Am 6.8.2022 fand in Wolfsburg das Fußball-Bundesliga-Spiel VfL Wolfsburg gegen den SV Werder Bremen statt. Es war der erste Spieltag der neuen Bundesligasaison.
Dazu hatte die vor Ort zuständige Polizeiinspektion Wolfsburg-Helmstedt eine Kontrollstelle – angeblich – auf Grundlage des umstrittenen Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes (§ 14 NPOG) eingerichtet. Werder-Fans konnten nicht zu ihrem Spiel gelangen, ohne sich – pauschal und im Detail grundlos – einer potentiellen Kontrolle und Durchsuchung durch die Polizei zu unterziehen. Nach Berichten aus der Fanszene soll es dabei Durchsuchungen „bis auf die Haut“ und zu Diskriminierungen gekommen sein. Die Polizei vor Ort habe „Zwangsmaßnahmen“ bei Nichtzustimmung angedroht. „Zwangsmaßnahmen“ – ein allgemeiner Terminus, der auch Schmerzgriffe und den Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray bedeutet, zumindest bedeuten kann.
In einer Pressemitteilung vom 7.8.2022 kommentierte die Polizei ihre eigene Maßnahme und begann bereits damit, sich dafür zu rechtfertigen (Auszüge aus der PM, Hervorhebungen durch uns):
„Die Anordnung der dann am Hauptbahnhof Wolfsburg eingerichteten Kontrollstelle erlaubte im Hinblick auf die Abwehr der oben genannten schweren Gesundheitsgefahr sowohl die Personalienfeststellung, als auch die Durchsuchung der in der Kontrollstelle angetroffenen Personen und ihrer mitgeführten Sachen. Gleichwohl wurden diese Maßnahmen in einem stark differenzierenden und abgestuften Verfahren durchgeführt. Personen, die nicht den Risikogruppen zugeordnet werden konnten, konnten den Bahnhof sofort nach ihrer Ankunft ohne weitere polizeiliche Maßnahmen verlassen und ihren Weg in Richtung Volkswagen-Arena oder in das sonstige Stadtgebiet fortsetzen. Dies betraf ausdrücklich auch deutlich erkennbare Fans des SV Werder Bremen, die ohne polizeiliche Kontrolle und teilweise völlig ohne polizeiliche Begleitung die Volkswagen-Arena erreichten. Auch Personen, die den Risikogruppen zuzuordnen waren, setzten nach erfolgter abgestufter Kontrolle ihren Weg in die Volkswagen-Arena fort. Die polizeilichen Maßnahmen wurden sowohl über Lautsprecher, als auch persönlich durch die eingesetzten Polizeikräfte an alle Personen an der Kontrollstelle deutlich kommuniziert. Darüber hinaus bestand zu keiner Zeit ein Zwang, sich den polizeilichen Kontrollmaßnahmen zu unterziehen. Personen, die eine solche Kontrolle für sich ablehnten, konnten entweder unkontrolliert am oder im Bahnhof verbleiben oder auch ihre Reise einfach fortsetzen. So entschieden sich dann auch ca. 270 Personen der Risikoszene dazu, die Rückreise nach Bremen anzutreten. Unabhängig von der Kontrollstelle, wurde erkennbaren Risikopersonen aufgrund einer individuellen Gefahrenprognose der Aufenthalt in der Innenstadt temporär untersagt, um ein Aufeinandertreffen mit Risikogruppen des rivalisierenden Vereins zu verhindern, was deutschlandweit und auch in Wolfsburg seit Jahrzehnten so praktiziert wird. Diese Personen wurden in polizeilicher Begleitung zur Volkswagen-Arena geleitet. Die Kontrollmaßnahmen verliefen insgesamt vollkommen entspannt und störungsfrei. (…) Der Polizeivizepräsident der Polizeidirektion Braunschweig, Roger Fladung, begleitete das Auftaktspiel: „Ich hatte Gelegenheit, den Einsatz zu begleiten und auch am Bahnhof die polizeilichen Maßnahmen zu beobachten. (…) Die Durchsagen der Polizei vor Ort haben die Maßnahmen erklärt und es war nach meinen Beobachtungen ein ruhiger, geordneter Ablauf. (…)““
Bevor wir zum Eigentlichen kommen, zwei Anmerkungen vorab:
- Es ist bedrückend zu sehen, welche Befugnis die Polizei erhält (oder sich selber zuteilt), wenn die von ihr – neutral unkontrollierte – Entscheidung darüber, ob ein Fußball-Fan einer „Risikogruppe“ zugeordnet wird oder nicht für ebendiesen derart krasse Konsequenzen hat. (Alleine die Nutzung des Begriffs der „Risikogruppe“ in diesem Kontext wäre eine eigene Diskussion wert.)
