Neue oder semantisch neu belegte Begriffe kennzeichnen den gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre und Jahrzehnte. Deren Verbreitung und Implantation im allgemeinen Sprachgebrauch (u.a. mit Hilfe des Mittels der ständigen Wiederholung) können gesellschaftliche Fundamente schleichend verändern.
Zwei ältere Beispiele, ohne diese jedoch in der Tiefe hier zu beleuchten:
Der im Zusammenhang mit der Diskussion der Vorratsdatenspeicherung eingeführte und die damit verbundenen Voraussetzungen verschleiernde Begriff der „Schutzlücke“ (Bosbach, Schäuble, de Maizière) feierte nicht nur sehr schnell (2008) beim Bundesverfassungsgericht seinen Einzug, auch die „Grünen“ nutzen diesen Begriff inzwischen völlig unreflektiert.
Um eine Begriffsumdeutung handelt es sich dagegen bei der „Leitplanke“, die als Sinnbild für politische „Gestaltung“ durch die damals als Bundesfamilienministerin agierende Frau von der Leyen eingeführt und von ihr später in anderer Funktion immer wieder repetiert worden ist. Auch die „Leitplanke“ ist inzwischen von vielen Berichterstattern gedankenlos übernommen worden und findet sich in aktuellen Debatten als beliebtes (Un)Sinnbild wieder.
Seit Anfang dieses Jahres 2017 erfährt ein weiterer Begriff die Aufmerksamkeit politischer Kampagnenlenker: Der „starke Staat“.
Den Aufschlag machte der derzeitige Bundesinnenminister Thomas de Maizière in einem nach dem Neujahrstag veröffentlichten „Exklusiv-Interview“ mit einer Tageszeitung – diesen Beitrag – der viel eher eine politische Pressemitteilung denn Interview ist! – veröffentlichte das Bundesinnenministerium (BMI) am darauf folgenden Tag selber auf der eigenen Internetpräsenz.
Unhinterfragt soll hier bleiben, warum dieser und auch andere Minister und Parteipolitiker in letzter Zeit und in zunehmenden Maße Zeitungen (sehr gerne auch am Sonntag erscheinende Boulevard-Blätter) dazu benutzen, um wichtige politische Richtungsentscheidungen zu verkünden.
Der Bundesinnenminister überschrieb seine Proklamation mit „Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten“, forderte darin mehr Macht für sein Ministerium und die ihm unterstellten Polizei- und Geheimdienstbehörden u.a. mittels Rückbau der föderalistischen Gewalten-Verteilung. Nebenbei führte der Minister zudem noch (u.a.) den euphemistischen Begriff des „Bundesausreisezentrums“ für neue, spezielle Gefängnisse ein, die Abschiebungen unter Ausschaltung der Öffentlichkeit und ohne störende Demonstrationen ermöglichen sollen.
Erst einige Wochen zuvor hatte der aus vielerlei Gründen in der Kritik stehende Vorsitzende der mitunter rassistisch erscheinenden Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) ein Buch mit dem reißerischen Titel „Deutschland in Gefahr – Wie ein schwacher Staat unsere Sicherheit aufs Spiel setzt“ veröffentlicht. Eine lesenswerte Kritik zu Wendts gehässigem Machwerk und den darin verbreiteten Platitüden und einfachen Gewissheiten findet sich hier.
Und dann beschloss die „christliche“ Demokratische Union (CDU) auf ihrer jüngsten Klausurtagung am 14.1.2017 auch noch ein Leitpapier unter dem Titel „Für Freiheit und Sicherheit durch einen starken Staat“, den Sie mit folgender Einleitung beginnt:
„Jeder Mensch hat ein Recht auf Sicherheit. Nur wer sicher ist, kann in Freiheit leben. Deshalb ist es die oberste Pflicht unseres Staates, die Menschen in Deutschland zu schützen und Sicherheit in Freiheit zu gewährleisten. In diesen Zeiten großer Herausforderungen tun wir alles Menschenmögliche dafür, dass unser Staat ein starker Staat ist.“
Dieser Absatz verdient eine genauere Betrachtung:
Mit dem ersten Satz darin versucht die CDU erneut ein „Supergrundrecht auf Sicherheit“ zu etablieren, das es gar nicht gibt. Das Fundament aller folgenden Aussagen und Forderungen bröckelt also.
