„Wer sind wir? Wer wollen wir sein und was für ein Leben wollen wir führen?“ – Das Gegenteil von Luxus, sich solche Fragen zu stellen. Von der Bedeutung dieser Fragen und Fluchten und Ausbrüchen als Ausdruck der Suche nach Antworten. Eine Erinnerung an Peter Bieri.

Der Philosoph und Geschichtenschreiber Peter Bieri ist tot, schon vor gut einem Monat verstorben.

Hier als kleine Erinnerung an Peter Bieri ein knapp 8minütiges DLF-Interview mit dem Verstorbenen aus dem Frühling 2015, das unter dem Titel „Mut zum Risiko in den Zeiten der Armut“ veröffentlicht worden ist.

Außerdem einige – fast beliebig ausgwählte – Auszüge aus einem seiner lesenswerten Bücher, dem 2013 erschienenen Buch „Eine Art zu leben“, in dem es um Vielfalt menschlicher Würde geht (Hervorhebung in fett durch uns):

[S. 39f.]
Doch natürlich ist nicht jeder staatliche Eingriff in unser Leben eine Bevormundung, die unsere Würde verletzt. Parlamente erlassen Gesetze, und solche Gesetze sind oft Gebote und Verbote, die unseren Freiheitsspielraum einengen. Unsere individuelle Autorität wird dadurch verkleinert, und in diesem Sinne stellen Gesetze eine Bevormundung dar. Wir können jetzt nicht mehr alles, was wir vielleicht möchten. Das reicht vom Verkehr über das Eigentum und den Handel bis zu den Gesetzen, die uns Straftaten verbieten. Man schreibt uns vor, was wir zu tun haben: Helme tragen und Sicherheitsgurte anlegen, an bestimmten Orten nicht rauchen, nicht mit Drogen handeln, fremde Grundstücke nicht betreten, Eigentum nicht antasten, Leute nicht absichtlich verletzen oder aus dem Weg räumen. Wenn wir diese Dinge akzeptieren, dann deshalb, weil sie insgesamt das Ziel haben, unsere Würde zu schützen. Es geht nicht um die Unterwerfung unter despotische Macht, sondern um Verzicht auf Freiheit zum gesellschaftlichen Nutzen. Die Formel ist: Freiheit opfern für das Gemeinwohl, das auch gut für den Einzelnen ist. Das ist die Logik, mit der man uns die Bevormundung zumutet. Entscheidend ist, daß sie uns in jedem einzelnen Fall erklärt wird und wir sie nachvollziehen können. Das respektiert unsere Würde als Subjekte: als denkende, verstehende Wesen, die sich gegen unverständliche, blinde Zumutungen wehren. Wir können es im Einzelfall anders sehen, wir können die angeblichen Belege anzweifeln und die Beweiskraft der Argumente in Frage stellen. Solange wir die Freiheit haben, uns damit Gehör zu verschaffen und uns in die Diskussion einzumischen, wird die Würde nicht beschädigt. Das geschieht erst, wenn wir mundtot gemacht werden. Erst dann ist die Bevormundung eine Erfahrung der Ohnmacht und der Demütigung.

[S.67f.]
Was also ist der Unterschied zwischen Selbständigkeit und einer inneren Unselbständigkeit, die ein Problem für die Würde bedeutet? Der Unterschied hat mit dem zu tun, was uns zu Subjekten macht: Wir brauchen unser Leben, auch unser inneres Leben, nicht nur einfach geschehen zu lassen und brauchen uns von dem, was in unserem Inneren geschieht, nicht nur treiben zu lassen. Wir können das innere Geschehen zum Thema machen, es befragen und uns darum kümmern.
Was wir dabei tun können, und wie die erreichte Selbständigkeit aussieht, hängt von der Art des inneren Geschehens ab. Eine erste Form der Selbständigkeit ist die Selbständigkeit im Denken. Vieles, was wir denken, meinen und sagen, ist zunächst durch Nachahmung und Gewohnheit entstanden: Man hat es uns vorgesagt, und wir haben es nachgeplappert. Es funktioniert: es paßt zu dem, was die anderen plappern. Eine gedankliche Selbständigkeit, wie sie zur Lebensform der Würde gehört, zeigt sich in einer besonderen Wachheit gegenüber dem, was man denkt und sagt. »Was genau bedeutet das?« und »Woher eigentlich weiß ich das?«, sind die beiden Fragen, in denen sich diese Wachheit ausdrückt. Zur Selbständigkeit gehört, daß diese Fragen zur zweiten Natur werden. Sie sind geleitet von der Einsicht, daß vieles, was bedeutungsvoll klingt, ohne Bedeutung ist. Daß vieles, was wie ein Gedanke aussieht, keiner ist. Daß wir von vielem, was wir zu denken und zu glauben gewohnt sind, gar nicht wissen, warum wir es eigentlich denken und glauben. Und daß etwas, was wie ein teurer Gedanke aussieht, vielleicht nur ein billiger Spruch ist. Selbständig zu sein, heißt, skeptisch zu sein gegenüber leeren Worten und glatten Sprüchen. Es heißt, unnachgiebig und leidenschaftlich zu sein in der Suche nach Klarheit und gedanklicher Übersicht. Wer in diesem Sinne selbständig ist, hat das Bedürfnis, sich im eigenen Denken zu orientieren und seine Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Er hat in diesem umfassenden Sinn das Bedürfnis, sich seine eigene Meinung zu bilden. Er wird auf der Hut sein, wenn man ihn durch Sprüche und leere Worthülsen zu verführen und zu übertölpeln versucht. Er wird sich nicht bevormunden lassen in dem, was er für bedeutungsvoll und wahr hält. Er wird sich nichts vormachen lassen — nicht vom Stammtisch, nicht von Zeitungen, von Politikern, von der Familie, vom Clan. Er wird dem eigenen Verstand trauen. Den eigenen Begründungen und Beweisen. Den eigenen Erfahrungen. Er wird selbst Regie führen über das, was er denkt.

[S. 71]
In dem Maße, in dem wir durch selbständiges Denken Regie führen können über unser Wollen und Tun, haben wir eine offene Zukunft, und diese Offenheit ist ein wichtiger Aspekt an der Erfahrung der inneren Selbständigkeit. Natürlich entscheiden oft andere darüber, was um uns herum und mit uns geschieht, und in diesem Sinne sind wir abhängig, nicht selbständig. Und die anderen können uns durch ihr tyrannisches Tun die Zukunft verbauen, durch eine Mauer oder auf andere Weise. Aber wenn es darum geht, was wir unter gegebenen Umständen wollen und wozu wir uns entscheiden, gibt es diese Offenheit der Zukunft: Wir können Verschiedenes wollen und uns für Verschiedenes entscheiden. Es ist nicht so, daß uns die Vergangenheit unwiderruflich festlegt und einschnürt. Wir müssen unter ihrem Einfluß nicht versteinern. Wir können uns von der Vergangenheit des Erlebens und Wollens distanzieren. Wir können uns verändern. Diese erlebte Offenheit der Zukunft ist die zeitliche Erscheinungsform der inneren Selbständigkeit.

Die „Offenheit der Zukunft“ korrespondiert dabei mit dem Motto „keep the future unwritten“ des capulcu-Kollektivs, etwas, um das mensch sich zurecht Sorgen machen darf …

Nachrufe, weitaus klügere, gibt es viele, an dieser Stelle nur beispielhaft genannt einer von der Freien Universität in Berlin.

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