Abgeglichen: Berliner Koalitionsvertrag versus der NGO-8-Punkte-Forderungen

berlinerbaer-im-blick02Zu Beginn der rot-rot-grünen Koalitionsverhandlungen für Berlin haben wir zusammen mit anderen Gruppen an die Verhandelnden acht Forderungen für ein menschen- und bürgerrechtsfreundlicheres Berlin geworben.

Nun haben sich SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor wenigen Tagen auf einen gemeinsamen Koalitionsvertrag einigen können.

Nachfolgend gleichen wir die Aussagen (oder auch das Fehlen von Aussagen) aus dem Berliner Koalitionsvertrag mit denen unseren Kernforderungen ab. Wenn auch der neue Koalitionsvertrag eine gänzliche andere Grundeinstellung zu Menschen- und Bürgerrechten ausstrahlt – insgesamt ergibt sich bei genauem Hinsehen ein deutlich ernüchternderes Ergebnis als das, was manche Bürgerrechts- und Datenschutzgruppen in erster Reaktion mit Begeisterung oder Wohlwollen kommentiert haben.

Zu berücksichtigen bleibt bei allem: Koalitionspolitik und Inhalt des Koalitionsvertrags sind zwei Paar Schuhe. Es bleibt abzuwarten und aufmerksam zu beobachten, wie sich die tatsächliche Politik der Stadt Berlin entwickelt.

Hinweis: Die folgenden Kurzüberschriften der acht Punkte sind z.T. verengte Zusammenfassungen unserer Forderungen – für die ausführlichen Forderungen samt Begründungen siehe das von sieben Bürger- und Menschenrechtsgruppen unterzeichnete Forderungspapier im Ganzen:

 

1

 

Forderung: Abschaffung der polizeilichen Demonstrations-Anmelder-Datenbank

Aus dem Koalitionsvertrag auf Seite 208 dazu:

„Die Koalition wird die Veranstaltungsdatenbank durch die Datenschutzbeauftragte überprüfen lassen.“

neutralminusBewertung:

Die Berliner Datenschutzbehörde hat die Situation bislang unter Vernachlässigung von Persönlichkeits- und Versammlungsgrundrechten betrachtet und wird – mutmasslicherweise – auch zukünftig nicht für ein Verbot der „VDB“ sorgen. Die Koalition schiebt die politische Verantwortung auf andere ab, zeigt keinen klaren Willen, die VDB endlich abzuschaffen.

2

 

Forderung: Einstellung von Funkzellenabfragen, zumindest Einführung einer Benachrichtigung aller davon Betroffenen

Aus dem Koalitonsvertrag auf den Seiten 208/209 dazu:

„Die Koalition stellt sicher, dass die Funkzellenabfrage sowie die stille SMS nur gesetzeskonform angewandt wird. (…) Die Koalition will ein SMS-Informationsmodul zur Benachrichtigung von Betroffenen des von öffentlichen Funkzellenabfragen Dienstes nicht von realisieren.“

plusneutralBewertung:

Dass Überwachungsbefugnisse nur gesetzeskonform eingesetzt werden halten wir für eine Selbstverständlichkeit. Der erste Satz ist also nicht viel mehr als eine Phrase. Der zweite Satz spricht von dem „Willen“, die gesetzlich verankerte Benachrichtigungspflicht umzusetzen. Diesen Willen hat die vorherige SPD-CDU-Landesregierung auch schon ausgedrückt, ohne dass diese Absicht realisiert worden wäre. Besser wäre es gewesen, im Koalitionsvertrag davon zu sprechen, dass man diese Benachrichtigung durchsetzen „wird“. Das hätte Klarheit geschaffen.

