Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Vorratsdatenspeicherung: Bundesinnenministerin Faeser will IP-Vorratsdatenspeicherung durchsetzen und offenbart in einem Interview ihren Mangel an Kenntnis und die Nichtigkeit ihrer Argumente – Eine Analyse

Nancy Faeser, 2019, Bild: Olaf Kosinsky (kosinsky.eu), Bearbeitung: freiheitsfoo, Lizenz: CC BY SA 3.0-de

Eine kurze Chronologie der vergangenen Woche:

Montag, 19.9.2022: Einen Tag vor der anstehenden Entscheidung des EuGH zur Gesetzgebung der Vorratsdatenspeicherung (VDS) in Deutschland warnen Gruppen der Zivilgesellschaft sowie Fachleute in einem offenen Brief vor der Einführung einer Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen.

Dienstag, 20.9.2022: Der Europäische Gerichtshof erklärt die deutsche Gesetzgebung zur VDS (erneut!) als mit der EU-Grundrechtecharta unvereinbar. (EuGH-Pressemitteilungen 156/22 und 157/22)

Mittwoch, 21.9.2022: Die derzeitige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärt in einem Interview mit dem DLF, dass sie die IP-VDS wieder einführen möchte. (Text/mp3)

Aus diesem Interview möchten wir einige Passagen zitieren, um daran Unrichtigkeiten in der Darstellung von Frau Faeser aufzuzeigen. Das Interview mit der Bundesinnenministerin führte Philipp May vom Deutschlandfunk:

May: Aber jetzt steht nun mal im Koalitionsvertrag recht klar, dass Daten rechtssicher anlassbezogen gespeichert werden sollen. Das deckt ja die Sichtweise von Marco Buschmann, dass auch eine anlasslose Speicherung von IP-Adressen nicht möglich sein soll. Haben Sie da nicht aufgepasst bei den Koalitionsverhandlungen?
Faeser: Doch und deswegen steht ausdrücklich im Koalitionsvertrag das Abwarten des Europäischen Gerichtshofs-Urteils drin. Es gibt einen ausdrücklichen Bezug dazu, weil wir abwarten wollten, was das Gericht entscheidet, was rechtssicher möglich ist.
May: Aber anlassbezogen steht da nun mal drin. Das kann man nicht wegdiskutieren.
Faeser: Nein, das kann man nicht wegdiskutieren. Es geht ja auch darum, dass wir nur anlassbezogen eingreifen. Das ist ja die Unterscheidung. Es geht ja nicht darum, dass wir uns die Daten aller Menschen angucken, sondern wir wollen ja nur bei schwerer Kriminalität diese Daten dann nutzen zur Aufklärung des Täters. Insofern gibt der Koalitionsvertrag Spielraum.

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung (barrierefrei hier herunterladbar) heißt es im Detail:

„Angesichts der gegenwärtigen rechtlichen Unsicherheit, des bevorstehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs und der daraus resultierenden sicherheitspolitischen Herausforderungen werden wir die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können.“

Analyse:

  • Im Koalitionsvertrag steht – anders als von Frau Faeser behauptet – nicht, dass man das EuGH-Urteil „abwarten“ wolle.
  • Frau Faeser deutet – rhetorisch geschickt – die Frage nach „anlassbezogener Speicherung“ in ein „anlassbezogenes Eingreifen“ oder „anlassbezogenes Angucken von Daten“ um. Das ist aber nichts anderes als absichtliche, hinterlistige Täuschung der Zuhörenden, eine politische Nebelkerze.

Faeser: Eine Kompromisslinie könnte ja sein, dass wir eine Regelung darüber finden, wie IP-Adressen gespeichert werden können, wenn die Anbieter dazu übergehen, wegen der Flatrates gar keine Daten mehr zu speichern, ob es eine Möglichkeit für eine solche Speicherung gibt unter sehr engen Voraussetzungen. Da ist einiges denkbar und deswegen bin ich auch nach wie vor zuversichtlich, dass wir das hinbekommen.
May: Was wären denn die engen Voraussetzungen, an die Sie da denken?
Faeser: Na ja. Zeitliche Begrenzung ist beispielsweise eine und natürlich ist es ja auch eine Beschränkung der Daten. Es ist ja nicht, wie jetzt im Gesetz vorgesehen, die Speicherung jeglicher Daten, sondern tatsächlich nur der IP-Adresse, womit der Täter identifiziert werden kann. Aber es werden damit keine beispielsweise Bewegungsprofile erstellt werden können.

