Zeitzeichen, 18

victor-klemperer-cc-by-sa-bundesarchiv_bild_183-s90733-mod-freiheitsfooIn unserer Kategorie „Zeitzeichen“ rezitieren wir in unregelmäßigen Abständen und in ebenso unregelmäßigem Umfang Nachrichtenschnipsel oder Zitate, die wir als möglicherweise stellvertretende Beispiele für größere Entwicklungen und gesellschaftliche Symptome empfinden: als Zeitzeichen.

Wir behalten uns vor, dieses oder jenes kurz zu kommentieren oder zu bewerten, oder auch nicht. :)

 

Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter für Folter, berichtet am 26.6.2019 über die Rechtsverletzungen und -verdrehungen sowie über die menschenunwürdigen Haftbedingungen für den umstrittenen Julian Assange (in englischer Sprache): Andere Zeitschriften wie der Guardian, The Times, die Financial Times, die Sydney Morning Herald, die Australian, die Canberra Times, der Telegraph, die New York Times, die Washington Post, Thomson Reuters Foundation und Newsweek hatten die Veröffentlichung zuvor abgelehnt. Erst ein halbes Jahr später gelangt die Berichterstattung des UN-Sonderbeauftragten auch in andere Medien, am 3.2.2020 greift bspw. auch heise das Thema auf. Heise leitet seinen Beitrag wie folgt ein: „Eine konstruierte Vergewaltigung, manipulierte Beweise, befangene Richter – der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, sieht in der Causa Julian Assange ein „mörderisches System“ am Werk, um mit einem Schauprozess an dem Wikileaks-Gründer ein Exempel zu statuieren und andere Journalisten einzuschüchtern. Das wirklich Erschreckende an diesem Fall ist für den Schweizer Rechtsprofessor „der rechtsfreie Raum, der sich entwickelt hat: Mächtige können straflos über Leichen gehen, und aus Journalismus wird Spionage. Es wird ein Verbrechen, die Wahrheit zu sagen.“

Eine heise.de-Meldung vom 15.12.2019 zitiert den Ex-BND-Chef in einer Warnung, die dieser der dpa diktiert hat: Schindler sagte, die Grundrechte seien ’subjektive Abwehrrechte gegen die eigene Hoheitsgewalt‘ in Deutschland. Sie seien aber nicht dazu da, die gesamte Weltbevölkerung unter ihren Schutz zu stellen. ‚Das wäre geradezu anmaßend und eine bedenkliche Verabsolutierung deutscher Rechtsprinzipien, das wäre Rechtsimperialismus.‚“ Ja, klar: Menschenrechte für alle Menschen sind eine ganz und gar imperialistische Spinnerei.

Erika Steinbach am 23.12.2019 in einer DLF-Diskussionssendung (im mp3-Mitschnitt ca. ab 1h 3m 30s): „Ich habe noch alte Freunde in der CDU, wir treffen uns auch, also im Bereich der Werte-Union habe ich noch jede Menge Freunde. Aber jetzt muss ich noch einmal sagen zu Alexander Gauland, den ich ja seit 1977 kenne, (…) das ist der liberalste Mensch, den ich überhaupt kennengerlernt habe, der galt damals als links. Har, har, har – der ist gut!

Eine Nachricht vom 23./27.12.2019: Eine Frau, die am Freitag von Düsseldorf nach Singapur fliegen wollte, musste laut Bundespolizei wegen einer spaßhaften Äußerung am Boden bleiben. Wie die Beamten berichteten, erklärte die Dame vor der Sicherheitskontrolle mehrfach, dass sie Sprengstoff in ihrem Handgepäck trage. Daraufhin sperrten die Flughafenangestellten die Kontrollspur. Das Gepäckstück der 49-Jährigen blieb in der Röntgenanlage. Als ein Bundespolizist die Frau auf die möglichen strafrechtlichen und zivilrechtlichen Konsequenzen ihres Verhaltens aufmerksam machte, zeigte diese keinerlei Einsicht. Das besagte Handgepäck wurde auf Sprengstoff untersucht, es enthielt jedoch nur typische Reiseutensilien. In den Diensträumen der Bundespolizei reagierte die Frau dann provokativ, verweigerte jegliche Kommunikation und versuchte, sich aus dem Raum zu schleichen. Die Fluggesellschaft entschied schließlich in Absprache mit der Bundespolizei die in Leipzig wohnende Frau vom Flug nach Singapur auszuschließen.
Bundespolizeimeldung dazu: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/70116/4476730