3

 

Forderung: Anlaßlose Videoüberwachung von Demonstrationen einstellen, kein weiteres Länder-Spezial-Versammlungsgesetz installieren

Aus dem Koalitionsvertrag dazu auf Seite 208 dazu:

„Die Koalition stellt Versammlungsteilnehmer*innen nicht unter Generalverdacht. Daher setzt sie sich für eine restriktive Handhabung beim Filmen von Versammlungen ein. Sie wird ein Berliner Versammlungsgesetz erlassen, das grundrechtsbezogenes Versammlungsrecht dienen kann.“

neutralminusBewertung:

Die ersten beiden Sätze wirken auf den ersten Blick hoffnungsfroh. Solange sie nicht dazu führen, dass die unter dem CDU-Innensenator Henkel eingeführte und von der SPD massiv unterstützte Gesetzgebung zum anlaßlosen polizeilichen Filmen von Demonstrationen aufgehoben wird – und davon ist im Koalitionsvertrag nicht die Rede – solange sind diese beiden Sätze aber aus unserer Sicht ebenfalls nur als Phrase zu bewerten. Dass man nun auch in Berlin ein eigenes Versammlungsgesetz installieren will, ist dagegen eine schlechte Nachricht. Die Erfahrungen aus anderen Bundesländern belegen eindeutig, dass diese neben der bundesweiten Versammlungsgesetzzersplitterung insgesamt zu menschenrechtlichen Verschlechterungen bezüglich der Versammlungspraxis führen.

4

 

Forderung: Ausstieg aus dem Taser-Elektroschocker-für-Streifenpolizisten-Pilotprojekt

Dazu findet sich im Koalitionsvertrag kein einziges Wort.

minusBewertung:minus

Das bedeutet faktisch, dass man das Pilotprojekt fortführen wird.

5

 

Forderung: Ende der Ausweisung von Gefahrengebieten, mindestens aber Aussetzung vor Durchführung und Bewertung einer Evaluation der Maßnahme

Aus dem Koaltionsvertrag dazu auf Seite 200:

„Die Koalition wird die kriminalbelasteten Orte nach § 21 Abs. 2 ASOG veröffentlichen und die maximale Dauer des Unterbindungsgewahrsams auf 48 Stunden begrenzen.“

neutralminusBewertung:

Das ist viel besser als gar nichts, aber leider keine ernstgemeinte Abkehr von der Politik der faktischen Aussetzung wichtiger Menschenrechte in einigen Gebieten Berlins, von denen die Polizei nach recht eigen(artig)er (um nicht von willkürlicher zu sprechen) Bewertung ist, dass es sich um besonders gefährliche Orte handelt. Die Reduzierung der „Unterbindungsgewahrsamsdauer“ ist gut, aber ändert nichts am grundsätzlichen Problem, dass eine solche Gefangennahme überhaupt zulässig sein soll.

6

 

Forderung: Keine Installation stationärer polizeilicher Kameras zur Überwachung des öffentlichen Raums

Dazu findet sich im Koalitionsvertrag kein einziges Wort.

minusBewertung:minus

Das bedeutet faktisch, dass sich die rot-rot-grüne Koalition dazu nicht festlegen möchte. Eine Absage an dieses Vorhaben hätte man ansonsten im Vertragsentwurf dokumentieren können.

7

 

Forderung: Einrichtung einer unabhängigen Polizei-Beschwerdestelle

Aus dem Koalitionsvertrag dazu auf den Seiten 199-200:

„Zur Stärkung der Bürgerrechte und der Akzeptanz polizeilichen Handelns wird die Koalition das Amt einer oder eines Bürgerbeauftragten des Landes Berlin und Beauftragten für die Landespolizei nach dem Vorbild von Rheinland-Pfalz einrichten. Die oder der Beauftragte für die Berliner Polizei ist auch Ansprechpartnerin oder -partner für Polizeibedienstete. Für eine effektive Aufgabenerfüllung wird die Koalition die oder den Beauftragten mit den nötigen Befugnissen, u.a. umfassenden gesetzlichen Einsichtsrechten sowie dem erforderlichen Personal ausstatten. Im Zuge der Einführung der oder des Bürgerbeauftragten wird das Petitionsrecht angepasst.“

plusBewertung:plus

Eine gute Nachricht. Die praktische Umsetzung und Ausgestaltung der Rechte und Möglichkeiten der/des Bürgerbeauftragten gehört dennoch aufmerksam begleitet.