Dass „nur wer sicher ist, in Freiheit leben kann“ hört sich gut an, enthäutet sich bei genauer Überlegung und Betrachtung der blumigen wie schwammingen Ausdrucksweise als sinnlose Floskel.
Im Grundgesetz ist nicht auffindbar, dass es die „oberste Pflicht des Staates ist, die Menschen in Deutschland zu schützen“. Vielmehr steht die Würde des einzelnen Menschen an erster Stelle und die steht für viel mehr als nur für „Sicherheit“ – ein Begriff, dessen Bedeutung hier ebenso platitüdenhaft verwendet wird wie unklar erscheint. Was ist das überhaupt, „die Sicherheit“? Geht es um eine 100%ige Sicherheit, die „totale Sicherheit“ oder was? Wie bekommt man sie und um welchen Preis? Und überhaupt: Warum verwenden die Verfasser so überaus schwülstige Phrasen wie „oberste Pflicht“, die an Texte aus brauner Vergangenheit zu erinnern vermögen?
Es soll – nach Ansicht der verantwortlichen CDU-Politiker – die „Sicherheit in Freiheit“ gewährleistet werden. Aber was ist denn das, die „Sicherheit in Freiheit“? Auch das nur eine Floskel, wenn der Begriff nicht gar eine weitere Deklination des „Sicherheits-Supergrundrechts“ sein soll.
Dann folgt wieder eine schwülstige Wortwahl mit „in diesen Zeiten großer Herausforderungen“ und „dem Tun alles Menschenmöglichen“. Die CDU erweckt damit den falschen Eindruck, als stünde dieses Land, diese Gesellschaft mit allen Menschen darin unter einem Ausnahmezustand, die CDU schürt Angst. Der Anschlag von Berlin und alle anderen terroristischen Bedrohungen waren und sind schlimm. Aber sind durschnittlich 10 Verkehrstote pro Tag weniger schlimm? (Von den vielen Schwerverletzten und Langzeitleidenden durch Unfälle „dank“ des Automobils ganz abgesehen.) Was ist mit den rund 28 Selbst-Ermordungen in Deutschland an jedem Tag? Wo bleibt das CDU-Leitpapier ähnlicher Vehemenz und Emotionalität, das eine strikte und dringliche Abkehr von ungesundem Tabak-, Alkohol- und Fleischkonsum verlangt und dafür die Grundrechte der Menschen einzuschränken versucht (oder vielleicht sogar stattdessen wirksame Mittel anwendet)?
Der Absatz schließt mit dem Ausdruck der starken Sehnsucht nach einem starken Staat.
Doch was ist das eigentlich, ein „starker Staat“?
Was Wikipedia dazu zusammenfassend schreibt:
„Ein starker Staat ist ein Staatsmodell, das je nach politischem Ziel und Inhalt sehr unterschiedlich konzipiert sein kann. Eine allgemeine Abgrenzung des Begriffs zum Modell des „totalen Staates“ ist nicht möglich. Unter einem kritischen Vorzeichen wird der Begriff zum Teil auch synonym mit Obrigkeitsstaat verwendet. Ideengeschichtlich ist die Idee auf die theoretische Fundierung der Vertretung der besitzbürgerlichen Interessen durch Jean Bodin sowie die politische Philosophie von Thomas Hobbes und dessen pessimistische Anthropologie zurückzuführen. Der engere Bedeutungsgehalt des Begriffs erschließt sich aus den jeweiligen beschreibenden, analytischen und kritischen Charakterisierungen von einzelnen Autoren. Bezogen auf Staatsoberhäupter, Regierungen oder Bevölkerungen wurde ein Staat dann als „stark“ charakterisiert, wenn er souverän, autoritär,[zentralistisch oder auch einheitlich organisiert ist.“
Während einige Zeitgenossen die Entwicklung hin zu einem „autoritären Staat“ zu erkennen meinen, weisen andere Teile der derzeit kursierenden Forderungen konservativer und populistischer Parteien auf den weiteren Ausbau des so genannten Präventionsstaates hin.
