Mit Sicherheit gegen die Freiheit

Ein Gastbeitrag.

Bild „Castor 2011 – Monte Göhrde“ von Libertinus unter Creative Commons Lizenz CC-BY-SA 3.0

In Niedersachsen klopfen sich nach der Landtagswahl nun Rot und Schwarz geradezu freundschaftlich auf die Schultern, um sich ihrer Fähigkeit zur gemeinsamen Übernahme der Regierungsverantwortung zu versichern. Und dieser schöne Konsens kommt gar nicht von ungefähr. Vor allem im aktuell allseits beliebten Politikfeld der Inneren Sicherheit findet hier gerade zusammen, was offenbar zusammen gehört. Nicht erst in Wahlkampfzeiten (wobei Konturen im Sinne von Anfang und Ende im gegenwärtigen politischen Geschehen kaum mehr auszumachen sind) reklamierten Rote wie Schwarze in der selbst gewählten Rolle des Hardliners ihre jeweilige Deutungshoheit in Fragen der Inneren Sicherheit mit Forderungen nach immer noch mehr vom Selben. Über die Fortsetzung der personellen und materiellen Aufrüstung der Polizei und eine noch weiter reichende Verschärfung ihrer Eingriffsinstrumentarien besteht schon grundsätzlich Einigkeit und über Marginalien, wie die Frage, ob es für ein sicheres Leben in Niedersachsen nun erneut nur tausend oder vielleicht doch besser dreitausend neue PolizistInnen braucht, wird man sich sicher einig.

Ein kritischer Blick auf Zahlen und Fakten stört da nur. Von einer marginalisierten Opposition im Parlament ist in künftigen GroKo-Zeiten wohl auch kaum wirksamer Widerspruch zu erwarten, zumal auch bei Jamaika im Bund die Protagonisten der betreffenden Farbpalette in vergleichsweise großer Einigkeit einem dringenden Bedarf an mehr Polizei und einer Ausweitung der Videoüberwachung fleißig das Wort reden. Umso mehr gilt es, aus der Zivilgesellschaft die Stimme zum Protest zu erheben, den Finger aus kritischem Blickwinkel immer wieder neu in die Wunde zu legen und gegen „das krakenhafte Anwachsen der kontrollierenden Staatsmacht und das gleichzeitige Verschwinden des intimen Raums“ (Javier Marias) zu opponieren.

Hier ein Beispiel für konkrete Anknüpfungspunkte im kritischen Diskurs:

Im Jahr 2016 erfolgten nach jüngst veröffentlichten Statistikdaten bundesweit 737.873 Verurteilungen von Straftätern durch Gerichte. Das ist ein Minus von 0,2 % gegenüber 2015. Seit zehn Jahren sind Verurteilungen allerdings deutlich stärker rückläufig. In 2007 gab es noch rund 900.000 rechtskräftige Verurteilungen. Am weitaus häufigsten resultierten 2016 aus Verurteilungen in 568.314 Fällen wieder einmal Geldstrafen. Zu einer Freiheitsstrafe wurden 107.831 Erwachsene verurteilt. In 61.728 Fällen wurde Jugendstrafrecht angewendet. In diesen Jugendstrafverfahren erhielten 10.033 Verurteilte eine Jugendstrafe, in allen anderen Fällen haben die Gerichte entwicklungsunterstützende Auflagen ausgesprochen.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) registrierte hingegen 2016 rund 6,3 Millionen Straftaten, von denen der Polizei etwas mehr als 55% als aufgeklärt gelten. Das sind in Summe rund 3,5 Millionen so genannte aufgeklärte Straftaten, zu denen die Polizei nach ihrer Zählweise rund 2,36 Mio. Tatverdächtige ermittelt haben will. Rund 1,8 Mio. davon waren Erwachsene. Dabei ist vergleichbar zur Entwicklung der Verurteilungen über längere Betrachtungszeiträume auch die nach den Zahlen der PKS von der Polizei registrierte und in großen Teilen anhand ihrer so genannten Schwerpunktbildungen selbst hergestellte Kriminalität tatsächlich ebenfalls rückläufig. Zur Erläuterung: Das Herstellen von Kriminalität betreibt die Polizei vor allem in der so genannten Bekämpfung der Drogenkriminalität, die sich tatsächlich anhand der PKS vor allem als massenhafte Verfolgung von Kiffern erweist.

