang als „Extremisten“ und „Verfassungsfeinde“ diffamiert wurden, so zeigt sich gerade in den letzten Wochen und Monaten, dass unser 45-jahriges zähes und phantasievolles Engagement gegen den staatlichen Verfassungsbruch und vielfältige Widerstände wichtig und richtig war.

freiheitsfoo: Die Inlandsgeheimdienste von Bund und Länder („Ämter für Verfassungsschutz“) haben „dank“ des Radikalenerlasses viel zu tun gehabt, sie seien dadurch „aufgebläht“ worden, heißt es mitweilen sogar. Wie haben Sie die Erfassung und Überwachung ihres Seins durch den „Verfassungsschutz“ selber erlebt und empfunden und wie stehen Sie zu diesem Geheimdienst in der aktuellen Entwicklung dieser Tage?

Matthias Wietzer: Zumindest seit 1973 bin ich nachweislich vom sogenannten Verfassungsschutz ausgespäht worden und auch schriftlich wurde mir mitgeteilt, dass die Observationen bis in die heutige Zeit andauern. So blieb dem beflissenen bundesdeutschen Geheimdienst nicht verborgen, dass ich 1973 20 DM an die „UZ“ (die Zeitung der DKP) gespendet habe und dass ich – laut unbekannter „Zeugenerklärung“ – am 30.09.1977 in der Cuxhavener Beethovenallee an einer „genehmigten Werbefläche“ DKP-Wahlplakate für die Kreistagswahl anbrachte.
Es gereicht auch nicht zum Ruhm dieser Behörde, dass mir die Teilnahme an einer überparteilichen Bündnisveranstaltung zum Thema „Verbrechen der NATO in Jugoslawien“ im Jahr 2000 vorgehalten wurde und auch der formulierte Vorwurf, dass ich „aktives Mitglied und Sprecher der Bürgerinitiative ‚Rettet die Stadtbibliothek Limmerstraße'“ sei, ist zwar richtig, wirft aber vielmehr ein bezeichnendes Licht auf das verquere Demokratieverständnis der vermeintlichen Hüter unserer Verfassung.
Ich halte es für einen Anachronismus, dass dieser maßgeblich von ehemaligen NS-Agenten gegründete dubiose Apparat, der in der Vergangenheit Neo-Nazis unterstützte und finanzierte, dem zudem Verstrickungen bei NSU-Gewalttaten vorgeworfen werden, jetzt mit noch mehr Kompetenzen ausgestattet werden soll. Dem hannoverschen Kabarettisten Dietrich Kittner ist zuzustimmen, als er feststellte, dass es ein Satiriker gewesen sein müsse, der für diesen Haufen den Namen „Verfassungsschutz“ erfunden hat.

freiheitsfoo: Ein rechtspopulistischer AfD-Parteipolitiker, ebenfalls Lehrer wie Sie, hat vor kurzem mit einer menschenverachtenden und geschichtsverleumdenden Rede vor seinen Anhängern den Anstoß dafür gegeben, dass sein Dienstherr, das Land Hessen, ihm die Lehrbefugnis entziehen will. Möchten Sie sich dazu äußern?

Matthias Wietzer: Die Äußerungen des besagten Herren disqualifizieren ihn selbst und sind zudem eine Beleidigung für einen ganzen Berufsstand. Dass menschenfeindliche Rassisten Kinder und Jugendliche unterrichten und zur Mündigkeit erziehen sollen, ist mit einem pluralistisch-demokratischen Bildungsauftrag nicht vereinbar. Eine Aufhebung der Immunität sowie juristische und dienstrechtliche Schritte sind da sicherlich angebracht. Für Holocaustleugnung, Menschenverachtung und Rassismus darf kein Platz in der Gesellschaft und schon gar nicht in Bildungseinrichtungen reserviert sein.