- Das Fußballfans „ohne polizeiliche Kontrolle und teilweise völlig ohne polizeiliche Begleitung“ zum Fußballstadion spazieren, das scheint der Polizei eine betonungswerte Errungenschaft einer freiheitlichen Gesellschaft, jedenfalls aber keine Selbstverständlichkeit, sondern ein polizeilicher Gnadenakt zu sein …
- Es ist süffisant, wenn die Polizei ebenso gnädiglich zuerkennt, dass doch niemand gezwungen worden sei, sich der polizeilichen „Kontrolle“ zu unterziehen. Die Alternativen, sich stundenlang am Bahnhof – gleich einem Gefängnis – aufzuhalten oder aber gleich mit dem nächsten Zug wieder heimzufahren, sind jedoch keine echten Alternativen. Jedenfalls nicht für einen Fußballfan, der extra aus Bremen nach Wolfsburg angereist ist. Und das sicher nicht, um sich dort den schmucklosen Bahnhof stundenlang von innen anzusehen.
- Dass Fußballfans der Aufenthalt im öffentlichen Raum der Innenstadt „temporär“ verboten wird, das mag usus sein, wenn vielleicht auch nicht „jahrzehntelang“, wie die Polizei verkündet. Das heißt allerdings nicht, dass es rechtens und gute Sitte ist.
Doch nun zum eigentlichen Kern dieses Beitrags:
Fußball-Fans des Werder Bremen waren sich dagegen schnell einig, dass sich diese Polizeiaktion selbst mit dem von SPD und CDU unter Protesten aufgebohrten noch recht frischen Landespolizeigesetz NPOG nicht in Einklang bringne lassen und kündigten Klage gegen diese repressive Maßnahmen an. Zunächst die taz, dann auch der NDR berichteten daraufhin am 9.8. und 10.8.2022 zur Sache. Das brachte die Diskussion bis in ministerielle Kreise und der derzeitige niedersächsische Innenminister Pistorius (SPD) sah sich genötigt, sich des Themas anzunehmen. Nur kurz nach unserer ersten Presseanfrage zum Vorgang meldete sich das Innenministerium am 12.8.2022 mit einer Pressemitteilung zu Wort (Auszüge, Hervorhebungen durch uns):
„(…) Die PI Wolfsburg/Helmstedt hat ihre Maßnahmen am Bahnhof Wolfsburg allerdings selbst als „Kontrollstelle“ bezeichnet. An einer solchen „Kontrollstelle“ müssen sich nach § 14 des Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes (NPOG) nicht nur bestimmte verdächtige Personen, sondern alle Passantinnen und Passanten durchsuchen lassen.
Dafür lagen in dem konkreten Fall nicht die notwendigen Voraussetzungen vor – weder im Hinblick auf die Gefahr der Verwendung von Pyrotechnik im Stadion, noch hinsichtlich möglicher körperlicher Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fangruppen. Denn eine Voraussetzung des § 14 NPOG ist, dass von der Begehung von Straftaten von erheblicher Bedeutung wie etwa schweren Körperverletzungen oder Landfriedensbruch ausgegangen werden kann. Eine solche Einschätzung wäre in diesem konkreten Fall nach Prüfung des Landespolizeipräsidiums zu weitgehend gewesen.