Obwohl die Verurteilungszahlen zu denen der Arbeitsstatistik der Polizei und den nach PKS-Verlautbarung ermittelten Tatverdächtigen nicht unmittelbar vergleichbar sind, besteht doch ein Zusammenhang, der vor allem über längere Betrachtungszeiträume hinweg einen gravierenden Dissenz zwischen polizeilicher Verdachtsschöpfung / Kriminalisierung und am Ende tatsächlich folgenden Verurteilungen aufzeigt. Für eine vergleichende Betrachtung ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Verurteilungen der Gerichte sich zu einem Anteil von rund einem Fünftel auf Verkehrsdelikte beziehen, die in der PKS gar nicht registriert werden. Das in Abzug gebracht, wird offenbar nur rund jeder Dritte von der Polizei einer Kriminalstraftat bezichtigte Tatverdächtige im folgenden Gerichtsverfahren tatsächlich verurteilt. Dabei hat gar nur jeder Zwanzigste eine derart schwerwiegende Straftat begangen, dass dem eine Verurteilung zu einer Haftstrafe folgt. Wobei der Zusammenhang von Schwere der Tat und Haftstrafe tatsächlich nur sehr bedingt gegeben ist, wie etwa die nicht geringe Anzahl in Haft geratender Schwarzfahrer und Ladendiebe belegt – aber das sei hier nur am Rande bemerkt.

Das krasse Missverhältnis von polizeilichen Aktivitäten (denn die PKS ist ihrer Anlage nach vor allem eine Arbeitsstatistik der Polizei) zur tatsächlichen Verurteilung letztlich bewiesenen strafbaren Verhaltens sollte doch kritisch die Frage aufwerfen, wofür es denn immer noch mehr Polizei braucht, die mit dem Mittel des Strafrechts die Kriminalisierung der Bevölkerung voran treibt, ohne dass dies einer Überprüfung durch unabhängige Gerichte am anderen Ende des Verfahrenslaufs in einem noch nachvollziehbaren Umfang standhält. Und an den Gesetzgeber, also vor allem an die in Bund und Land gerade neu gewählten Parlamente stellt sich die Frage, welchen Sinn ein immer weiter ausuferndes Strafrecht macht, das in großen Umfängen der Kriminalisierung von Schwarzfahrern, Kiffern, Ladendieben oder gern auch Protestierenden durch die Polizei immer weiter Vorschub leistet. Ein nach wie vor besonders erschreckendes Beispiel eines ausufernden Strafrechts ist die noch kurz vor Ende der letzten Legislaturperiode gegen den fachlichen Rat von Strafrechtsprofessoren und Richtern verabschiedete Sonderstrafnorm (§ 114 StGB) zum vermeintlich besseren Schutz von PolizistInnen vor tätlichen Angriffen – eine Norm die der Polizei nun vor allem in Kontexten von Respektverweigerung, zivilem Ungehorsam und gelebter Protestkultur zur weiteren Ausweitung ihrer Kriminalisierung dient.

Dass es hier immer auch gegen eine unliebsame Protestkultur und die legitime Wahrnehmung des Demonstrationsrechts geht, zeigt sich in einem besonders krassen Beispiel in der jüngst durch den noch amtierenden Bundesinnenminister verfügten Erweiterung der Anlage zum PKK-Vereinsverbot. Danach stellt plötzlich u.a. das öffentliche Zeigen von Abbildungen des in der Türkei inhaftierten Abdullah Öcalan eine Werbung für die in der Bundesrepublik verbotene Vereinigung und mithin eine Straftat nach dem Vereinsgesetz dar. Die wird von der Polizei wie üblich mit besonderem Nachdruck verfolgt, was gerade in der aktuellen Situation kurdischer Proteste gegen die Entwicklung in der Türkei und in der emotionalen Sorge der Protestierenden um den Gesundheitszustand des Inhaftierten nur mit entsprechend großen Polizeiaufgeboten durchgesetzt werden kann. Es braucht also nicht einmal den Gesetzgeber, um neue Möglichkeiten der Kriminalisierung zu eröffnen und diese alsbald als Forderung an den wehrhaften Rechtsstaat umzudeuten, der gegeben Bedrohung der Inneren Sicherheit durch derartige Rechtsverstösse nun endlich mit Nachdruck und womöglich noch stärkeren Polizeieinsätzen und Polizeigewalt zu begegnen.

Ähnliches findet sich beim Thema Sport und Sicherheit im Vorgehen gegen vermeintlich ausufernde Gewalt im Fußball und in vielen anderen ähnlich gelagerten Zusammenhängen.

Historisch ist die bewährte Methodik der Polizei gerade in Niedersachsen über die Kriminalisierung des Widerstands gegen die Atomkraft im Wendland besonders eindrücklich belegt. Im Lichte einer vermeintlich ausufernden Gefährdungslage für die Innere Sicherheit kriminalisiert die Polizei legitimen Protest oder was auch immer, produziert Fallzahlen und ermittelte Tatverdächtige in der PKS und reklamiert daraus quasi nebenher den Bedarf für immer noch mehr Polizei.

Für Anthony de Jasay ist angesichts dieser Entwicklung „der Liberalismus als politische Kraft längst verschwunden. Geblieben ist die feiste Grimasse des Staates“.

Und mit Blick auf die Folgen der von Politik und Medien mit großem Nachdruck gepflegten Terrorängste hat Zygmund Baumann in dem Geschehen vor allem „ein Geschenk für Regierungen auf ihrer Suche nach Legitimität“ erkannt.

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