Aus einer DLF-Kurznachricht vom 27.12.2019: „Der jüngste SPD-Vorstoß für ein Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde auf deutschen Autobahnen sorgt für Diskussionen. Der FDP-Vorsitzende Lindner sagte der Deutschen Presse-Agentur, Verbote sollten nur da ausgesprochen werden, wo sie auch tatsächlich gebraucht würden.Ja, du Profi, eben. Genau deswegen. „Bundesverkehrsminister Scheuer verwies darauf, dass bereits ein funktionierendes System der Richtgeschwindigkeit existiere.“ Sachlich richtig. Aber was hat das mit der Forderung nach einem Tempolimit zu tun?

Eine DLF-Kurznachricht vom 5.1.2020: „Die Abgeordneten der CSU im Bundestag setzen sich dafür ein, die Strafunmündigkeit von Kindern überprüfen zu lassen. Schwere Straftaten sollen nach dem Willen der Partei unabhängig vom Alter sanktioniert werden, berichten mehrere Medien.“

Der Bundesvorsitzende des Deutschen Beamtenbundes (dbb), Herr Silberbach am 6.1.2020 in einem Interview mit dem DLF über die sich „herumtreibenden Menschen in diesem Land“: Die Menschen in diesem Land fühlen sich nicht mehr sicher. In vielen Stadtteilen von Großstädten traut sich die Familie, abends nicht mehr um die Häuser zu ziehen. Auch wenn die Politik das nicht gerne hört, leben wir in Teilen in No-Go-Areas, wo sich der normale Mensch abends nicht mehr herumtreiben will.“ Auch wenn es die Vita von Herrn Silberbach auf den Seiten des dbb nicht verrät. Er ist Mitglied der CDU. Ach so und übrigens: Diese Behauptung entbehrt nach Auskunft seines Pressesprechers jeglicher Tatsachengrundlage. Man könnte auch sagen, sie ist schlicht erfunden und erlogen.

Der verschwörungstheoretisch-freundliche Hans-Georg Maaßen möchte sich in Thüringen gerne von „AfD“ und „CDU“ zum neuen Ministerpräsidenten wählen lassen. Selbstbescheiden empfiehlt er sich auf einer öffentlichen Veranstaltung am 8.1.2020 der noch rechteren „CDU“-Flanke „Werteunion“ (Lesens- und hörenswerter DLF-Beitrag: Text / mp3) wie folgt: „Ich stehe nicht zur Wahl. Aber wenn ich zur Wahl stünde, würde ich sagen: Ich kann jeden verstehen, der mich wählt. Weil ich einfach gut bin!“

DLF-Kurznachricht vom 24.1.2020: Nach mehr als einem Jahr Unterbrechung will Deutschland die Ausbildung von Grenzschützern in Saudi-Arabien wieder aufnehmen. Ein Sprecher des Innenministeriums in Berlin bestätigte einen Medienbericht und sagte, Bundespolizisten sollten noch Ende Januar nach Riad verlegt werden. Die Mission war im Oktober 2018 ausgesetzt worden, nachdem der regierungskritische Journalist Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul getötet worden war. Kronprinz bin Salman steht im Verdacht, die Tötung in Auftrag gegeben zu haben. Der Kronprinz bestreitet dies. Die Ausbildung saudischer Grenzschützer hatte Deutschland 2009 begonnen und mit außen- und sicherheitspolitischen Interessen sowie der Terrorbekämpfung in der Region begründet.“ such a shame …

In einer Morgenandacht am 24.1.2020 im DLF bezeichnet ein evangelischer Pastor Greta Thunberg als „notorische Schwarzseherin“. Er bezeichnet Klimapolitik-Kritiker weiter als Menschen, die „Lust an der Apokalypse haben und darum den Niedergang herbeireden“. Dann weiter: „Greta Thunberg und Donald Trump sind keine Propheten im biblischen Sinn. Aber Greta Thunbergs Problembewusstsein und Donald Trumps Optimismus, was Menschen alles schaffen können – wie gut könnte die Zukunft aussehen, wenn dieser Optimismus und diese Schaffenskraft eingesetzt würden zum Schutz des Klimas. Diskutieren Sie mit auf facebook …“ oh jemine … /o\