Titeltafel der Ausstellung „Berufsverbote – Politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland“ von der Niedersächsischen Initiative gegen Berufsverbote. (Download: Begleitheft zur Ausstellung)

freiheitsfoo: Mit fünf weiteren vom Berufsverbot betroffenen Lehrer/innen haben Sie eine bundesweite Wanderausstellung erstellt, die sich mit politischer Verfolgung in der deutschen Geschichte und in der Bundesrepublik sowie mit den Berufsverboten beschäftigt. Wie wird dieses Ausstellung angenommen?

Matthias Wietzer: Unsere 20 Tafeln umfassende Ausstellung hat den Titel „Vergessene“ Geschichte: Berufsverbote – Politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland. Bundesweit stößt die Ausstellung, die mit Unterstützung von DGB, GEW, ver.di und der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert wurde, auf außerordentliches Interesse und erfährt viel Lob und Anerkennung. Inzwischen wurde sie in über 20 Städten gezeigt, aufgrund der starken Nachfrage wurden mittlerweile drei weitere Versionen der kostenlos ausleihbaren Ausstellung nachgedruckt sowie eine englischsprachige Ausgabe, die an der Universität Roskilde in Dänemark gezeigt wurde. 2017 wird sie u. a. in der ver.di-Bildungsstätte in Berlin, im DGB-Haus in Braunschweig, in der Volkshochschule in Hannover und der bayrischen Landeshauptstadt zu sehen sein.
Wir haben uns bemüht anschaulich aufzuzeigen, dass die Berufsverbote keinen einmaligen Betriebsunfall in der deutschen Geschichte darstellen, sondern vielmehr Fortsetzung einer unrühmlichen historischen Tradition sind, durch die oppositionellen Kräften systematisch die demokratische Legitimation entzogen werden sollte.

freiheitsfoo: Was denken Sie, wie sich die nächsten 10 Jahren entwickeln werden: Bleibt Niedersachsen die einzige rühmliche Ausnahme bei der parlamentarischen Aufarbeitung des Radikalenerlasses und den konkreten Folgen für die Menschen oder werden die anderen ehemals westdeutschen Bundesländer diesem Beispiel folgen?

Matthias Wietzer: Die Landtagsdrucksache 17/7150 mit dem Titel „Radikalenerlass – ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte Niedersachsens“ ist ein impulsgebendes und mutmachendes Dokument, das sicherlich auch außerhalb der Grenzen des Bundeslandes Beachtung finden wird. Erstmalig soll jetzt in einem Bundesland durch eine Landesbeauftragte ernsthaft an die Aufarbeitung der Schicksale der vom Berufsverbot Betroffenen herangegangen werden und Maßnahmen für ihre Rehabilitierung erarbeitet werden. Damit wird unter die Berufsverbotepolitik vorangegangener Landesregierungen – mit SPD-, CDU- und FDP-Verantwortlichkeit – endlich ein deutlicher Schlussstrich gezogen. Festgestellt wird in dem Entschließungsantrag, der mehrheitlich von SPD und GRÜNEN unter Widerwillen von CDU und FDP beschlossen wurde, dass „die Ausübung von Grundrechten … behindert, bedroht und bestraft“ wurde, „das Geschehene ausdrücklich bedauert“ und den Betroffenen „Respekt und Anerkennung“ ausgesprochen wird. Entschuldigungen der Fraktionen von SPD und GRÜNEN wurden in der Landtagsdiskussion an die Betroffenen gerichtet. Optimistisch stimmt mich, dass bereits einen Monat nach dem niedersächsischen Beschluss ein ähnlich lautender Antrag von der Fraktion der LINKEN in den Hessischen Landtag eingebracht wurde und auch in anderen Bundesländern vergleichbare Vorhaben zu erwarten sind. Zukünftige Entwicklungen werden nicht im Selbstlauf realisiert, vielmehr sind sie maßgeblich von der Kraftentfaltung und Durchsetzungsfähigkeit der demokratischen Bewegung abhängig.

freiheitsfoo: Gibt es bereits Informationen über die Arbeit und die Aufgaben der Landesbeauftragten?

