Offener Brief: Für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Nachrichten- und Geheimdiensten

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Offener Brief an Parteivorsitzende in der deutschen Parteienlandschaft:
Für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Nachrichten- und Geheimdiensten

 

Sehr geehrter Herr Gabriel,
sehr geehrte Frau Kipping,
sehr geehrter Herr Lucke,
sehr geehrte Frau Merkel,
sehr geehrte Frau Peter
sehr geehrter Herr Riexinger,
sehr geehrter Herr Rösler,
sehr geehrter Herr Özdemir,
sehr geehrter Herr Schlömer,
sehr geehrter Herr Seehofer,

 

wir schreiben Sie als Parteivorsitzende Ihrer Parteien an (die Ansprache ist in alphabetischer Reihenfolge gehalten), um Ihnen mitzuteilen, wie unzufrieden wir mit dem derzeitigen Umgang der Snowden-Enthüllungen und ihrer Folgen sind.

Dieses wird für Sie vermutlich schon der x-te Brief dieser Art sein, deswegen wollen wir uns möglichst floskelfrei und kurz halten.

Was uns stört:

Es kann nicht richtig sein, dass die derzeitigen Verhandlungen mit der USA nur zu einem „No-Spy-Abkommen“ führender Politiker oder anderer angeblich „wichtiger Menschen“ führen. Wenn die Ergebnisse dieser Verhandlungen nicht zu einem umfassenden und grundsätzlichen Schutz des Brief- und Telekommunikationsgeheimnisses für alle Menschen gleichrangig führen, dann ist es nicht nur nichts wert, sondern dann ist es sogar schädlich für unsere Gesellschaft.

Zugleich finden wir es eklatant, dass nicht gleichzeitig ähnliche Verhandlungen mit den anderen vier Ländern der „Five-Eyes-Runde“ geführt werden und dass die unglaubliche, offen von Russland angekündigten, sehr weitreichenden Überwachungsmaßnahmen aller Telekommunikation von Ihnen, den Vertretern der deutschen Parteienlandschaft, bislang so erbärmlich wenig bzw. gar nicht öffentlich kritisiert und verurteilt worden sind.

Unsere Forderungen können nicht umfassend oder vollständig sein, aber jeder einzelne der folgenden Punkte ist ernst gemeint. Bitte nehmen Sie sie deshalb auch ernst!

 

Was wir fordern:

Die sofortige Aufkündigung der bi- und multilateralen Abkommen zu SWIFT, PNR und Safe Harbour sowie die Einstellung der TAFTA-Verhandlungen.

Eine klare Positionierung gegenüber der USA, dem Vereinigten Königreich von Großbritannien, Kanada, Neuseeland, Australien und Russland, dass eine Überwachung von Menschen in oder aus Deutschland nicht hingenommen wird: „Völlig inakzeptabel“.

Eine klare Positionierung, dass die Grundrechte auf Privatheit und grundsätzlich geschützter Kommunikation für alle Menschen in allen Ländern gelten und die öffentliche klare Lagebestimmung, dass dieser Anspruch an die Umsetzung von Menschenrechten durch Geheimdienste derzeit vielfach missachtet und verwirkt wird.

Wir haben nun immer wieder erfahren, dass sich nicht transparent und nicht offen arbeitende Nachrichtendienste immer wieder einer demokratischen Kontrolle entziehen und vielmehr verselbständigen, was mit einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft per se unvereinbar ist. Anbetracht dessen und als Ergebnis einer kühlen und sachlichen Reflektion müssen wir unserer Ansicht nach dringend einen Paradigmenwechsel einleiten. Dazu gehört:

  • Der sofort beginnender Rückzug bzw. Beendigung etwaiger Überwachungsmaßnahmen deutscher Geheimdienste (BND, MAD, BfV, Landesverfassungsschutzämter), egal auf wen Sie sich diese im Einzelfall beziehen.
  • Die kurz- bis mittelfristige Auflösung der Landes- und Bundesverfassungsschutzämter.
  • Die mittelfristige Auflösung von BND und MAD.
  • Die Zurückziehung des G10-Gesetzes.
  • Eine Aufkündigung aller Verträge und Abkommen (bilateral sowie auf EU- und NATO-Ebene), die eine Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten anderer Länder beinhalten.
  • Eine sachliche, aber energische Untersuchung sowie anschließende menschen- und völkerrechtliche Bewertung des Tuns ausländischer Kräfte auf deutschem Territorium (inklusive der militärischen Basen und diplomatischen Vertretungen in Deutschland).
  • Die Auflösung von GTAZ, GASIM, GIZ, NCAC und GETZ sowie eine strenge Überprüfung des IKTZ mit besonderem Blick auf Wertschätzung und Aufrechterhaltung des Trennungsgebots bzw. des Nichtvorhandenseins geheimdienstlicher Tätigkeiten bei der Bundespolizei und allen anderen Polizeien auf Bundes- und Länderebene.
  • Eine klare Absage an das Wettrüsten der Überwachungstechnik- und methoden sowie ein internationaler Einsatz für die Grundüberzeugung, dass eine Welt ohne Geheimdienste möglich ist!
  • Die ebenso klare Absage an jegliche Art von Vorratsdatenspeicherung, unabhängig von deren Umfang, Speicherdauer oder angeblichen Zugriffsbeschränkungen *).

