freiheitsfoo hat den langjährigen ehemaligen Polizeibeamten Michael Schütte darum gebeten, seine aktuelle Einschätzung zur Frage von Rassismus und Extremismus in den Reihen der Polizei abzugeben. Uns interessierte auch, ob ein Einstellungswandel innerhalb der Polizei erkennbar ist. Wir veröffentlichten hiermit seine Stellungnahme. Er strukturiert seinen Aufsatz mittels dreier „größerer Entwicklungslinien“ wie folgt:
- Organisationale Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsschemata, die militärischer Logik folgen.
- Das Profiling der Polizei in ethnozentrischen Kontexten als verdrängtes strukturelles Problem.
- Eine enorme Ausweitung der selbst gestellten Aufgaben und Anwendung ihrer Befugnisse, bei gleichzeitiger Forderung von immer mehr Ressourcen und Ermächtigungen, bis hin zur immer engeren Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten, die einher geht mit einer enormen medialen und politischen Aufladung von Themen der „Innere Sicherheit“.
Hier nun der Beitrag in voller Länge:
Rassismus und Extremismus in der Polizei
Zum Einstieg in das Thema sollten wir uns zunächst einmal die Dimension des Problems kurz vor Augen führen. Die haben zuletzt die Sprachkritiker des Web-Projekts Floskelwolke mit ihrer Prämierung für das Jahr 2020 sehr anschaulich auf den Punkt gebracht. Aus insgesamt 178 Vorschlägen haben sie die Bezeichnung „Einzelfälle“ in Bezug auf Rechtsextremismus in den Reihen der Polizei zur Floskel des Jahres erhoben und damit gegen die unrühmliche Verharmlosung des Problems auf Seiten von Politik und Polizei ein richtiges und wichtiges Zeichen gesetzt.
Für eine inhaltliche Annäherung in der Fragestellung: „Gibt es einen Einstellungswandel bei PolizistInnen, der in Rassismus und Extremismus führen kann“, sind für mich drei größere Entwicklungslinien in der Polizei von Bedeutung, die gerade in jüngeren Jahren an Dynamik deutlich zugelegt haben.
Organisationale Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsschemata, die militärischer Logik folgen.
Beispielhaft zu nennen ist hier der Diskurs um vermeintlich zunehmende Gewalt gegen PolizistInnen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zählt mittlerweile mehr als 85.000 PolizistInnen als „Opfer von Gewalt“ innerhalb eines einzigen Jahres (zuletzt Bundeskriminalamt zur PKS 2020). Eine äußerst fragwürdige Opfererzählung, die hier betrieben wird, die aber gleichwohl nachhaltige Wirkungen in Hinblick auf eine mentale und materielle Aufrüstung in den Reihen der Polizei entfaltet.
Zur Frage, woher diese enormen Opferzahlen in den Reihen der Polizei resultieren, ist zunächst festzustellen, dass die Strafrechtsparagrafen für Gewalt, Widerstand und so genannte „tätliche Angriffe“ auf PolizistInnen in jüngster Vergangenheit mehrfach neu gefasst, erweitert und in ihren Umständen (Tatbestandsmerkmalen) sowie den jeweiligen Strafandrohungen enorm ausgeweitet wurden. Was dabei als Gewalt, „Angriff“ oder Widerstand gewertet wird, damit Strafanzeigen der Polizei zur Folge hat und mithin Eingang in die Statistik (PKS) findet, liegt wegen besonders schwammig gehaltener Paragrafen weitestgehend in der Definitionsmacht betroffener PolizistInnen – und das bei enorm hoher Bereitschaft zur Erstattung entsprechender Anzeigen. Alles Mögliche im betreffenden Zusammenhang zur Anzeige zu bringen, ist mittlerweile eine der zentralen Konsensfiktionen in den Reihen der Polizei. Und dabei sind solche Konsensfiktionen in Organisationen wesentlich handlungsleitende Elemente. Es geht dabei nicht um „Wahrheit“. Tauglich ist vielmehr jede Fiktion, wenn sie denn Konsens ist, gerade auch gegen die „Wahrheit“, weil Gegenargumente gar nicht mehr vorgebracht werden können und dürfen. Solche Kollegialitätsnormen funktionieren zugleich viel effektiver als Anordnungen und sogar gegen den vorgegebenen (Rechts-) Rahmen (vergl. Prof. Dr. Stephan Kühl).
