Mit rund einem Monat Abstand erscheint die mit den Silvester-2022-Krawallen aufwallende und medial befeuerte Aufregung um ebendiese mitsamt den üblichen Forderungen nach mehr „starkem Staat“, nach mehr und stärkeren „Sicherheitsbehörden“ übertrieben, ja mitunter hysterisch.
Es hat einige lang währende (und die öffentliche Meinung nachhaltig beeinflussende) Tage gedauert, bis es sich die Berichterstattung zögernd leistete, einen nüchternen Blick auf die präsentierten Zahlen und Schilderungen zu werfen.
So schrieben Wibke Becker und Oliver Georgie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntags-Zeitung am 8.1.2023 (Hervorhebungen durch uns):
„(…) Manche resignieren, wie Sohrab Taheri-Sohi sagt, Sprecher des Bayrischen Roten Kreuzes: „Viele Einsatzkräfte nehmen es mittlerweile schon als gegeben hin, dass sie beim Einsatz beleidigt oder sogar belästigt werden.“
Das ist das, was die Einsatzkräfte wahrnehmen. Daten sagen jedoch etwas anderes. Der Psychologe Mario Staller hat mit anderen Forschern Rettungskräfte im Rhein-Main-Gebiet über drei Jahre eine Art Einsatztagebuch führen lassen. Bei über 300.000 Einsätzen notierten sie knapp über zwanzig körperlich-gewalttätige Übergriffe. Jeder ist einer zu viel. Aber für eine weit verbreitete Verrohung sprechen die Daten nicht.
Nach einer Statistik des Bayrischen Roten Kreuzes, das im Freistaat 80 Prozent des gesamten Rettungsdienstes betreibt, meldeten Sanitäter im Jahr 2022 bei rund zwei Millionen Einsätzen nur 55 „Aggressionsereignisse“. Die Dunkelziffer, sagt Taheri-Sohi, liege aber sicher deutlich höher, weil viele kleine Vorfälle nicht gemeldet würden. (…)
Wahrnehmung und Forschung widersprechen sich also. Das gilt auch für die Gewalt gegenüber Polizisten. Das Bundeskriminalamt gibt zwar seit einigen Jahren eine Statistik heraus, aus der hervorzugehen scheint, dass es jedes Jahr schlimmer wird. Sie hat aber zwei entscheidende Mängel: Erstens werden Polizisten auch dann als Opfer gezählt, wenn sie selbst nicht verletzt wurden, zum Beispiel, weil schon der Versuch strafbar ist. Zweitens wird die Zahl der Straftaten nicht ins Verhältnis zur Zahl der Einsätze gesetzt. Man kann daraus eigentlich nur eines sinnvoll ableiten: Polizisten geben häufiger eine Anzeige auf, weil sie Gewalt erfahren. Was aber Gewalt genau ist, das bestimmt die subjektive Wahrnehmung des Polizisten. In etwa der Hälfte dieser Fälle im Jahr 2021 leisteten Bürger Widerstand. Ein Drittel waren tätliche Angriffe auf Polizisten, das kann etwa ein Stoß sein, ein Schubs oder schon eine zum Schlag erhobene Hand. Die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen sank dagegen in den vergangenen Jahren leicht.„
Dem möchten wir noch das Ergebnis von Presseanfragen von uns an die Berliner Polizei hinzufügen. Diese stand von Anfang an im Zentrum der medialen Berichterstattung zum Thema.
So wird die Berliner Polizei in einem der ersten Berichte der Tagesschau am Abend des 1.1.2023 wie folgt rezitiert:
„Die Polizei in der Hauptstadt berichtete von 18 verletzten Beamten. Die Intensität der Angriffe sei „mit den Vorjahren nicht zu vergleichen“ gewesen.“
Wir fragten die Polizei darauf hin, wie schwer und wie genau die Polizisten verletzt seien, woran die „Intensität der Angriffe“ im Detail bemessen wird und baten um Zahlenmaterial dazu von 2018-2022. Und erhielten folgendes zur Antwort:
Ersichtlich wird, dass die Zahl der (von der Polizei selber erfassten und gezählten!) verletzten Polizeimenschen in den zwei vorhergehenden Silvestern deutlich geringer war. Das war allerdings auch gar nicht anders zu erwarten, waren die Silvesterfeierlichkeiten aufgrund der Corona-Pandemie in diesen zwei Jahren doch streng beschränkt worden. Und die Zahl verletzter Polizist*innen der noch zwei weitere Jahre vorhergehenden Silvesternächte sehen nun nicht wirklich viel anders aus als die vom Silvester 2022. Lediglich die Zahl der „beschädigten Fahrzeuge“ ist signifikant höher als in allen vorher bezeichneten Jahren angegeben.
Doch wie bemisst/bewertet die Polizei die Frage, ob ein Fahrzeug „beschädigt“ worden ist oder nicht? Dafür gibt es unseres Wissens nach kein Regelwerk und keine Norm, die diesen Wert als verlässlichen Indikator für den Umfang von Krawallen erscheinen ließen.