Der Jurist und Journalist Heribert Prantl schrieb in seinem 2008 erschienen Buch „Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Angst Politik macht“:
„Je weiter eine konkrete Tat entfernt ist, umso mehr ist dem Staat erlaubt, um sie zu verhindern: Das ist die Grundregel der neuen Prävention. (…) Der neue Präventions- und Sicherheitsstaat banalisiert die Grundrechte. Er zehrt von den Garantien des Rechtsstaats; er entsteht, indem er sie verbraucht. Das ist, weltweit, das Grundproblem der derzeitigen Politik der inneren Sicherheit: Der Präventionsstaat muss, das liegt in seiner Logik, dem Bürger immer mehr Freiheit nehmen, um ihm dafür Sicherheit zu geben. (…) Der Bürger wird zunehmend vom demokratischen Souverän zum unmündigen Schützling staatlicher Sicherheitsorgane und zugleich zu einem potentiellen Verdächtigen, zu einem möglichen Feind. Ein Staat, der ständig sein Recht verkürzt und in dem Grundrechte der Bürger nur noch dem Grunde nach zustehen, ist nicht stark, sondern schwach.“
Es scheint, als vergesse man in Berlin (und das nicht nur bei der CDU oder CSU!), dass „der Staat“ nichts anderes als die Organisationsform einer Gesellschaft, also einer Gruppe von Menschen ist, die vom Zweck her der Entfaltung der einzelnen Menschen und (danach!) der Entwicklung der Gesellschaft dienen soll. Ohne den Souverän (den Menschen als Bürger) ist der Staat nichts.
Wie ausgerechnet ein entfesselter und enthemmter, von Hysterie und Willkür getriebener Staat durch „Sicherheit“ „Freiheit“ garantieren soll, bleibt unklar – bieten doch gerade seine Sicherheitsbehörden, insbesondere Geheimdienste, deren besondere Bedeutung bei dieser Aufgabe immer wieder lobend hervorgehoben wird, ein eher trauriges Bild „sicherheitsstaatlichen“ Handelns und seiner Folgen. Mag die Sinnhaftigkeit ihres Handelns noch so unklar sein, mögen sie jeglichen Aufklärungsversuchen (siehe NSU-Gerichtsverfahren und -Untersuchungsausschüsse) mit Verschleierung und dreisten Lügen begegnen – der positive Nettobeitrag dieser von gesetzlichen Schranken schon heute weitgehend freigestellten Behörden zur „Sicherheit“ steht nicht in Frage. Stattdessen soll die gesamte Gesellschaft einem immer weiter hochgerüsteten Apparat untergeordnen werden. Mit der absurden und verlogenen Behauptung, ihre „Freiheit“ schützen zu wollen, indem man sie – Frankreich macht es vor – abschafft.
Hinter dem „starken Staat“ verbirgt sich bei Betrachtung der Vorschläge der Union ein beschleunigter Rechtsstaatsabbau, der den Staat ganz sicher autoritärer macht, aber nicht unbedingt seiner moralischen Stärke dienlich ist. Diese bezieht der Staat nämlich nicht aus einer einseitigen Stärkung der Exekutivgewalt, sondern vielmehr aus funktionierenden und fairen Institutionen, deren Handeln nicht auf Launen und Willkür beruht – etwas, das doch an vielen Punkten stark verbesserungswürdig wäre. Die Forderungskataloge autoritärer Scharfmacher können somit eher als eine Schwächung des Staates in seiner Integrität und Legitimität verstanden werden.
Nicht gerade von einer sachlichen Überlegung zeugt der Anlass, der kontextuell als „Begründung“ und Aufhänger für die neuerlichen rechtspopulistisch angehauchten Beschlüsse der CDU dient: der Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin. Eine Sache, die jenseits der Terrorhysterie schon aus der Ferne als ein Versagen offenkundig wohlinformierter Behörden und nicht etwa als ein Zuwenig an nebulöser „Sicherheit“ zu erkennen ist.
Zusammengefasst:
Wer einen „starken Staat“ wünscht, verlangt zugleich einen „schwachen Bürger“ oder erklärt oder versteht die Bürger, die Menschen innerhalb in einer Gesellschaft als schwache und hilflose Objekte staatlichen Handelns – Objekte zweiten Ranges.
Das ist der starke Ausdruck einer menschenunwürdigen, bevormundenden und undemokratischen Haltung!