Gegen’s Knie der Versammlungsfreiheit getreten – Gelebte Praxis der Anwendung und Durchsetzung des Sonderstrafrechts für Polizist*innen. Bericht von einer kafkaesk-orwellschen Gerichtsverhandlung.

Vorbemerkung: Der nachfolgende Text ist ein subjektiver Bericht von einer Gerichtsverhandlung, die am 1.10.2025 im Amtsgericht Hannover stattfand. Es ist zugleich die Dokumentation eines „Tritts gegen das Knie der Versammlungsfreiheit“. So interpretierten wir hier in einem Blogbeitrag von 2017 das damals eingeführte Sonderstrafrecht für Polizisten & Co., die diese faktisch zu „gleicheren“ Menschen erklärt. Dass dieses Sonderstrafrecht zur Unterdrückung der Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit missbraucht werde, das hatten wir damals befürchtet. Dass diese Befürchtung Wirklichkeit geworden ist belegt der hier beschriebene Fall.

– – –

Da ist die Demonstration. Die fand im Sommer 2024 in Hannover-Linden-Nord statt und erinnerte an die Erschießung eines Flüchtlings vor 30 Jahren. An Halim Dener.

Da ist eine junge Frau, Anfang 20. Deutsche Staatsangehörigkeit. In der Ausbildung zu einem Pflegeberufes befindlich. Sie hat ein Problem: Sie hat großes Unwohlsein in engen Menschenmengen, sie braucht Bewegungsspielraum, auch aufgrund von üblen Erfahrungen. (Klaustrophobie ist übrigens auch nicht so selten. Rund einer von vierzehn Menschen leidet darunter.) Sie hat aber ein noch größeres Problem: Sie steht an diesem Tag vor Gericht.

Dann sind da noch die vier Polizist*innen. Die haben – so der sehr obrigkeitstreu wirkende Staatsanwalt – die junge Frau in die Demonstration drängen wollen. Warum die vier meinten, dass die Frau unbedingt in den Demozug gehöre und deswegen mittels Gewalt dorthin gebracht werden sollte, das sagt der Staatsdiener nicht. (Auch wenn das heute keinen interessiert hat: Darf man eigentlich zur Teilnahme an einer Demo gezwungen werden?) Na jedenfalls haben die vier Vollzugsbeamte dann die junge Frau auf den Boden geworfen und mit roher Gewalt festzusetzen versucht, als die das nicht mitmachen wollte. Sie geriet in Panik. Was ja auch kein Wunder ist. Und sie hat um sich getreten und sich gegen die sich an ihr ausgeübten Gewalt gewehrt. Ein klassischer Fall für das neue Sonderstrafrecht, das die Polizeileute als bessere Menschen als den Rest der Menschheit deklariert. Die junge Frau darf sich in so einem Fall nicht gegen Polizeigewalt wehren – egal, was die Polizei mit ihr macht und ob das rechtens war oder nicht. Sie hat die Polizist*innen im Sinne des noch jungen Farm-der-Tiere-Paragraphen § 114 StGB „tätlich angegriffen“.

Und ach ja. Dann ist da noch die Richterin. Sie scheint einem klischeeverhafteten Comic entsprungen zu sein. Mit ihrer scharfen Zunge im und der Dauerwelle auf ihrem Kopf. (Ist das nicht die aus dem Großstadtgeflüster-Video?) Die Richterin befand es nicht einmal für nötig, sich das Polizeivideo zum ganzen Verhandlungsgegenstand anzuschauen, interessierte sich nicht für das zentrale Beweismittel. Deswegen dachte sie auch, dass es sich bei der jungen Frau um eine nicht deutsch sprechende Person handelt und hat erst mal eine Dolmetscherin zum Gerichtstermin bestellt. Schließlich hat die junge Frau ja einen so seltsamen, ausländisch klingenden Namen. Die Dolmetscherin ging dann gleich wieder nach Hause, nachdem klar war, dass die junge Frau als gebürtige Hannoveranerin bestes Hochdeutsch spricht. Und nachdem sie sich von der Richterin ihre Anwesenheit hat bescheinigen lassen. Wegen der Rechnung, die sie noch schreiben wird. (Wer bezahlt die eigentlich?)

Die junge Frau wurde bereits verurteilt. Sie muss 120 Tagessätze Strafe bezahlen. Wegen des Um-sich-Tretens in ihrer Zwangslage. Denn ein Polizist ist ja schließlich dabei hingefallen.

Bei dem Gerichtstermin geht es nun nur noch um die Frage, wie viel Geld das ist, diese „120 Tagessätze“.

80 Euro schlägt der schmale Staatsanwalt nun vor. Pro Tagessatz.

Die Verteidigerin der jungen Frau meint das sei zu viel. Schließlich verdient die junge Frau in ihrer Pflegeausbildung nur 900 Euro im Monat, wovon schon 450 Euro für die Miete drauf gehen. (Wieso werden Menschen, die sich in ihrer Ausbildung um andere Menschen kümmern und das auch noch ihr ganzes Arbeitsleben lang machen wollen eigentlich so mies bezahlt?)

Na gut, meint der Staatsdiener. Dann halt 30 Euro.

Die Verteidigerin meint, dass dann nichts mehr zum Erwerb des Lebensnotwendigsten bliebe. Nach Abzug der Miete hat die junge Pflegeschülerin nicht mehr Geld übrig als das staatlich berechnete Mindesteinkommen zum Leben und Überleben. Sie schlägt deswegen 15 Euro als Tagessatz vor.

Man beachte: Nach Abzug der Miete hat die junge Frau noch 450 Euro pro Monat übrig. (War jemand von den hier noch Mitlesenden in den letzten Monaten eigentlich mal Einkaufen?) Wenn sie jeden Tag 15 Euro von ihrer Strafe abbezahlt, hat sie genau 0 Euro zum Leben übrig. Pro Tag. Also nichts. Und das 120 Tage lang. Das sind 4 Monate.

Nun kommt die Richterin. Beziehungsweise erst mal sitzen alle im Gerichtssaal anwesenden Menschen (ob man die Richterin mit Blick auf ihre Empathiefähigkeit als Wesensmerkmal menschlichen Lebens dazu zählen kann muss eher verneint werden) und müssen still und geduldig warten, bis die Richterin etwas vor sich hingekritzelt hat. Nach diesen sonderbaren Gedenkminuten, in denen man sich fragt, ob das alles real oder ein Kitschfilm ist, in dem man als Statist irgendwie hineingeraten ist – nach diesen endlosen Minuten also verkündet die Richterin, dass der Tagessatz der jungen Frau ihrer richterlichen Weisheit nach 30 Euro beträgt. Weil das in Niedersachsen bald (aber jetzt noch nicht, oder was?) so üblich wäre, dass man den Abzug der Miete vom Einkommen nicht berücksichtigen müsse.

Na dann halt 8 Monate lang kein Essen, Trinken oder sonstige Ausgaben für die junge Frau.

Die Richterin wünscht der jungen Frau noch alles Gute. Sie wird nicht rot dabei. Auch tut sich kein Höllenschlund vor ihr auf, in dem sie dann verschwindet.

Gewundert hätte mich das nicht.

Dieser Beitrag wurde unter Meinung/Kommentar veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.