Matthias Wietzer: Ja, die Gewerkschafterin und ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete Jutta Rübke aus Hildesheim wurde inzwischen von der Landesregierung berufen. Sie wird gemeinsam mit Betroffenen, Vertreter/innen von Gewerkschaften und Initiativen unsere Schicksale aufarbeiten und Rehabilitierungsmöglichkeiten aufzeigen. Organisatorisch ist sie dem Justizministerium angegliedert, ihre ehrenamtliche und weisungsfreie Tätigkeit soll durch alle Resorts unterstützt werden. Unterstützung wird es auch durch eine wissenschaftliche Begleitung geben, wobei die anschließenden Arbeitsergebnisse, die bis zum Jahresende vorliegen sollen, später öffentlich dargestellt und im Rahmen der politischen Bildung in Niedersachsen verwendet werden.

freiheitsfoo: Nach erfolgtem Regierungswechsel in Niedersachsen in 1990 ermöglichte die damalige rot-grüne Landesregierung, dass Sie von 1991 bis 2014 wieder im Schuldienst arbeiten konnten. Ist das Kapitel Berufsverbote jetzt für Sie – nach über 20-jähriger Tätigkeit in der Schule – nicht eigentlich beendet?

Matthias Wietzer: Leider nicht, es gibt da noch viel zu tun. Die endgültige bundesweite Abschaffung des „Radikalenerlasses“ und des unseligen bayrischen „Fragebogens“ sowie Entschuldigungen für erlittenes Unrecht durch die Landesregierungen sind längst überfällig. Handlungsbedarf gibt es gerade auch für den Bundestag und die Bundesregierung, die sich bislang vor ihrer Verantwortung für die verfassungswidrigen Maßnahmen – insbesondere bei Bahn und Post – gedrückt haben.
Nicht zu vergessen ist, dass die skandalösen Gerichtsurteile, die unter starkem Einfluss ehemaliger NS-Juristen ausgesprochen wurden, bis heute Bestand haben. Letztendlich geht es auch um die Behebung des angerichteten Schadens in finanzieller Hinsicht. Kürzungen bei Pensionen und Renten stellen eine lebenslange Bestrafung für die Betroffenen, von denen gegenwärtig einige von 500 oder 600 Euro Rente monatlich leben müssen, dar. Neben anderen Maßnahmen könnte hier durch Fonds auf Landes- und Bundesebene Abhilfe geschaffen werden. Es wäre doch schön, wenn die Betroffenen, von denen viele inzwischen das Rentenalter erreicht haben, ihre moralische und politische Rehabilitierung noch miterleben könnten. Angebracht und notwendig ist es auf alle Fälle.

freiheitsfoo: Was kann man aus dem Radikalenerlass und seiner Geschichte aus Ihrer Sicht für heute lernen? Was möchten Sie jungen Menschen, die in unserer heutigen Welt aufwachsen, gerne mitteilen?

Matthias Wietzer: Man/frau sollte Kriegstreibern, Rassisten, Meinungsmanipulateuren und Berufsverbietern nicht auf den Leim kriechen oder gar „das Feld überlassen“. Unreflektiert im Mainstream schwimmen kann gefährlich sein, das zeigt gerade auch die deutsche Geschichte. Nutzt den eigenen Verstand und bringt euch kritisch und hinterfragend mit Toleranz, Empathie und Weltoffenheit als Gestalter/innen der Zukunft ein.
Und nicht nur beim Thema Berufsverbote gilt nach wie vor: Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.

 

Helmut Gollwitzer in einer Aufnahme aus den 60er Jahren. Bildquelle/-autor: Stiftung Haus der Geschichte, Lizenz: Creative Commons CC-BY-SA 2.0

Dr. Helmut Gollwitzer, Professor für Evangelische Theologie an der Freien Universität Berlin: Offener Brief nach der Beschlußfassung zum Radikalenerlass

An:
Herrn Bundeskanzler W. Brandt
Herrn Bundesinnenminister H. D. Genscher
An die Herren Ministerpräsidenten und Innenminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland

Sehr geehrte Herren!