Um derart enorme Opferzahlen in den Reihen der Polizei abbilden zu können, wurden die Erfassungsrichtlinien zur PKS vor gar nicht langer Zeit geändert und extra auf diesen Zweck ausgerichtet. Solche Regelungen in den Erfassungsrichtlinien zur Opferzählung bestehen weder so noch annähernd für irgendeine andere Berufsgruppe sonst. Mit diesen PKS-Zahlen findet die Opfererzählung der Polizei also immer neue Nahrung. Dem folgen dann regelmäßig Forderungen „der Polizei“ (Management / Innenpolitik / Berufsvertretungen) nach mehr Ausstattung und noch schärferen Gesetzen. Wissenschaftler kritisieren seit langem die Praxis „der Polizei“ sich über die Maßen zum Opfer zu stilisieren und in diesem Kontext in hoher Zahl BürgerInnen justiziabler Strafverfolgung auszusetzen – sie also immer mehr auch bewusst ungerechtfertigt zu kriminalisieren. Übrigens immer wieder auch, um eigene Fehler und überzogene Polizeigewalt zu verdecken oder entsprechend zu erwartenden Anschuldigungen proaktiv ihrerseits mit Vorwürfen entgegen zu treten.
Insoweit sind 85.000 Opfer innerhalb eines Jahres in den Reihen der Polizei tatsächlich eine erschreckende Zahl – aber weit mehr steht diese Zahl mittlerweile für den Schrecken und die Lage, in die BürgerInnen durch die Praxis der Polizei und entsprechende Kriminalisierung immer leichter und immer häufiger geraten. Dabei ist gleichwohl zu konstatieren, dass PolizistInnen sich gar nicht primär als Opfer sehen (vergl. etwa Ausführungen des Sozialwissenschaftlers Rafael Behr). PolizistInnen ziehen vielmehr aus betreffenden Situationen eine Art „(Selbst-) Ermächtigung“ zur Abgrenzung vom Gegenüber einerseits und eine Art „Befugnis“ zur (vorauseilenden) Gewaltanwendung andererseits. Das zeigt immer deutlicher Ansätze einer allgemeinen Rechtfertigung zum „präventiven Erstschlag“. Wir müssen also registrieren, dass die Opfererzählung in den Reihen der Polizei gerade auch eine (Polizei-) Gewalt legitimierende Funktion hat und eine mentale Aufrüstung bei PolizistInnen begründet, die eben auch in eine Radikalisierung führt. Es müsste insofern gerade auch in den Reihen der Polizei verstärkt um Gewaltprävention gehen, also um die Förderung und Entwicklung spezieller sozialkognitiver Kompetenzen – nämlich die Fähigkeit zum Konfliktmanagement, zur Impulskontrolle, zur Perspektivenübernahme und zum moralischen Urteil.
Das Profiling der Polizei in ethnozentrischen Kontexten als verdrängtes strukturelles Problem.
Beispielhaft ist hier die „Computerisierung“ polizeilicher Lagebilder zu nennen. Lagebilder der Polizei sind Zustandsbeschreibungen und Ausblicke zu Phänomenen oder Ereignissen, mit denen die Polizei sich im Zeitalter von Copy-and-Paste quasi im Kreis und um sich selber dreht. Ihre Lagebilder, auch wenn sie gern so daher kommen oder wahrgenommen werden, sind jedoch keine objektiven Um- und Zustandsbeschreibungen. Obwohl sie in gewissem Rahmen mit objektivierbaren Umständen agieren, konstruieren sie in Anlage und Ergebnis eine (vermeintliche) Wirklichkeit in Form so genannter Brennpunkte bzw. möglicher / zu erwartender Störungen, aus denen wiederum die Notwendigkeit zu verstärkten polizeilichen Aktivitäten abgeleitet wird. Diese wiederum verstärken die Einschätzungen der Umstände / Ereignisse / Gebiete als Brennpunkte, um daraus erneut und noch mehr Bedarf für noch weitergehende polizeiliche Aktivitäten abzuleiten. Ein Kreislauf der im Ergebnis vielfach gerade auch in ethnozentrische Stigmatisierung führt und damit letztlich in ein Racial Profiling mündet.
Gleichwohl stellt die Polizei ein Racial Profiling gern vollständig in Abrede. Ihre Kontrollpraxis beruhe vielmehr auf Criminal- oder Behavior-Profiling. Es sollen also nicht ethnozentrische Kriterien wie Hautfarbe oder Herkunft ihre Kontrollpraxis bestimmen, sondern vielmehr kriminalistische Erfahrungen oder die Wahrnehmung von für Täter typischen Verhaltensweisen. Wenn aber eine ständige Kontrollpraxis (über Lagebilder, eine darauf aufbauende Besprechungskultur und dementsprechend fortgesetzte Attribution) auf strukturell ethnozentrischen Vorannahmen beruht (im „Polizeisprech“: „schwarzafrikanische Drogendealer – Drogendealer = Schwarzafrikaner“), dann verstärken solche Vorannahmen die Kontrollpraxis der Polizei in eben genau diesen Zusammenhängen. So wird der (Polizeisprech) „schwarzafrikanische Drogendieler“ zum polizeilichen Brennpunkt und am Ende richtet sich die Kontrollpraxis der Polizei verstärkt auf Menschen entsprechender Hautfarbe.
