Volkszählung 2022 – Ihre Betroffenenrechte sind für anderthalb Jahre abgeschafft …
In wenigen Tagen, am 15. Mai, beginnt in Deutschland die nächste Volkszählung, der sog. „Zensus 2022“. Es wird die erste Volkszählung, die unter DSGVO-Regeln stattfindet. Oder zumindest und theoretisch unter diesen Regeln stattfinden könnte. Denn in Niedersachsen z.B. schließt die SPD-CDU-Groko die sog. Betroffenenrechte für den Zeitraum von anderthalb Jahren einfach mal aus:
„Für die Dauer der angestrebten Ergebnisbereitstellung 18 Monate nach Zensusstichtag wird die Wahrnehmung der Betroffenenrechte nach den Artikeln 15, 16, 18 und 21 der [Datenschutzgrundverordnung] bei der Durchführung des Zensus 2022 i. S. von Artikel 89 Abs. 2 DS-GVO ausgeschlossen.“
Quelle: Runderlass des Nds. Innenministeriums vom 22.7.2021 (Hervorhebungen durch uns)
Die „Betroffenenrechte“ umfassen hier neben dem einfachen Auskunftsrecht („Was ist über mich gespeichert?“, Art. 15) auch die Rechte auf Berichtigung, Einschränkung der Verarbeitung und das Widerspruchsrecht gegen die Verarbeitung der auf die eigene Person bezogenen Daten (Art. 16, 18 und 21). Es handelt sich sozusagen um Datengrundrechte (evtl. auch. Persönlichkeitsrechte zur Durchsetzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung) von Menschen in der EU. Die hat eins automatisch. Außer während der Volkszählung.
… denn die Volkszählung könnte die Behörden überlasten
So weit, so schlecht. Die Begründung aber überrascht und irritiert erst recht. Die Ausübung von Betroffenenrechten könnte nämlich zu Arbeitsüberlastung der Behörden führen:
„Die Einschränkung der Betroffenenrechte bei der Durchführung des Zensus 2021 ist angesichts der angestrebten Ergebnisbereitstellung nach Stichtag [15.5.2022, d. Red.] erforderlich, weil die Geltendmachung der Rechte auf Auskunft, Berichtigung, Einschränkung der Verarbeitung und Widerspruch die zügige und vollständige Erhebung der benötigten Angaben ernsthaft beeinträchtigen kann. Die interne Bearbeitung der Betroffenenrechte der Auskunftspflichtigen stellt einen unzumutbaren Verwaltungsaufwand dar. Dieser Verwaltungsaufwand würde der zeitnahen Ergebnisbereitstellung widersprechen. Aus diesem Grund müssen die Rechte der Betroffenen für den Zeitraum eingeschränkt werden.“
Quelle: Entwurf zum Niedersächsischen Ausführungsgesetz zum Zensusgesetz 2021, S. 17
Fassen wir zusammen: Wenn Menschen ihre Rechte als Betroffene nach der DSGVO wahrnehmen, stellt dies [offenbar immer und grundsätzlich – während einer Volkszählung] einen „unzumutbaren Verwaltungsaufwand“ dar. Eine beachtliche Behauptung für eine staatliche Stelle. Daher könnte das die Datenerhebung insgesamt „ernsthaft beeinträchtigen“ und deshalb müssen die Rechte ausgeschlossen werden.
Viele Bundesländer neben Niedersachsen haben ähnlich klingende Begründungen in ihre Gesetze und Verordnungen geschrieben. Die Textbausteine scheinen dabei teils aus der gleichen Quelle zu stammen.
Müssen die das? Dürfen die das?
Die interessante Frage aber ist zunächst: Müssen die Betroffenenrechte so eingeschränkt werden? Ist das so eine juristische Notwendigkeit, die bei solchen Projekten automatisch irgendwo rauspurzelt?
Nein. Nach Angaben der Pressestelle der Landesbeauftragten für den Datenschutz (und nicht auch für die Informationsfreiheit) in Niedersachsen existiert eine solche Aussetzung der Datengrundrechte für den Bund nicht. Hat der Bund bessere Beamt.innen? Oder einfach mehr davon?
Ganz so einfach wird die Antwort nicht sein. Tatsächlich ist das große Bundesdatensammeln eine gemeinsame Veranstaltung von Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden und ihrer Statistikämter. Sie treten gemeinsam als Datenverarbeitende auf, haben dabei aber unterschiedliche Aufgaben. Die Niedersächsische Landesbeauftragte für den Datenschutz (und nicht für Informationsfreiheit) weist darauf hin, dass die Betroffenenrechte gegenüber dem Bund auch von Menschen aus Niedersachsen wahrgenommen werden können, denen diese Rechte gegenüber dem Landesamt für Statistik verwehrt sind.
Dürfen die das?
