Scharfe Kritik an der von Rot-Grün geplanten „Reform“ des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes

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Quelle: Störfaktor

In 2010 verabschiedete der niedersächsische Landtag das erste nur für Niedersachsen gültige Versammlungsgesetz (NVersG). Und das, obwohl nicht nur die Opposition (wie üblich) Kritik äußerte, sondern auch eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Sachkundigen. Damals verantwortlich für das Gesetz: CDU und FDP.

Nun, in 2016, befindet sich das Regierungszepter Niedersachsens in der Hand von SPD und Bündnis90/Grünen. Der Entwurf für die seit Jahren angekündigte und immer wieder verschobene Reform des NVersG wurde vor wenigen Wochen veröffentlicht, derzeit nimmt das gewöhnliche Gesetzgebungsverfahren seinen Lauf.

Wie steht es nun um diese Reform?

Die Initiative „Versammlungsfreiheit für Niedersachsen“ ist eine gemeinsame Reaktion zahlreicher Gruppen und Menschen, die sich mittels einer Verfassungsbeschwerde gegen das NVersG zu wehren versucht haben. Dem machte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) leider einen Strich durch die Rechnung, indem es die Beschwerde nicht zur Entscheidung annahm, dieses zu begründen allerdings nicht für notwendig hielt.

Nachfolgend die Stellungnahme (PDF) dieser Initiative zur von der Landesregierung vorgelegten Reform, die eine Reihe von Kritikpunkten aufführt und insgesamt nur wenig Gutes an der Vorlage von Rot-Grün zu entdecken vermag

Sehr lesenswert und inhaltlich ergänzend ist die ebenfalls von der Initiative in 2013 herausgegebene 6seitige Dokumentation zur Haltung von SPD und Bündnis 90 / Die Grünen zum Nds. Versammlungsgesetz aus Oppositionszeiten und Koalitionsvertrag.

 

<BEGINN STELLUNGNAHME>

Stellungnahme der Initiative „Versammlungsfreiheit für Niedersachsen“ zur von der Niedersächsischen Landesregierung vorgelegten Reform des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes (NVersG)Landtags-Drucksache 17/6233

Mit unserer Initiative und der von uns organisierten Verfassungsbeschwerde gegen das NVersG vertreten wir ein breites Spektrum politisch engagierter, zivilgesellschaftlicher organisierter Gruppen und Menschen aus Niedersachsen.

In Absprache mit allen Beschwerdeführern nehmen wir zu der von der rot-grünen Landesregierung vorgelegten „Reform“ des NVersG Stellung.

Zur Einordnung in den Zusammenhang eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Entwicklungen – was bisher geschah:

  • In 2010 hat die damalige CDU-FDP-Landesregierung in Niedersachsen trotz umfangreicher Kritik (nicht zuletzt aus der damaligen Landtag-Opposition) erstmalig ein landeseigenes Versammlungsgesetz verabschiedet, das zum 1.2.2011 in Kraft getreten ist.
  • Nach der Landtagswahl vom Januar 2013 kündigte die neue Landesregierung unter SPD und Bündnis90/Die Grünen an, das Versammlungsgesetz umfassend zu reformieren und die Fehler der schwarz-gelben Vorgängerregierung zu beseitigen.
  • Anfang August 2016 wurde nun – nach langem Warten und ohne vorherige offene Diskussion oder Öffentlichkeit – der Entwurf zur Reform des NversG veröffentlicht.

Nachfolgend die Stellungnahme unserer Initiative, die sich wie folgt gliedert:

1. Zusammenfassung der im Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen
2. Bewertung unter (partei)politischen Gesichtspunkten
3. Bewertung aus der Perspektive der Versammlungsfreiheit

 

1. Zusammenfassung der im Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen

  • In §3 Absatz 3 wird ein zuvor bereits bestehender Verbots-Tatbestand ausgeweitet.
  • In §5 Absatz 2 Nr.4 wird der Umfang von notwendigen Daten bei der Versammlungsanmeldung in einem kleinen Teilbereich reduziert.
  • In §10 Absatz 2 wird eine formal-juristische Umformulierung vorgenommen.
  • Der vierte Teil und damit die Regelungen zur „Bannmeile“ werden gestrichen.
  • Die nicht erlaubte „Vermummung“ wird vom Straftatbestand zur Ordnungswidrigkeit herabgesetzt.

 

2. Bewertung unter (partei)politischen Gesichtspunkten

Den Bewertungsmaßstab liefern die beiden Landesregierungsparteien selber. Zum einen durch den rot-grünen Koalitionsvertrag, zum anderen durch ihre Kritik im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens unter CDU und FDP.