Die ständigen Kontrollen aufgrund des äußeren ethnozentrischen Merkmals „Hautfarbe“ wiederum bewirken eine Stigmatisierung in der öffentlichen Wahrnehmung anhand äußerer ethnografischer Merkmale (eben wie Hautfarbe) und reproduzieren damit fortgesetzt Vorurteile. Das funktioniert in gleicher Weise mit zugleich enorm medial aufgeladenen Verdachtsrastern der Polizei, wie etwa unter dem aktuell immer wieder gern bemühten Stichwort der so genannten „Clan-Kriminalität“. Dabei wird gerade hier selbst anhand ihrer eigenen Verlautbarungen zum Thema besonders deutlich, das die Intervention der Polizei sich nicht etwa an konkreten Verdachtslagen oder gar Tatvorwürfen orientiert, sondern vielmehr an der Konstruktion ethnozentrischer Zuschreibungen in Zusammenhängen von Herkunft / Gruppen- bzw. Familienzugehörigkeit (etc.).
Ermittlungs- und Kontrollpraktiken der Polizei tendieren gerade auch deswegen zum Racial-Profiling, weil die Binnenkultur der Polizei im Ergebnis ihrer geübten Praxis zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit neigt (vor allem durch Vorannahmen, die auf vermeintlich kriminalistischer Erfahrung beruhen). In der Kultur der Polizei haben „Respektverweigerung“ eines Gegenübers, die starke Fokussierung auf ihre Opferrolle und eine zunehmend als feindlich empfundene Außenwelt mittlerweile eine alles überlagernde Funktion. Im Ergebnis dieser Entwicklung manifestieren sich feindselige Einstellungen in den Reihen von Polizeibeschäftigten und machen sich Vorstellungen breit, dass nur noch ein regressiv ausgerichteter und handelnder Kontrollapparat das empfundene „Chaos“ in den Griff bekommen könne. Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen gewinnen so in der Binnenkultur der Polizei immer mehr Raum. Dem folgt (verstärkend) eine selbstreferenzielle Ausrichtung in Einstellungen und Handeln eben gerade durch die Praxis in der Erstellung ihrer „Lagebilder“, die in ihren möglichen (konstruierten) Bedrohungsszenarien immer weiter anwachsen und nach allen Seiten geradezu ausfransen.
Zu dieser problematischen Entwicklung zählt auch, dass die verschiedenen (um Mitgliederzahlen konkurrierenden) Polizeigewerkschaften sich seit Jahrzehnten darin gefallen, ihre Rolle einer Berufsvertretung bei weitem zu überschreiten, indem sie mit unausgesetzten Forderungskatalogen und ebensolcher politischer Einmischung in Belange „Innerer Sicherheit“ eine darüber hinausgehende gesellschaftliche Funktion reklamieren. Zugleich werden die betreffenden Forderungen von InnenpolitikerInnen besonders gern aufgegriffen, um wiederum ihrerseits im Politgeschehen reüssieren zu können. Wir kennen doch alle die unausgesetzten Forderungen nach mehr Polizei, mehr Ausstattung und weiter reichenden Befugnissen, die im politischen Raum immer wieder erhoben und aufgesattelt werden. Für das Ergebnis dieser Entwicklung konstatiert Rolf Gössner dann auch sehr treffend den „Präventiv-autoritären-Sicherheitsstaat“ – mit allen seinen negativen Folgen für Bürger- und Freiheitsrechte, die mit dieser Entwicklung einher gehen. Gerade auch das gültige niedersächsische Polizeigesetz zeigt doch sehr deutlich, dass der gesetzgeberische Wille sich hier nicht aus Evidenzbasierung speist, sondern aus politischer Opportunität.
Am Ende dieser unausgesetzten Spirale stehen in den Reihen der Polizei jedenfalls vielfach ein Einschreiten und Kontrollen auf der Grundlage stereotyper Verdachtsmuster – und die sind eben tatsächlich vielfach ethnozentrisch konnotiert und befördern damit fortlaufend entsprechende Einstellungsmuster. Auf der Seite der Betroffenen besteht wiederum die Problematik der Sekundärviktimisierung durch Bagatellisierung dieser immer wieder erlebten Diskriminierungen. Eine daraus folgende Ablehnung der Polizei und andererseits auf Seiten der Polizei immer wieder beklagte „Respektlosigkeit“ ihres Gegenübers sind aber aufgrund der Praxis der Polizei in hohem Maße selbstreferenziell, also durch sie selbst und die Art ihres Einschreitens ganz wesentlich mit verursacht.