Tatsächlich stellt Artikel 89 der DSGVO eine sog. Öffnungsklausel für solche statistischen Erhebungen dar, die „dem allgemeinen Wohl“ dienen. Er enthält also Ausnahmen und Bedingungen unter denen die Rechte von Menschen dann doch ausgesetzt werden dürfen. Grundsätzlich ist demnach die Aussetzung bestimmter Datenrechte in Ordnung, wenn die Ausübung dieser Rechte die Datenerhebung selbst sinnlos oder unmöglich machen würde.
Aber was für Umstände sind damit gemeint? Kann Arbeitsüberlastung ein Grund sein? Sind Datengrundrechte automatisch hinfällig, wenn eine Behörde das halt gerade nicht alles gleichzeitig hinbekommt? Ist es das, was sich die Gesetzgebenden vorgestellt hatten? Ist das alles noch eine Folge der damals massenhaften Boykottmassnahmen der westdeutschen Volkszählungen 1983 und 1987, bei denen die Absicht, die Behörden mit Auskunftsanfragen oder umständlich und nicht maschinenlesbaren Antworten überlasten und damit lahmlegen zu wollen, einer von vielen wesentlichen Widerstands-Bausteinen der Volkszählungs-Widerständler war?
Auf Rauchmelder kann verzichtet werden
Wir haben auch dazu die Landesbeauftragte für den Datenschutz (und nicht auch für Informationsfreiheit) in Niedersachsen befragt. Die Pressestelle aber wiegelt ab und wiederspricht:
„Dies [die Arbeits-Überlastung der Behörden, d. Red.] ist nicht das entscheidende Kriterium. Das Kriterium gemäß Art. 89 Abs. 2 DS-GVO, aufgrund dessen ein Ausschluss erfolgen kann, ist dann gegeben, wenn ansonsten voraussichtlich die Verwirklichung der statistischen Zwecke zumindest ernsthaft beeinträchtigt würde.“
und zitiert dann den o.a. Passus aus der Gesetzesbegründung bis zu dieser Stelle:
„Die interne Bearbeitung der Betroffenenrechte der Auskunftspflichtigen stellt einen unzumutbaren Verwaltungsaufwand dar.Dieser Verwaltungsaufwand würde der zeitnahen Ergebnisbereitstellung widersprechen. Aus diesem Grund müssen die Rechte der Betroffenen für den Zeitraum eingeschränkt werden.“
Der Sprecher sagt also zusammengefasst: Die Volkszählung lässt sich nur im Zeitrahmen der Vorgaben des Bundes (tatsächlich 18 Monate) zu Ende bringen, wenn (u.a.) Auskunftsrechte für die Zeit ausgesetzt werden. Und dies begründe, so die Pressestelle weiter, der Gesetzgeber mit möglicher Arbeitsüberlastung. Die gegebene Frist und die Arbeitsüberlastung lassen sich aber hier kaum auseinanderdenken.
Die Begründung für die Aussetzung insbesondere der Auskunftsrechte überzeugt also immer noch nicht. Schließlich setzt die Baupolizei ja auch nicht einfach den Brandschutz an Flughäfen aus, nur weil der Bauherrin gerade die Rauchmelder ausgegangen sind. Da muss dann eben die Eröffnungsfrist verlängert oder mehr ausgegeben werden.
Nicht so bei der Volkszählung. Hier kann auf Rauchmelder anscheindend verzichtet werden.
Was war mit Art. 89 (2) wirklich gemeint?
Die Grundfrage bleibt: ist so eine Art von Aussetzungsbegründung seitens der DSGVO gemeint gewesen? Da sich die niedersächsische Datenschutzbehörde an einer klaren Antwort vorbeigemogelt hat, haben wir anderweitig nachgeforscht.
Wir haben Ralf Bendrath gefragt, der beim Schreiben der Datenschutzgrundverordnung in Brüssel aktiv dabei war und aus erster Hand berichten kann. Er schreibt uns, dass die Ausnahmen aus Artikel 89 aus Sicht des Europäischen Parlaments für die Auflösung „sachlogischer Unvereinbarkeiten“ gemeint waren:
„Die Ausnahmen in Art. 89(1) und (2) DSGVO waren immer so gemeint, dass es wirklich um sachlogische Unvereinbarkeiten mit dem Zweck der Statistik bzw. Forschung ging. So würde z.B. ein massenhaftes Ausüben des Rechts auf Widerspruch nach Art. 21 DSGVO eine Statistik verzerren, oder ein massenhaftes Beschränken der Verarbeitung nach Art. 18 würde ebenso bestimmte Forschung verunmöglichen. Dass eine reine Arbeitsbelastung als Grund herhalten kann, war nie unsere Absicht als Parlament.“
Wenn die Datenerhebung einem guten Zweck dient, das Risiko für die betroffenen Datensätze überschaubar ist und die Datenerhebung durch (z.B.) massenhafte Widersprüche notwendigerweise sinnlos wird, dann darf das Recht auf Widerspruch für diese Erhebung ausgesetzt werden. Bendraths Beispiele sind solche, bei denen quasi naturgesetzliche Hürden zu überwinden sind, mathematische Unmöglichkeiten vermieden werden sollen. Es ging also um die Vermeidung logischer Widersprüche, nicht um die Vermeidung von Arbeit.