Wir wenden uns an Sie wegen der vom Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten der Bundesländer am 28. Januar 1972 beschlossenen gemeinsamen Erklärung und den von der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen „Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlidien Kräfte im öffentlichen Dienst“. Wir sind ein ökumenischer Kreis von Christen in Westberlin, der sich im besonderen mit Fragen der christlichen Verantwortung im gesellschaftlichen Leben befaßt und dem auch eine große Anzahl jüngerer Menschen angehört.

Ihre beiden Erklärungen halten wir für einen verhängnisvollen Schritt in der gegenwärtigen Entwicklung der Bundesrepublik.

1) Zwar richten sich Ihre Erklärungen und die beabsichtigten Maßnahmen, wie Sie behaupten, gegen alle „verfassungsfeindlichen Bestrebungen“ von rechts und links. Zeitpunkt und Vorgeschichte beweisen aber: die Richtung geht einseitig gegen Linksstehende. Damit steht Ihre Haltung in der verhängnisvollen Tradition des deutschen Antikommunismus, der wir die Jahre 1933. 1940, 1945 und die Politik des Kalten Krieges verdanken. Ehemalige Nazigrößen befinden sich bekanntlich in hohen Staatsämtern. Noch kein NPD-Angehöriger ist bisher aus dem Staatsdienst oder aus der Einstellung in den Staatsdienst ausgeschlossen worden; nur Linke sind betroffen. In den europäischen Ländern ohne diese deutsche Tradition gibt es Tausende von kommunistischen Beamten und Lehrern (auch Pfarrern und Priestern), ohne daß diese Länder dadurch Freiheit und Demokratie gefährdet sehen.

2) Ihre Erklärungen nehmen nur Einzelne wegen deren Aktivitäten oder Gruppenmitgliedschaft in den Blick, ohne daß von staatlichen Maßnahmen gegen die als verfassungsfeindlich bezeichneten Organisationen selbst die Rede wäre. Es handelt sich also um eine billige Weise, Einzelne zu treffen, statt den juristisch schwierigen und politisch oft inopportunen Weg des Verbots von Organisationen zu gehen. Aber nur gerichtlich überprüfbare Organisationsverbote sind die rechtsstaatlich kontrollierbare Basis für Maßnahmen gegen Einzelpersonen. Indem Sie sich auf letztere beschränken, nehmen Sie in Anspruch, Verfassungsfeindlichkeit nach eigenem Geschmack festzustellen und zu ahnden. Gerade dies ist eine Untergrabung der rechtsstaatlichen Prinzipien.

3) Das Fehlen jeglicher Kriterien wird Gesinnungsschnüffelei und Behördenwillkür zur Folge haben. Was „verfassungsfeindliche Aktivität“ ist, wird nicht an gerichtlichen Feststellungen und klaren gesetzlichen Maßstäben gemessen, sondern von Behördenvertretern gemäß deren eigener politischer Anschauung festgesetzt, den Betroffenen aber wird der kostspielige Weg zu den Gerichten aufgebürdet.

4) Das Fehlen objektiver Kriterien gibt den durch Ihre Erklärungen angekündigten Maßnahmen einen totalitären Abschreckungseffekt: Kritische Aktivitäten werden riskant, mögen sie auch nur Straßenbahntarif oder das Baden an Seeufern betreffen. Niemand weiß mehr, wo die klare Grenze zwischen dem Verbotenen und dem Erlaubten liegt, die für einen Rechtsstaat wesentlich ist. Jeder, der eine Beamtenstellung anstrebt, muß damit rechnen, daß irgendeine Behörde in seinem Verhalten Verfassungsfeindlichkeit wittert und ihm die berufliche Zukunft zerstört. Diese Erklärungen und die ihnen folgenden Maßnahmen dienen der Produk- tion von gleichgeschalteten Beamten und Lehrern und wirken allen Appellen zur Zivilcourage und damit der Intention des Grundgesetzes gerade entgegen.