Analyse:

  • Es werden auch in der derzeitigen und bald abschließend gekippten Gesetzgebung nicht „jegliche Daten“ erfasst und vorgehalten. Auch das ist ein Täuschungsmanöver, eine schwammige formulierte Behauptung, die im Detail schlicht falsch ist.
  • „Nur IP-Daten“ zu speichern, wie Frau Faeser zu beschwichtigen versucht, und dass daraus „keine Bewegungsprofile“ zu erstellen seien, das ist eine absurde und unhaltbare Verharmlosung der Bedeutung von IP-Adressen-Speicherungen. Es geht vielmehr um die damit erzeugte Möglichkeit der Bildung hochsensibler Persönlichkeitsprofile. Viel besser als es der EuGH in seinem Urteil 2020 zum Thema formuliert hat kann man es nicht:
    „Da die IP- Adressen jedoch insbesondere zur umfassenden Nachverfolgung der von einem Internetnutzer besuchten Internetseiten und infolgedessen seiner Online-Aktivität genutzt werden können, ermöglichen sie die Erstellung eines detaillierten Profils dieses Nutzers. Die für eine solche Nachverfolgung erforderliche Vorratsspeicherung und Analyse der IP- Adressen stellen daher schwere Eingriffe in die Grundrechte des Internetnutzers aus den Art. 7 und 8 der Charta dar und können abschreckende Wirkungen wie die in Rn. 118 des vorliegenden Urteils dargelegten entfalten.“

May: Frau Faeser, Sie haben gerade sehr deutlich ausgeführt, warum Sie glauben, dass es so wichtig ist, dass wir diese Vorratsdatenspeicherung insbesondere von IP-Adressen brauchen. Jetzt hat es ja schon eine Vorratsdatenspeicherung gegeben in Deutschland, in viel größerem Maße, als es das Gesetz, das jetzt eingefroren ist, vorgesehen hat, von 2008 bis 2010. Da ist fast alles erlaubt gewesen nach heutigen Maßstäben. Relativ wenig deutet darauf hin, dass das den Behörden damals groß geholfen hätte bei der Verbrechensbekämpfung. Weder die Zahl der schweren Straftaten ist damals zurückgegangen, noch die Aufklärungsquote hat sich verbessert. Wieso, glauben Sie, ist das wirklich ein Quantensprung für die Ermittlerinnen und Ermittler bei der Aufklärung schwerer Straftaten?
Faeser: Zum einen müssen wir unterscheiden. Natürlich gehen die schweren Straftaten nicht zurück, sondern im Gegenteil: Wenn Sie mehr aufklären können, haben Sie natürlich mehr Zahlen.
May: Aber auch die Aufklärungsquote war nicht höher.
Faeser: Und wir haben seit damals eine starke Veränderung, eine sehr starke Verlagerung beispielsweise sexualisierter Gewalt gegen Kinder im Netz und auch das furchtbare Verfahren des Grooming, wo Erwachsene gezielt Jugendliche, Kinder zu sexualisierten Handlungen zwingen, eine extreme Zunahme. Das sagt auch der Kinderschutzbund. Deswegen haben wir eine veränderte Situation, wo Sie diese IP-Adressen auch benötigen. Deswegen glaube ich so fest daran, dass das für die Sicherheitsbehörden unerlässlich ist, und das sagen ja auch alle Expertinnen und Experten.

Analyse:

  • Zunächst ist festzuhalten, dass Frau Faeser auf die sachliche Entwertung des von ihr zuerst gebrachten Arguments (Kein Rückgang schwerer Straftaten und keine bessere Aufklärungsquoten in Zeiten der VDS) nicht mehr reagiert, also auch nicht fair genug ist anzuerkennen, dass diese Argumentation haltlos ist.
  • Frau Faeser argumentiert mit dem Kinderschutzbund. Bemerkenswerterweise hat aber gerade der nach dem Urteil des EuGH gar keine besonderen Probleme mit diesem. Aus einer Nachricht des DLF vom 21.9.2022:
    „Der Deutsche Kinderschutzbund sieht auch nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs gegen die Vorratsdatenspeicherung ausreichend Möglichkeiten im Kampf gegen Pädokriminalität. Das Vorstandsmitglied Türk sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, man halte das sogenannte „Quick-Freeze“-Verfahren für einen gangbaren Weg in der Abwägung zwischen Datenschutz und Kinderschutz. Mit dem Verfahren können Behörden bei Verdacht auf schwere Straftaten einen Provider dazu verpflichten, die verfügbaren Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.“
    Also erweist sich auch diese Argumentationlinie von Frau Faseser als nichtig.
  • Ebenso unsinnig ist die Behauptung der Ministerin, „alle Expertinnen und Experten sagen, dass die IP-VDS für die Sicherheitsbehörden unerlässlich ist.“ Es stellt sich da wohl eher die Frage, welche Sachkundige und Wissenschaftler Frau Faeser als „Expert*innen“ anerkennt und welche nicht.
  • Fraglos real scheint dagegen der Wunsch so genannter „Sicherheitsbehörden“, möglichst viele Daten zu erlangen – ob das mit dem Ziel einer effizienten und verhältnismäßigen Strafverfolgung oder gar mit dem Grundgesetz oder der EU-Grundrechtecharte in Einklang zu bringen ist oder nicht. Diese Haltung der Behörden hat die Vergangenheit mehrfach und eindeutig bewiesen …
  • Zuletzt, aber deswegen nicht am unwichtigsten: Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hat im November 2021 belegt, dass die VDS zum Schutz von Kindern ungeeignet ist. Auch das BKA bestätigt das und eine Kinderschutz-Organisation teilt diese Einschätzung ausdrücklich – siehe zu dem allen den schon oben erwähnten Offenen Brief vom letzten Montag.
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