Die PD Braunschweig hat berichtet, dass die Kontrollmaßnahmen tatsächlich so durchgeführt wurden, dass davon nur szeneangehörige Personen betroffen waren. Unbeteiligte sowie die große Mehrzahl der Gästefans hätten die eingerichtete Stelle ohne Kontrolle passieren können. Zudem wurde seitens der PD Braunschweig eingeräumt, dass die ersten Durchsagen und mögliche Aufenthaltsverbote zunächst zu pauschal waren; allerdings wurden die Durchsagen nach einiger Zeit korrigiert.
Der Niedersächsische Minister für Inneres und Sport, Boris Pistorius, sagt: „Zur Fehlerkultur in einer modernen Polizei gehört auch, dass entsprechende Fehler erkannt und benannt werden. Nur so kann man es zukünftig besser machen. Darum hatte ich bereits am Tag nach dem Spiel den jetzt ausgewerteten Bericht angefordert. Die Prüfung hat ergeben, dass die Gefahrenprognose und die Maßnahmen der Polizei grundsätzlich zutreffend waren und lediglich der gewählte Rahmen einer Kontrollstelle nicht richtig war. Die konkreten Hinweise des Landespolizeipräsidiums werden jetzt im engen und vertrauensvollen Austausch erörtert. (…)“
Fünf Tage später erhielten wir unsere erste Presseanfrage – mehr oder weniger – beantwortet. Weitere Rückfragen und Antworten folgten bis Ende August 2022.
Für uns ergibt sich daraus folgende, über das bisher berichtete hinausgehend an weiteren Informationen:
- Fußballspiele werden von der Polizei in die Kategorien „neutral“, „rivalisierend“ oder „feindschaftlich“ einsortiert. Das hier betreffende Spiel wurde dem VfL Wolfsburg den Polizeiangaben zufolge am 11.7.2022 als „rivalisierend“ bewertet und ist nach Meinung der Behörde dafür zuständig, dass auch der Gastverein (Werder Bremen) darüber informiert wird. Uns ist nicht bekannt, ob und wann das geschehen ist.
- Davon unabhängig ist diese ebengenannte Einstufung nur ein Kritierum für die polizeiliche Gefährdungsanalyse. Die polizeiliche „Risikobewertung der Gefahr eines gewaltbereiten Aufeinandertreffens“ sei ein weiteres wesentliches Kriterium hierfür.
- Und in dem Zusammenhang teilte uns die Polizei mit: „Am Spieltag, gegen 08:00 Uhr, wurde durch die Bundespolizei festgestellt, dass zwei Gruppen der Bremer Ultragruppierungen, die nach unseren Erkenntnissen das übermäßige Abbrennen von Pyrotechnik auch in Wolfsburg beabsichtigen würden, sowie gegenüber der Wolfsburger Heimszene als rivalisierend und gewaltbereit bei Aufeinandertreffen einzuordnen wären, bereits vorzeitig mit der Bahn in Richtung Wolfsburg anreisten. Hierbei wurde festgestellt, dass eine Gruppierung nicht von Hauptbahnhof Bremen, sondern unbegleitet von einem Nebenbahnhof, anreisen werde.“ Ob es sich hierbei um „Feststellungen“ durch Bundspolizist*innen in Uniform oder in Zivil – also um verdeckte, heimlich agierende Ermittler – handelt, möchte uns die Polizei nicht mitteilen.
- Während sich die – aus der Sicht der Polizei – aktuelle Lage also erst am Morgen des 6.8.2022 offenbarte wurde die Kontrollstellenanordnung bereits am 4.8.2022 verfügt! Was der Anlass dafür gewesen ist, wird nicht mitgeteilt. Auch nicht, um welche Uhrzeit am 4.8. die Anordnung erlassen worden ist.