5) Indem die Erklärung einseitig gegen links zielt, steht sie in der alten deutschen Tradition, rechts sei staatserhaltend, links aber staatsgefährdend. In Wirklichkeit stehen heute auf der „links“ genannten Seite diejenigen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen ihre reaktionären Feinde schützen und zu mehr Freiheit und zu mehr Demokratie weiterentwickeln wollen. „Extremistisch“ sind heute diejenigen, die 25 Jahre nach dem verlorenen Kriege noch die Ostgebiete zurückverlangen und den anderen deutschen Staat nicht anerkennen wollen, die das Morden in Vietnam für richtig halten, die unseren zugrundegehenden Städten ein neues Bodenrecht verweigern usw. Extremistisch ist Franz Josef Strauß, der APO-Angehörige Tieren gleichstellt und sich für die südafrikanische Apartheidspolitik erwärmt. Extremistisdi ist Rainer Barzel, wenn er das Grundgesetz ändern will, weil es in seiner gegenwärtigen Gestalt – nach seiner wie nach unserer Meinung! – nicht verhindern will, „daß aktive Kommunisten unsere Kinder unterrichten“ („Die Welt“, 19. Januar 1971).

6) Da in unserem Staat zum größten Teil die öffentliche Hand Träger des Schulwesens ist, kommt Ausschluß oder Nicht-Einstellung als Lehrer einem generellen Berufsverbot gleich. Wir erinnern an die unersetzlichen Beiträge linker, auch kommunistischer Pädagogen für eine fortschrittliche Entwicklung des Schul- und Erziehungswesens in den zwanziger Jahren. In dieser Tradition stehen heute radikal-demokratische Lehrkräfte, deren Mitarbeit zur Bewältigung der anstehenden Bildungsaufgaben sich als fruchtbar erwiesen hat und unentbehrlich ist. Neue didaktische Methoden und veränderte Lehrinhalte mit dem Ziel, die Schüler zu selbständig denkenden und handelnden Staatsbürgern zu erziehen, sind gerade von ihnen erarbeitet worden. Sie sind es, die mit besonderem Nachdruck für Kinder aus unterprivilegierten Schichten eintreten. Diese vorwärtstreibenden, für das Hängen am Hergebrachten unbequemen Elemente mit ihrem Mut zur Kritik und ihrer schöpferischen Phantasie für die Zukunft werden es sein, die bei vielen Behörden „begründete Zweifel“ erregen werden an dem, was man dort – weil oft nur auf den Status quo gegenwärtiger Verhältnisse sehend – als Verfassungstreue versteht. Ihr Ausschluß aus der Schule wird die Rüdcständigkeit unseres Schulwesens befestigen.

Aus alledem ergibt sich: Nur scheinbar tragen Ihre Erklärungen und die folgenden Maßnahmen zum Schutze der freiheitlich-demokratisdien Grundordnung bei. In Wirklichkeit schaden sie einer besseren Venwirklichung dieser Grundordnung und fördern diejenigen Kräfte, die deren Rückentwicklung anstreben.

Wir fordern Sie deshalb auf, im Interesse unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu veranlassen, daß Ihre Erklärungen nicht praktiziert werden, sondern für objektive rechtsstaatliche Kriterien bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst Sorge zu tragen, die die Prinzipien und Intentionen des Grundgesetzes unangetastet lassen.

Für den ökumenischen Arbeitskreis Hendrik-Kraemer-Haus (1 Berlin 45, Limonenstraße 26):

gez. Herbert Beschorner
gez. Helmut Gollwitzer
gez. Elisabeth Reese

 

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