Mehr Daten → mehr Arbeit → weniger Rechte?
Und tatsächlich ist die Logik hinter der Landesbegründung gefährlich. Wenn Überlastung eine ausreichende Begründung zur Aussetzung von Datenrechten ist, dann muss eine datenverarbeitende Behörde einfach nur die Menge der zu verarbeitenden Datensätze erhöhen, um sich die Nachfragen betroffener Menschen vom Leib zu halten. Je mehr Daten verarbeitet werden, desto weniger Rechte für die Betroffenen?
Das beträfe dann ggf. auch „Forschungsdaten“ und andere große Datensätze, die, zumindest vorgeblich, zum Gemeinwohl verarbeitet werden. Viele sind gar nicht in staatlicher Hand. Wie z.B. die Standortdaten, die die großen Mobilfunkprovider in Deutschland zu Beginn der Pandemie von fast allen ihrer Kund.innen verfügbar hatten und der Bundesregierung [zur Verfügung stellen](siehe dazu: https://netzpolitik.org/2020/unverhofftes-datengeschenk/) wollten.
Brauchen auch diese großen Datendealer keine Rücksicht mehr auf Betroffenenrechte zu nehmen? Was, wenn sie die Verarbeitung von Anfragen einfach personell nicht schaffen?
Eine pauschale Aussetzung der Betroffenenrechte erscheint hier undenkbar. Aus mindestens zwei Gründen: Erstens darf bei dergleichen Großprojekten eine ausreichende Resourcenplanung vorausgesetzt werden: Wer gut Daten schaufeln will, muss auch Anfragen beantworten können. Zweitens basiert die Annahme der Arbeitsüberlastung auf einer Prognose massenhafter Rechtsanfragen. Für eine solche Prognose scheint es aber keine realistische Begründung zu geben. Die Phantasie von Massenanfragen nach der DSGVO ist schlicht aus der Luft gegriffen.
Es fragt sich daher, warum die Bundesländer so schlampig und pauschal bei ihren Begründungen sind. Immerhin: nicht alle Bundesländer sind so abwehrend. Mehrere Bundesländer haben unserer oberflächlichen Recherche zufolge zumindest auf die Aussetzung des Rechts auf Auskunft (Art. 15 der DSGVO) verzichtet. Darunter Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt (Angaben ohne Gewähr! Mehrere Bundesländer scheinen auch komplett auf die explizite Aussetzung der Betroffenenrechte verzichtet zu haben).
Warum wurde in diesen Fällen vor allem das Recht auf Auskunft beibehalten? Das Recht auf Auskunft ist ein Recht, das in die eigentliche Verarbeitung von Daten nicht eingreift (im Ggs. etwa zum Recht auf Löschung oder zum Recht auf Berichtigung). Daher kann es auch kaum zu sachlogischen Widersprüchen bei der Verarbeitung statistischer Daten führen. Es pauschal auszusetzen, erscheint daher doppelt bizarr.
Für Einschränkung der anderen „Datengrundrechte“ ließen sich hingegen ggf. tatsächlich sachlogische Begründungen finden. Der massenweise oder auch nur lokal ungünstig gehäufte Widerspruch (nach Art. 21 DSGVO) etwa könnte die Ergebnisse der Volkszählung ggf. verfälschen. Das könnte dann in der Folge beispielsweise zu unfairen Verteilungen bei der Aufteilung von Wahlbezirken oder bei der Verteilung finanzieller Mittel führen. Beide beruhen ja teils auf den Daten der Volkszählungen. Diese Folgewirkung lässt sich auch mit beliebig viel Zeit, Geld oder Personal nicht vermeiden. Sie ist der Sache inhärent und daher sachlogisch. Sie lässt sich sogar berechnen. Es gäbe also gute Gründe für Einschränkungen einiger der Betroffenenrechte.
Allein – sie können nicht im Bereich fehlkalkulierter Personalplanungen der Ämter verortet werden. Es sind also in den meisten Ländern nicht nur zuviele Rechte ausgesetzt worden, sondern dies auch noch mit einer zweifelhaften Begründung.
Vor diesem Hintergrund erscheint eine pauschale Aussetzung von Betroffenenrechten über die Dauer von 10 Jahren (wie in manchen Bundesländern, in Niedersachsen sind es „nur“ 18 Monate) grundsätzlich übermäßig und umso erklärungsbedürftiger.