- Die Kontrollstellenanordnung sei nicht öffentlich, so die Polizei. Eine Einsichtnahme wurde uns gegenüber verweigert. Auf Nachfrage, wie man denn die Anordnung überprüfen können bzw. welchen Rechtsschutz es dagegen gibt, entgegnet die Polizei: „Einsichtrecht steht lediglich von der Maßnahme betroffenen Personen zu. Diesen steht gegebenenfalls auch der Rechtsweg offen.“ Das ist nun aber absurd. Um sich gegen die Kontrollstelle wehren zu können, muss man sich dieser zunächst unterziehen, was einen Kontakt mit der Polizei, vermutlich auch mindestens eine Identifizierung der Person bedingt. Den mutmasslich 270 Fans, die aus persönlichen Gründen sich dazu entschieden haben, sich der polizeilichen Behandlung nicht unterwerfen zu wollen, wird damit faktisch kein Rechtsschutz zugestanden.
- 168 Menschen wurden von der Polizei „überprüft“. Unserer Frage, ob und inwieweit deren persönlichen Daten jenseits des polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystems NIVADIS auch an andere weitergeleitet oder in andere Datensammlungen Eingang gefunden haben, dieser Frage weicht die Polizei verbal aus und bezieht dazu explizit keine Stellung. Und selbst, als wir noch einmal ausdrücklich dazu nachfragen und unsere Frage wiederholen, antwortet die Polizei repetierend: „Die am 06.08.2022 bei Identitätsfeststellungen erhobenen Daten wurden im polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystem erfasst.“ Das lässt Schlimmes ahnen, dass nämlich die Daten der von der Polizei kontrollierten und durchsuchten und damit erfassten Menschen auch an andere Stellen weitergeleitet worden sind, über die die Polizei lieber nicht sprechen möchte. Warum sonst sollte unsere klare Frage zweifach verbal umschifft und ausgesessen werden?
- Zum Schluß noch ein weiterer bitterer Punkt. Die Kontrollstelle sei „durch die einsatzführende Polizeiinspektion Wolfsburg-Helmstedt angeordnet“ worden. Wir haben nachgefragt, welche behördliche und vor allem personelle Konsequenzen die rechtswidrige Kontrollstellenanordnung nach sich ziehe. Darauf antwortet die Polizei floskelhaft und gehaltfrei: „Jeder polizeiliche Einsatz wird intensiv nachbereitet. Daraus gewonnene Erkenntnisse fließen in die Vorbereitung und Durchführung künftiger Einsätze ein.“ Das wollten wir nicht so stehen lassen und fragten erneut nach, ob es personelle Konsequenzen gab oder geben könne und falls ja, welcher Art diese sein könnten. Auch dazu wollte uns die Polizei keine Auskunft erteilen und schrieb zurück: „Die Entscheidung, ob die von Ihnen angesprochene Anordnung der Kontrollstelle rechtswidrig war oder nicht, obliegt den Verwaltungsgerichten. Grundsätzlich nehmen wir zu Fragen personeller Konsequenzen aus Gründen des besonderen Schutzes von Persönlichkeitsrechten möglicher Betroffener keine Stellung.“ Das interpretieren wir wie folgt: Die Polizei entzieht sich der öffentlichen Rechenschaft gegenüber der Gesellschaft darüber, ob polizeiinterne Rechtsbrüche folgenlos bleiben oder nicht. Von der von Herrn Pistorius betonten „Fehlerkultur“ keine Spur. Es darf befürchtet werden, dass der oder die Verantwortliche*n ungesühnt und uneingeschränkt weiter polizeilich wirken werden dürfen. Diese nährt die Annahme, dass Polizist*innen in der Praxis besser gestellte Menschen als die Menschen der restlichen Gesellschaft sind …