Aus der Präambel des rot-grünen Koalitionsvertrags, dort Seite 3 (Hervorhebung durch uns):

„Um den großen Herausforderungen gemeinschaftlich zu begegnen, wollen wir mehr Demokratie wagen. Demokratie lebt von kontinuierlicher Beteiligung und Transparenz. Viel zu lange wurde in Niedersachsen ein obrigkeitsstaatlicher Politikstil betrieben. Beteiligung wurde zu sehr auf die Stimmabgabe bei Wahlen reduziert. Wir setzen dagegen auf Gemeinwohlorientierung statt auf Klientelpolitik und wir glauben an die Gestaltungskraft der Zivilgesellschaft. Wir verstehen modernes Regieren als einen lebendigen Austausch zwischen Bevölkerung, Landesparlament und Landesregierung.

Aus den Zielen der Landesregierung, Seite 18 des Koalitionsvertrags (Hervorhebung durch uns):

„Aufwertung des Versammlungsrechts: Die rot-grüne Koalition wird das Demonstrationsrecht stärken. Ziel ist ein bürgerfreundliches Versammlungsrecht, das möglichst vielen Menschen Demonstrationen, Kundgebungen oder sonstige Versammlungen ermöglicht. Eingeschränkt werden sollen Datenabfragen bei Anmeldungen und Polizeiaufnahmen in geschlossenen Räumen. Das Vermummungsverbot soll schärfer eingegrenzt und der Datenschutz für Anmelderinnen und Anmelder sowie Ordnungskräfte verbessert werden. Die Bannmeilenregelung vor dem Niedersächsischen Landtag wird aufgehoben.“

Die SPD forderte in ihren Oppositionszeiten unter anderem folgende Änderungen am verabschiedeten NVersG:

Die Fraktion der Bündnis90/Grünen verlangte in ihrer Oppositionszeit und auch noch danach hingegen:

Bewertung:

Erfreulich ist die längst überfällige Abschaffung der Bannmeilenregelung.

Die Herabstufung des „Vermummungsverbots“ zur Ordnungswidrigkeit ist zwar – betrachtet im Kontext der Regelungen in anderen Bundesländern – genau so richtig wie mutig und insofern innovativ, zugleich allerdings inkonsequent hinsichtlich der versammlungsfreiheitlich notwendigen Abschaffung des „Vermummungsverbots“, wie es unter Bundeskanzler Kohl und Bundesinnenminister Zimmermann in 1985 eingeführt worden ist.

Die Ausweitung des Verbotstatbestands bezüglich der Vermittlung des „Eindrucks von Gewaltbereitschaft“ ist tragisch: Eine schwammige Vorschrift wird in ihrer Unschärfe sogar noch ausgeweitet. Für die Demonstratoinspraxis bedeutet das eine weitere, sehr konkrete und unzulässige Beschneidung der tatsächlichen Versammlungsfreiheit.

Die Reduzierung der Datenabfragen ist aus praktischer Sicht (auch für die Arbeit von Polizei und Versammlungsbehörde!) nahezu effektfrei und ändert so gut wie nichts an der einschüchternden Wirkung, die von der Anmeldebürokratie einer Versammlung in Niedersachsen ausgeht.

Gemessen an den eigenen Ansprüchen der Koalition aus dem Koalitionsvertrag ist die rot-grüne Landesregierung gescheitert:

  • Es gab keinerlei Anstrengungen, anders als zu schwarz-gelben Regierungszeiten kritische Stimmen außerhalb der Behörden-, Justiz- und Verwaltungsapparate in die Gestaltung der Reform einzubeziehen. Im Gegenteil: Anfragen um Beteiligung und Bitten um mehr Transparenz wurden abgewiesen.
  • Das Demonstrationsrecht wurde – anders als im Koalitionsvertrag versprochen – im Gesamten betrachtet nur wenig gestärkt, von einer größeren „Bürgerfreundlichkeit“ kann keine Rede sein. (Anmerken möchten wir hier, dass die grundgesetzlich verankerte Versammlungsfreiheit nicht nur den „Bürgern“ vorbehalten ist. Es handelt sich hierbei um ein Menschenrecht.) Von einer „Verbesserung des Datenschutzes“ für Demonstrationsanmelder und -helfer ist nichts zu finden.

Sowohl SPD und Bündnis90/Grüne sind an ihren eigenen Verlautbarungen vor Erlangung der Regierungsmacht gescheitert. Man könnte dem entgegen halten, dass Koalitionsverhandlungen Kompromissbereitschaft erfordern und nicht alle politischen Forderungen aller Parteien durchzusetzen sind.