Und dann noch das: Wir fragten weiter nach, wie sich denn diese Zahlen in den Jahren 2015 bis 2018 darstellten. Erst daraus ließe sich eine mögliche Tendenz ablesen, so unser Gedanke zu dieser Nachfrage. Doch diese Daten „können nicht mehr valide recherchiert werden“, so teilte uns die Polizei zur Antwort lapidar mit. Das lässt einen faden Beigeschmack zurück. Mindestens muss man dann aber attestieren, dass gar keine belastbare oder ernst zu nehmende Aussage zu Entwicklungstendenzen möglich ist.
Ach ja – und dann fragten wir ja noch, an welchen Kriterien/Vorgaben sich die Klassifizierungen und Bezeichnungen der von der Polizei aufgeführten Verletzungsarten orientieren würden. (Unsere vorhergehende Frage, wie viele der verletzten Polizisten amulant, wie viele stationär behandelt worden sind, wurde stillschweigend ignoriert.) Die Liste der Verletzungsarten „orientiere sich an den festgestellten Diagnosen“, so die Berliner Polizei uns gegenüber. Allgemeine „Schmerzen“ und „Unwohlsein“ als amtliche Diagnose?
Abschließend dann hier noch die Anmerkungen bzw. die Meinungsäußerung eines kritischen Polizisten zu dem gesamten Komplex:
„Es ist durchaus auch ohne die letzte Silvesternacht auffällig, wie in den Medien neuerdings immer mehr auch Sanitäter und Feuerwehrleute als überaus bedauernswerte und scheinbar massenhafte Opfer von Gewalt dargestellt werden.
Nun – fraglos gibt es immer wieder Angriffe und Gewalt auch gegen Rettungskräfte. Es ist allerdings auch zu registrieren, dass Bilder eben oftmals mehr sagen als tausend Worte. Und da will die hergebrachte und immer wieder aufs Neue bemühte Opfererzählung zur Polizei offenbar immer weniger zu den allgegenwärtigen Bildern von deren hoch gerüsteten und immer martialischeren Auftreten und Einschreiten passen. Vom grenzenlosen Alarmismus der Polizei, ihrem selektiven Polizieren (gern auch mit Gewaltmitteln) in sozial und / oder ethnisch segregierten Räumen / Stadtteilen und Milieus und daraus massenhaft resultierenden Erfahrungen von Betroffenen mit Racial-Profiling der Polizei gar nicht zu reden. Auch die immer neuen Vorwürfe und Verdachtslagen gegen die Polizei in Sachen Rassismus und Rechtsextremismus, die zwar gern als Einzelfälle abgewiegelt werden, aber doch einfach nicht vom Tisch zu bringen sind, machen die hergebrachte Opfererzählung nicht eben überzeugender.
Vor diesem Hintergrund müssen neuerdings offenbar vermehrt Rettungskräfte her, um politisch die immer gleichen Feindbilder bedienen und die immer gleichen Forderungen nach mehr Staat, schärferen Gesetzen und härterer Bestrafung erheben zu können. Und besonders absurd wird ein solchermaßen inszenierter Trubel, wenn er aus gegebenem Anlass ganz offensichtlich darauf abzielt, einem wohlfeilen Verbot von Silvesterfeuerwerk das Wort reden zu können – wie immer man persönlich zum Blödsinn, der Schädlichkeit und Gefährlichkeit der alljährlichen Knallerei auch stehen mag.
Im Nachgang zu den so genannten „Silvesterkrawallen“ zum letzten Jahreswechsel dürfen wir also einmal mehr der politisch/medialen Konstruktion von Niedergangsnarrativen beiwohnen. Mit den Märchenerzählungen von „Kleinen Paschas“ wird den Geschichten aus Tausend und einer Nacht mal eben eine weiteres Storytelling hinzugefügt. Diese Niedergangsnarrative konstruieren und bedienen schon immer diffuse Ängste vor Kriminalität, Drogengangs, Terrorismus oder sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum. Die Ethnisierung dieser Konfliktfelder und rassistische Zuschreibungen wirken dabei auf breiter Front als Bestätigung nicht nur für Rechtspopulisten.
Tatsächlich wäre die Antwort auf (sozialselektive) Segregation, faktisch unklare Bleibeperspektiven und (in weiten Teilen schon über das Asyl- und Ausländerrecht erzwungene) Arbeits- und Erwerbslosigkeit, mangelnde Bildungschancen und Perspektivlosigkeit vor allem ein Umdenken und mehr Engagement in der Sozial- und Bildungspolitik, bei Stadtentwicklung und sozialem Wohnungsbau. Notwendig wäre ein Gegensteuern zum Auseinanderdriften der Gesellschaft im Arm und Reich. Statt dessen schnüren die Vertreter des Volkes immer neu vergleichsweise billige Pakete zur Inneren Sicherheit mit denen mehr Polizist*innen mit mehr Befugnissen und mehr Waffen härter durchgreifen sollen. In der Praxis zeigt sich das dann als eine Form von Jagd auf junge Straftäter und Migranten, die genau die Kriminalität produziert, die dem Narrativ immer neu Nahrung verschafft. Überzogene Polizeieinsätze und Kriminalisierung der Abgehängten leisten aber keinen Beitrag zum sozialen Frieden, sie erzeugen Außenseiter, Randständigkeit und Radikalisierung.“