Eine NDR-Nachricht vom 25.1.2020, zu der sich Petra Kelly im Grabe wälzen dürfte: „Die Hamburger Grünen wollen ihre Forderung nach einer Lockerung des Vermummungsverbots überdenken. (…) Im Programm der Grünen zur Bürgerschaftswahl am 23. Februar wird gefordert, Vermummung künftig nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit zu ahnden. Das gebe der Polizei mehr Alternativen beim Einschreiten gegen vermummte Demonstrierende. Bei Straftaten müsse die Polizei einschreiten, bei Ordnungswidrigkeiten habe sie einen Ermessensspielraum. (…) Nun folgt offenbar das Umdenken bei den Grünen. „Aus den Reihen der Hamburger Polizei hören wir nun aber, dass sie auch so schon jeden Bewegungsspielraum hat, den sie braucht, um deeskalierend aufzutreten“, sagte Steffen der „Welt am Sonntag“. „Wir wollen über diese Frage mit der Polizei in einen Dialog treten. Wenn sich das so bestätigt, brauchen wir die Gesetzesänderung nicht.“ (…) „Die Frage, ob das Vermummungsverbot künftig nur noch als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden soll, gehört nicht zu diesen Themen[, so Frau Fegebank von den „Grünen“].“ Es gehe nicht darum, „etwas mit der Brechstange an den Beamtinnen und Beamten vorbei durchzusetzen, sondern gemeinsam gute Lösungen in der Sache zu finden.“ Ach so, na wenn die Hamburger Polizei das so sagt, dann wird das ja stimmen … und dann wird das eben mit der Brechstange an den Betroffenen, also den Grundrechtswahrnehmenden durchgesetzt und alles ist gut … o_O

Ein Kommentar zum sogenannten Mietendeckel der Zeitung „Die Welt“, entnommen der DLF-Presseschau vom 31.1.2020.: „Sie kippen, weil diejenigen, die es auch in der friedlichen sozialen Marktwirtschaft zu wenig gebracht haben, ihre Ambitionslosigkeit in Aggression gegen Unternehmer und Gestalter gedreht haben. Wir erleben einen Kulturkampf der Versagenden gegen die Gestaltenden. Der Mietendeckel wurde beschlossen, aus der sozialen Marktwirtschaft wird für fünf Jahre ’soziale Planwirtschaft‘. Die Investoren ziehen sich bereits zurück. Kaum einer investiert mehr, außer in den Luxusbereich für Selbstnutzer. Es könnte trostlos werden: keine ökologische Modernisierung, keine Aufwertung der Kieze, keine Fortschreibung der Erfolgsgeschichte dieser Gentrifizierung, die die Stadt schöner und aufregender gemacht hat.Schöne neue WELT des geschriebenen Unsinns. Aufwertung von Kiezen durch Inverstoren und eine Gentrifizierungs-Erfolgsgeschichte, die unsere Welt „aufregender“ gemacht hat“ – har, har … selten so gelacht, und dabei bis zum Ersticken verschluckt …

DLF-Kurznachricht vom 31.1.2020: Bundestagspräsident Schäuble hat die Bereitschaft zu einem stärkeren militärischen Engagement Deutschlands angemahnt. Man könne nicht alles den Franzosen und den Amerikanern überlassen, sagte Schäuble den Zeitungen der „Funke Mediengruppe“ und dem französischen Blatt „Ouest-France“. Die Lehre aus Auschwitz könne kein Argument dafür sein, dauerhaft kein Engagement zu übernehmen oder sich wegzuducken. Er unterstütze in dieser Frage Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, die ebenfalls dafür werbe, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehme, sagte der CDU-Politiker.“ Ein Paradebeispiel für die subtil beeinflussende Verdrehung von Tatsachen in Verbindung mit einer vermeintlichen Moral-Totschlag-Keule. Danke für diesen erosiven Beitrag, Herr Sch.!