Allerdings bleibt die Frage, warum die Parteien dem in Artikel 8 GG wegen der Geschichte Deutschlands aus gutem Grund hoch gehängten Versammlungsfreiheitsrecht so wenig Vorrang vor geringer zu bewertenden Interessen der Behörden gewähren. Warum ist die Angst vor selbstbewussten, ggf. andersdenkenden und systemkritischen Demonstranten noch immer so groß, warum hängt man den freiheitlichen Bestrebungen bestimmter Bevölkerungsgruppen (Friedlichkeit vorausgesetzt!) immer noch den Stallgeruch des gewalttätigen Mobs an, indem man mittels des NVersG einem Versammlungsanmelder so unglaublich viel Misstrauen entgegenbringt und diesen mit einem Bürokratieapparat einschüchternden Ausmaßes und Verhaltens meint konfrontieren zu müssen.

Noch viel merkwürdiger aber:

Warum setzen SPD und Grüne einige gemeinsame Kritikpunkte aus ihrer Oppositionszeit nicht um? Als ein Beispiel seien nur die verfassungsrechtlich kritisierten Regelungen und Bedingungen zur polizeilichen Bild- und Tonaufzeichnung von Demonstrationen genannt. Das wurde von beiden Parteien in 2010 ausdrücklich kritisiert. In der „Reform“, die diesen Namen nicht verdient, ist dazu keine Änderung vorgesehen.

 

3. Bewertung aus der Perspektive der Versammlungsfreiheit

Der rot-grünen Landesregierung gelingt es nicht, den Blick über den Rand des parteipolitischen Tellerrands zu heben und sich der Einflußnahme von Behörden zu entziehen.

Es ist verständlich und menschlich nachvollziehbar, dass Versammlungsbehörden (und damit die Städte und Kommunen) sowie die Polizei den Wunsch haben, ihre Arbeit möglichst einfach zu gestalten und Versammlungsanmeldungen und -durchführungen mit möglichst wenig Verwaltungsaufwand ablaufen zu lassen.

Wenn aus diesen Wünschen eine Versammlungspraxis in Form von Verwaltungsakten und Versammlungs-Bürokratismus erwächst, dann ist etwas falsch gelaufen.

Dem „einfachen“ Bürger ist es in aller Regel nicht möglich, eine Versammlung (unter Gewährung der wichtigen Aspekte der Versammlungsfreheit!) durchzuführen. Dazu fehlt ihm das juristische Know-How, die Erfahrung und der Mut, wie mit den dominant und selbstbewusst auftretenden Polizei- und Versammlungsbehörden umzugehen ist … und oft genug das Geld, um die ihm zu Unrecht vorenthaltenden Rechte einzuklagen, sofern man von einem Einklagen überhaupt reden kann, wenn Verwaltungsgerichte im Nachhinein Maßnahmen und Auflagen der Behörden als unzulässig verurteilen, die zuvor beschnittene Meinungs- und Versammlungsfreiheit dann jedoch nicht mehr zu heilen ist.

Wer als verantwortlicher Politiker den Brokdorf-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nicht gelesen und verinnerlicht hat, wer noch nie in das Getriebe der Versammlungsbehördenapparate geraten ist, noch nie einen mit einer Demonstration mitwandernden Polizeikessel erlebt hat, weder Polizeipferde, noch Polizeihunde oder Pfeffersprayeinsätze in der Realität erlebt oder beobachtet hat und noch nie einem volluniformierten Polizeibeamten direkt gegenübergestanden hat … solch ein Politiker sollte bei der Erschaffung oder Veränderung von Versammlungsgesetzen höchst demütig zugange sein, ganz die Finger davon lassen oder aber zumindest dafür sorgen, dass in der (nicht-öffentlichen!) Beratschlagung im Zuge des Gesetzgebungsprozesses nicht nur die Vertreter von Polizei, Justiz und Kommunalbehörden ihre Interessen und Meinungen darlegen und einbringen dürfen, sondern auch kritische Stimmen der Zivilgesellschaft Gehör finden.

Die vorgelegte „Reform“ des NVersG ist keine Reform. Sie ist nicht mehr ein zaghaftes Klein-Klein im politischen Spiel der wechselnden Farben einer niedersächsischen Landesregierung.

Den Grund- und Menschenrechten tut das NVersG weh. Mit diesem Gesetz wurden Freiheiten beschnitten oder in Teilen ganz abgeschafft, für die viele Menschen in vorangegangenen Generationen gestritten haben und Gesundheit und Leben riskiert oder sogar verloren haben.

Für uns als Vertreter demokratisch ausgerichteter Gruppen und Initiativen bedeutet das, dass wir in unserem Wirken – und damit auch im Rahmen unserer Versammlungen – nicht noch weiter auf ein freiheitlich orientiertes Handeln politischer Parteien hoffen dürfen. Versammlungsfreiheit muss gelebt werden. Friedlich, aber konsequent:

Wir demonstrieren wann, wo und wie wir wollen!

<ENDE STELLUNGNAHME>

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