8

 

Forderung: Beendigung des Polizeispitzeleinsatz („V-Leute“), keine „Informations- und Bildungsarbeit“ mehr durch Geheimdienste, Abschaffung des Berliner Geheimdienstes („Verfassungsschutz“)

Aus dem Koalitionsvertrag dazu auf den Seiten 201 und 202

„V-Leute-Einsatz bei der Polizei: Der NSU-Skandal hat deutlich gemacht, dass die konspirative Zusammenarbeit mit Vertrauenspersonen hohe Gefahren birgt. Deshalb darf der V-Leute Einsatz nur in begründeten Ausnahmefällen stattfinden. Für diesen bedarf es einer Einzelfallgenehmigung durch den Polizeipräsidenten.
Verfassungsschutz reformieren: Die Koalition wird den Verfassungsschutz reformieren und dessen Tätigkeit klar an den Grundrechten und am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausrichten. Die Aufgaben werden auf den Kernbereich beschränkt. Bei sämtlichen Befugnissen ist der verfassungsrechtlich garantierte Schutz des Kernbereiches der individuellen Lebensgestaltung zu garantieren. Die Kriterien für die Arbeit des Verfassungsschutzes werden eng gefasst und streng überwacht. Die Koalition wird Schlussfolgerungen aus dem NSU-Skandal ziehen und die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse im Deutschen Bundestag und einiger Bundesländer berücksichtigen. Bei einer sich ergebenden Zuständigkeit der Polizei (Gefahrenabwehr) oder der Staatsanwaltschaft (Strafaufklärung) ist eine eigene Tätigkeit des Verfassungsschutzes in diesem Sachverhalt ausgeschlossen. Personelle und sachliche Ausstattung des Verfassungsschutzes sowie die Anforderungen an die Eignung der Bediensteten werden an die sich verändernde Aufgabenbeschreibung und Aufgabenbegrenzung angepasst. Es werden präzisere gesetzliche Dokumentationspflichten eingeführt, um die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments zu verbessern. Die parlamentarische Kontrolle der Tätigkeit des Verfassungsschutzes wird ausgebaut. Das an die Öffentlichkeit gerichtete Berichtswesen des Verfassungsschutzes wird kritisch überprüft. Der Einsatz von V-Leuten des Verfassungsschutzes ist nur in begründeten Ausnahmefällen möglich und bedarf der Zustimmung des zuständigen Staatssekretärs. Die Speicherung von Personendaten beim Verfassungsschutz wird auf ihre rechtliche Zulässigkeit überprüft. Die Koalition wird aus der Erfahrung mit der Aufarbeitung des NSU-Skandals die Fristen zur Vernichtung von Akten und zur Löschung von Datensätzen so neu regeln, dass anlassbezogen und mit Zustimmung des Ausschusses für den Verfassungsschutz ein Moratorium möglich ist, um bestimmte Sachverhalte aufklären zu können. Die von nachrichtendienstlichen Maßnahmen Betroffenen s
ollen nach Abschluss der Maßnahme darüber unterrichtet werden. Die Koalition ist sich einig, dass die politische Bildung nicht zum Kernbereich des Verfassungsschutzes gehört.“

neutralminusBewertung:

Das klingt alles recht fortschrittlich und enthält einige klare Ansagen genau so wie einige sehr dehnbare Formulierungen (“ … wird überprüft“). Negativ fällt dagegen auf:

  1. V-Leute (Achtung, Euphemismus: V-Leute = „Vertrauensleute“) sollen weiter gegen staatliche Bezahlung bespitzeln und lügend für Polizei und Geheimdienste tätig sein dürfen und das Vertrauen anderer Menschen im staatlichen Auftrag missbrauchen.
  2. Eine klare Absage an politische Indoktrinationen von Schulen und Bildungsstätten durch Geheimdienste gibt es nicht, das soll nun nur nicht mehr zum „Kernbereich“ der Behörde gehören sollen – eine undeutliche Aussage.
  3. Der Berliner Geheimdienst soll nicht abgeschafft, dafür aber „reformiert“ werden. Geheimdienste sind nicht reformierbar. Das haben (nicht zuletzt!) die jüngsten „Reform“-Versuche u.a. in Niedersachsen bewiesen.
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