Gestern (am 5.2.2019) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zwei Urteile zu den Grenzen der Zulässigkeit polizeilichen KFZ-Kennzeichen-Scannings veröffentlicht. Daran anknüpfend entbrennt in Niedersachsen nun eine Diskussion um das jüngst erst aktiv geschaltete Pilotprojekt der Geschwindigkeits-Abschnittskontrolle („Section Control“).
Die Landesdatenschutzbeauftragte Niedersachens (LfD) fordert in einer Pressemitteilung von heute (am 6.2.2019) den sofortigen Stop des Section-Control-Pilotversuchs, begründet diese Haltung allerdings lediglich mit dem derzeitigen Fehlen einer expliziten Rechtsgrundlage, die mit dem geplanten Umbau des niedersächsischen Polizeigesetzes („NPOG“) gegeben wäre. Grundsätzlichere persönlichkeitsrechtliche Zweifel traut man sich im LfD nicht als Argument vorzubringen, selbst wenn sogar das Bundesverfassungsgericht an diesem Topf rührt, wenn es in den frischen Urteilen u.a. schreibt:
Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden, hinsichtlich ihrer Rechtschaffenheit Rechenschaft ablegen zu müssen und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein.
Oder auch:
Gerade bei Ermittlungsmaßnahmen mit großer Streubreite wie hier der im öffentlichen Raum stattfindenden seriellen Kontrolle von Personen in großer Zahl zu Fahndungszwecken kann dadurch ein Gefühl des Überwachtwerdens entstehen. Dass die von der Kennzeichenkontrolle erfassten Personen dies außerhalb des Trefferfalls nicht bemerken, hebt das hierin liegende Eingriffsgewicht nicht auf. Denn dadurch entfällt zwar die Lästigkeit solcher Maßnahmen, nicht aber ihr Kontrollcharakter und die darin liegende Beeinträchtigung der individuellen Freiheit, die zugleich die Freiheitlichkeit der Gesellschaft insgesamt betrifft.
Die niedersächsische parlamantarische Opposition (derzeit bestehend aus den Bündnis90/Grünen und der FDP) ist – erwartungsgemäß – erfreut über den Karlsruher Richterspruch und hat ganz plötzlich – und ganz anders als in den Anhörungen zum NPOG zu vernehmen war! – ganz große grundrechtliche Bedenken gegen den Section-Control-Pilot.
Beispielhaft für diesen parteipolitischen Opportunismus (oder ist es gar Populismus?) hier ein Auszug aus einem HAZ-Beitrag vom 6.2.2019 zur Debatte:
Auch Abgeordnete des niedersächsischen Landtages beurteilen den Beschluss der Verfassungsrichter wie die Landesdatenschützer. Belit Onay, der innenpolitische Sprecher der Grünen im Landtag hält das Urteil für einen weiteren Rückschlag für die Große Koalition – auch in Bezug auf das in Niedersachsen geplante Polizeigesetz. „Das Gericht zeigt klare Grenzen für die unverhältnismäßigen Massenüberwachungen auf, mit der SPD und CDU immer wieder liebäugeln“, sagt Onay.
Worin ergründet sich nun der harte Opportunismus/Populismus-Vorwurf?
Dazu im folgenden der inhaltliche Vergleich des (letztendlich aus ganz anderen Gründen nicht umgesetzten) Polizeigesetz-Entwurfs der vorherigen rot-grüne Landesregierung zur Section-Control mit dem aktuellen NPOG-Entwurf der derzeitigen großen Koalition Niedersachsens aus SPD und CDU.
LT-DS 17-6232 vom 3.8.2016 (rot-grüne Landesregierung):
(6) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei dürfen im öffentlichen Verkehrsraum zur Überwachung der Geschwindigkeit von Kraftfahrzeugen durch eine Abschnittskontrolle technische Mittel offen einsetzen, um auf einer festgelegten Wegstrecke die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Kraftfahrzeugs zu ermitteln. Dabei dürfen mit dem technischen Mittel das Kraftfahrzeugkennzeichen, das Kraftfahrzeug und seine Fahrtrichtung sowie Zeit und Ort erfasst werden. Eine Erkennbarkeit von Fahrzeuginsassen ist technisch auszuschließen.
Die nach Satz 2 erfassten Daten dürfen für die Feststellung der Durchschnittsgeschwindigkeit eines Kraftfahrzeugs gespeichert, verändert oder genutzt werden.
Bei Kraftfahrzeugen, bei denen nach Feststellung der Durchschnittsgeschwindigkeit keine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vorliegt, sind die nach Satz 2 erhobenen Daten unverzüglich automatisch zu löschen. Bei Kraftfahrzeugen, bei denen eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit festgestellt wird, dürfen die Daten zum Zweck der Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten gespeichert, verändert, genutzt und übermittelt werden. Die Verwendung des technischen Mittels ist kenntlich zu machen.
LT-DS 18-850 vom 8.5.2018 (rot-schwarze Landesregierung):
(8) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei dürfen im öffentlichen Verkehrsraum zur Überwachung der Geschwindigkeit von Kraftfahrzeugen durch eine Abschnittskontrolle technische Mittel offen einsetzen, um auf einer festgelegten Wegstrecke die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Kraftfahrzeugs zu ermitteln. Dabei dürfen mit dem technischen Mittel das Kraftfahrzeugkennzeichen, das Kraftfahrzeug und seine Fahrtrichtung sowie Zeit und Ort erfasst werden. Eine Erkennbarkeit von Fahrzeuginsassen ist auszuschließen.
Bei Kraftfahrzeugen, bei denen nach Feststellung der Durchschnittsgeschwindigkeit keine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vorliegt, sind die nach Satz 2 erhobenen Daten unverzüglich automatisch zu löschen. Bei Kraftfahrzeugen, bei denen eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit festgestellt wird, dürfen die Daten zum Zweck der Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten gespeichert, verändert, genutzt und übermittelt werden. Die Verwendung des technischen Mittels ist kenntlich zu machen.
Bis auf einen zusätzlichen, aber inhaltlich nicht viel ändernden Satz der „alten“ rot-grünen Fassung handelt es sich um die wortgleiche Rechtsgrundlage für Section-Control-Erfassungsmaßnahmen:
Das, was „die“ Grünen also noch vor zwei Jahren selber unterstützt haben und zum Gesetz machen wollten ist nun eine „unverhältnismäßige Massenüberwachung, mit der SPD und CDU liebäugeln.“
Die oben zitierte Kritik der jetzt in der Opposition befindlichen „Grünen“ ist insofern nicht nachzuvollziehen oder nicht wirkt zumindest nicht besonders authentisch.