Zu den weiteren Konsequenzen, die sich hieraus ergeben, gehört unter anderem die Anstrengung einer intensiven und unabhängigen Evaluation, inwieweit Entscheidungen, Gesetzgebungen und das Zustandekommen von Verträgen und Abkommen auf nationaler und internationaler Ebene in den vergangenen Jahren von Geheimdienst-Ausspähungen beeinflusst worden sind, wie tragfähig und demokratisch belastbar deren Wirkung und Bedeutung dann also in Zukunft überhaupt noch sein können.

Das Vereinigte Königreich von Großbritannien gehört als Mitglied der Five-Eyes-Runde innerhalb der EU ebenfalls einem besonderen Check unterzogen.

Sowohl national als auch im EU-Rahmen und darüber hinaus müssen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben und -förderungen radikal umgeschichtet werden:

Weg von Forschung und Entwicklung, die direkt oder indirekt dem Überwachungswettrüsten dienlich ist, und hin zu wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Anstrengungen zur Förderung von technischen und sozialen Strukturen und Entwicklungen, die einem freiheitlichen Zusammenleben dienlich sind. Dazu gehört z.B. die Ermöglichung einer möglichst einfachen, aber geschützten Kommunikation für jeden und jede:

Offene Hardware und offene Software sowie die Besinnung auf Dezentralität und Datensparsamkeit sind die einzigen Auswege aus dem momentan sich immer deutlicher abzeichnenden Dilemma.

 

Wir sind uns so gut wie sicher, dass viele unserer Forderungen und Vorschläge einigen von Ihnen als illusorisch erscheinen werden.

Und wir wissen, dass unsere Vorschläge nichts mehr als Fragmente, als ein unrunder Ansatz für einen Kurswechsel sein können. Es herrscht nach wie vor ein großer, unbefriedigter Diskussionsbedarf.

Zugleich sind wir jedoch der festen Überzeugung, dass eine Entwicklung, die nicht das Wesen unserer Vorschläge berücksichtigen wird, zu nichts anderem führen wird als zu totalitären, unfreien Zuständen.

Wir glauben allerdings auch: Auf kurz oder lang wird sich die Gesamtheit aller Menschen gegen eine ausgeuferte Überwachung ihrer selbst und gegen Fremdsteuerung wehren. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich dieser Widerstand Bahn bricht. Deswegen macht es Sinn, sich an dieser langfristigen Perspektive zu orientieren, statt sich zu sehr um das Wohl einer angeblichen, tatsächlich aber rein abstrakten „Beziehung zwischen Staaten“ zu sorgen:

Holen Sie Edward Joseph Snowden zu uns nach Deutschland, geben Sie ihm die Gelegenheit, effektive Aufklärung zu betreiben und schützen Sie diesen Menschen wie auch andere Whistleblower, die geholfen haben, strukturelle Mißstände aufzudecken. Herrn Snowden Asyl zu bieten wäre eine Ehre und eine Auszeichnung für uns alle!

Sie sind die formellen Anführer Ihrer Parteien. Unsere Bitte an Sie lautet: Nehmen Sie die derzeitigen Entwicklungen sehr ernst, nehmen Sie auch unsere Vorschläge ernst – engagieren Sie sich!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und viele gute Grüße,

Die Menschen von freiheitsfoo

* * *

Fußnote

*)
Wir sind der festen Überzeugung, dass nicht nur, aber alleine schon aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 die Wiedereinführung irgendeiner Form von Vorratsdatenspeicherung verfassungsrechtlich eindeutig unzulässig ist. Angesichts der Aufdeckungen des Umfangs geheimdienstlicher Überwachungsmaßnahmen erfährt die Aussage des BVerfG in der Randnummer 218 des Urteils ein ganz neues Gewicht. Dort heißt es nämlich:

„Umgekehrt darf die Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten nicht als Schritt hin zu einer Gesetzgebung verstanden werden, die auf eine möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafverfolgung oder Gefahrenprävention nützlichen Daten zielte. Eine solche Gesetzgebung wäre, unabhängig von der Gestaltung der Verwendungsregelungen, von vornherein mit der Verfassung unvereinbar. Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer vorsorglich anlasslosen Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten setzt vielmehr voraus, dass diese eine Ausnahme bleibt. Sie darf auch nicht im Zusammenspiel mit anderen vorhandenen Dateien zur Rekonstruierbarkeit praktisch aller Aktivitäten der Bürger führen. Maßgeblich für die Rechtfertigungsfähigkeit einer solchen Speicherung ist deshalb insbesondere, dass sie nicht direkt durch staatliche Stellen erfolgt, dass sie nicht auch die Kommunikationsinhalte erfasst und dass auch die Speicherung der von ihren Kunden aufgerufenen Internetseiten durch kommerzielle Diensteanbieter grundsätzlich untersagt ist. Die Einführung der Telekommunikationsverkehrsdatenspeicherung kann damit nicht als Vorbild für die Schaffung weiterer vorsorglich anlassloser Datensammlungen dienen, sondern zwingt den Gesetzgeber bei der Erwägung neuer Speicherungspflichten oder -berechtigungen in Blick auf die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen zu größerer Zurückhaltung. Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland (vgl. zum grundgesetzlichen Identitätsvorbehalt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u.a. -, juris, Rn. 240), für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss. Durch eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer.“

 

* * *

[Dieser Brief ist auch als PDF-Datei verfügbar.]

Bild: Eigene, z.T. händische Bearbeitung unter Zuhilfenahme eines NSA-Skandal-Verwertungssschildes eines Autohändlers aus Hannover, letzteres (c) Autohaus Günther

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