Eine enorme Ausweitung der selbst gestellten Aufgaben und Anwendung ihrer Befugnisse, bei gleichzeitiger Forderung von immer mehr Ressourcen und Ermächtigungen, bis hin zur immer engeren Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten, die einher geht mit einer enormen medialen und politischen Aufladung von Themen der „Innere Sicherheit“.
Und das bei seit Jahren deutlichen Rückgängen in der tatsächlich polizeilich registrierten Kriminalität. Je weniger Kriminalität die Polizei registriert, desto mehr scheint sie zu unternehmen, um Phänomene zu konstruieren, die sie in hohem Maße auch medial unterstützt auflädt, um die Notwendigkeit ihrer überall ausufernden Interventionen (mit immer mehr Personal / Einsatzkräften genauso wie mit immer martialischerem Auftreten) zu begründen. Das bildet zugleich eine Art Gegenentwurf zur Hilflosigkeit, weil ihre Präventionsregime eben immer wieder auch so ganz offensichtlich versagen, wenn etwa Terrorereignisse scheinbar aus dem Nichts über uns hereinbrechen.
Und natürlich haben diese Punkte in ihren unterschiedlichen praktischen Facetten durchgreifende Wirkungen auf die Einstellungsmuster und den Wertkanonen von PolizistInnen, was sich am Ende gerade auch in Entwicklungen hin zu Rassismus und Extremismus bemerkbar machen kann. Sozialwissenschaftlich würde man sagen: Das Denken und Handeln von Menschen wird nicht durch ihre Situation, sondern durch ihre Wahrnehmung der Situation bestimmt. Eine Polizei, die ihre Umwelt zunehmend als feindselig wahrnimmt, wird auch immer deutlicher wie in einer feindlichen Umgebung agieren. Das ist im Grunde das Gegenteil ihres (verfassungsmäßigen) Auftrags und ihrer Frieden stiftenden Funktion, denn es leistet der Eskalation Vorschub und hat zur Folge, dass sich die Spirale der Wahrnehmung feindlicher Bedingungen bei ihr zunehmend verschärft. Und anstatt sich hier (selbst-)kritisch auseinanderzusetzen, erhebt „die Polizei“ immer neue Forderungen nach mehr vom Selben, um in dieser vermeintlich feindlichen Umgebung bestehen zu können.
Insoweit befinden wir uns hier tatsächlich in einem Teufelskreis, der sicher auch geeignet ist, Ressentiments und Feindbilder in den Reihen der Polizei soweit zu verstärken, das dem eine fortschreitende Radikalisierung folgt.
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Die hier aufgezeigten Entwicklungslinien der Polizei sind jedenfalls sicher keine gute Basis für die organisationskulturelle Entwicklung einer Polizei in einem freiheitlichen Gemeinwesen. Und dabei geht es gar nicht darum, etwa die Vorbereitung der Polizei auf anstehende Ereignisse mithilfe ihrer Lagebilder an sich infrage zu stellen – um hier beispielhaft einen Anknüpfungspunkt meiner Ausführungen herauszugreifen. Es geht vielmehr darum, dass die Polizei eine Kultur der Offenheit entwickeln und pflegen muß und den Austausch sowie (selbst-) kritische Auseinandersetzung in ihrem Wertekanon benötigt, um sich immer wieder neu in ihren Einschätzungen und ihrem Handeln auf den Prüfstand stellen zu können. Notwendig ist ein „Korrektiv“, das in Praxis und Kultur prozedural fest verankert ist und Wirkung im Sinne eines „Sich-selbst-Hinterfragen“ entfaltet. Es braucht Werkzeuge, die eine Abrüstung der Polizei wirksam unterstützen – und das vor allem mental. Das kann die Polizei allerdings beim Stand der Dinge sicher nicht allein und aus sich heraus bewerkstelligen. Sie müsste vielmehr bereit und verpflichtet sein, etwa anhand von Fehlern eine kritische Aufarbeitung mit der Unterstützung von zivilen Akteuren zuzulassen. Die Technik der Mediation ist hier sicher eine Möglichkeit, mit einer anderen Herangehensweise an Fehler und Fehlverhalten tatsächlich einen Ausgleich und ein aufeinander zu gehen zu bewerkstelligen. Es geht letztlich um die Frage der Kultur in der Polizei, weil ihre Kultur oder der Wertekanon in ihrer Praxis ihr Auftreten und ihr Handeln bestimmen. Hier ist eben gerade nicht immer mehr Abschottung und Abgrenzung sondern ganz im Gegenteil mehr Öffnung und Offenheit dringend nötig.