Na das ist ja mal endlich eine klare Positionsbestimmung durch den derzeitigen Bundesinnenminister auf dem „Europäischen Polizeikongress“, einer privat organisierten und staatlich finanzierten, eindeutig tendentiösen Veranstaltung, die die kritische Öffentlichkeit gerne scheut. In einem Bericht von Detlef Borchers auf heise.de vom 4.2.2020: „Gleichzeitig kritisierte Seehofer alle Ansätze „das Handeln der Polizei im Alltag politisch zu begleiten.“ Diese fortgesetzte Kritik sei schädlich für den Staat. Wer Probleme mit der Polizeiarbeit habe, könne ja gegen das Gewaltmonopol des Staates vor Gericht klagen, ergänzte Seehofer.“ As simpel as that: Wer Polizei, Polizeiarbeit und Polizeigesetzgebung bürger- und menschenrechtlich kritisch begleitet, der wird von Herrn Seehofer pauschal als Systemumwerfler bewertet. Und das ganz unabhängig davon, was man vom „Gewaltmonopol des Staates“ tatsächlich hält.

Auszug aus einem Interview des DLF-Redakteurs Dirk Müller mit dem Bundestagsabgeordneten Patrick Sensburg am 7.2.2020 über den Umgang mit Julian Assange: Sensburg: Ich sehe, dass Julian Assange Geheimnisverrat begangen hat. Das ist eine Straftat – übrigens nicht in Amerika nur. Das wäre auch bei uns eine Straftat. Deswegen existiert ein Haftbefehl. Müller: Über amerikanische Kriegsverbrechen hat er veröffentlicht. Sensburg: Es bleibt eingestuftes Material. Es bleibt eine Straftat. Sonst muss man die Gesetze ändern. Das ist nun mal so. Müller: Auch die Wahrheit kann strafbar sein? Sensburg: Selbstverständlich kann die Wahrheit strafbar sein, wenn sie in eingestuften Dokumenten steht. Wenn Sie Geheimnisse veröffentlichen, die Sie nicht veröffentlichen dürfen, teilweise sogar selbst bis als Journalist, dann kann das ein Problem werden.“ Herr Sensburg bewertet die Bekanntmachung von US-Kriegsverbrechen als eine Straftat. Eine klare moralische An- bzw. Absage des „CDU“-Politikers.

Der rechte „CDU“-Politiker Alexander Mitsch hat früher der AfD Geld gespendet und danach mit dem Anwalt Höcker, der sich in einem Neonazi-Online-Shop gerne mal illegalerweise einen „Migrantenschreck“-Revolver kauft, die „Werteunion“ als quasi CDU-innerparteiliche AfD-Splittergruppe gegründet. In einem Interview mit dem DLF-Redakteur Dirk Müller am 7.2.2020 verteidigt er logischerweise die Wahl des „FDP“-Politikers Kemmerich zum Ministerpräsidenten Thürigens auch durch die „AfD“: Müller: Dann reden wir über den Ministerpräsidenten, der es gestern noch war: Thomas Kemmerich. Hätten Sie ihn auch gewählt? Mitsch: Ich hätte ihn auch gewählt, weil ich der Meinung bin, dass ein FDP-Ministerpräsident zunächst mal besser ist als einer von der umbenannten SED. Müller: Obwohl Sie das Risiko AfD ja auch gekannt hätten? Mitsch: Wissen Sie, wir können nur für unser eigenes Handeln verantwortlich sein. (…) Mitsch: Ich bleibe dabei. Ein Kandidat und ein Ministerpräsident der FDP sollte uns lieber sein als einer der Linken. Und natürlich dürfen wir der AfD keine Möglichkeit einräumen, Einfluss auszuüben. Müller: Aber nur durch die AfD hat er die Wahl gewonnen! Nur durch die AfD! Das war die Voraussetzung dafür. Mitsch: Es gibt keine Zusammenarbeit mit den Linken oder der AfD und keine Koalition mit der AfD oder den Linken.“ U.a. bemerkenswert, wie Herr Mitsch im gesamten Interview die „Linkspartei“ stets als „umbenannte SED“ meint (de)klassifzieren zu können und ein neues Narrativ aufzubauen versucht.

Der ehemalige Inlands-Geheimdienst-Chef und neuer Führer der rechten „Werteunion“, Herr Maaßen, schreibt am 20.2.2020 nach dem Attentat in Hanau auf Twitter: „Sozialistische Logik: Täter sind immer rechts, Opfer immer links. Man braucht sich nicht mehr mit Stalin, Mao, Pol Pot, Ulbricht … auseinanderzusetzen, weil sie Nazis waren. Der Haken daran ist: nach dieser Denke sind sie selber rechts. Antifa=Nazis.“ und löscht diesen Tweet danach wieder …

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