Wie alles begann
Im März 2020 erließ die Bundesregierung im Angesicht der ersten Corona-Welle eine Änderung im Aktiengesetz (AktG). Dank dieser Änderung konnten die in Deutschland ansässigen Aktiengesellschaften (AG) ihre Hauptversammlungen (HV), die sie zwingend einmal jährlich abhalten müssen, um ihren Aktionär*innen Rechenschaft abzulegen und Frage und Antwort stehen zu müssen, „virtuell“ abhalten.
Konkret bedeutete das für die zunächst bis Ende 2020 befristete Änderung folgendes:
- Die Versammlungen dürfen als „virtuelle Hauptversammlung“ ausschließlich online und ohne physische Präsenz von Aktionär*innen stattfinden.
- Dementsprechend wurde das Fragerecht der Aktionär*innen stark eingeschränkt: Online und „live“ können, ja dürfen keine Fragen mehr gestellt werden, auch wenn das technisch kein Problem darstellen würde. Fragen müssen schriftlich verfasst bis spätestens zwei Tage vor Beginn der HV eingereicht werden. Mitunter wird sogar der Umfang der Fragen eingeschränkt.
- Nachfragen der Aktienhalter*innen, wenn z.B. Vorstand oder Aufsichtsrat um die Antwort auf die Frage bspw. herumlavieren und dabei gar nicht auf die Frage eingehen (wie das bei kritischen Fragen durchaus üblich ist!) sind gar nicht mehr möglich. Eine Debatte, ein Dialog im Sinne der Rechenschaftsschuldigkeit der AG-Lenker („Aussprache“) wurde somit verunmöglicht und unterbunden.
- Besonders fies: Vorstand und Aufsichtsrat dürfen selber und begründungslos entscheiden, ob sie eine Frage beantworten oder nicht. Die im AktG verbriefte Auskunftspflicht gegenüber den Aktionär*innen ist dadurch gänzlich ausgesetzt worden.
„Dank“ dieser Gesetzesänderung, die in der breiten Öffentlichkeit im Wesentlichen völlig unbeachtet geblieben ist, verliefen die „virtuellen Hauptversammlungen“, die in 2020 allermeist erst nach der Gesetzesänderung durchgeführt worden sind, aus der Sicht von kritischen Begleitern der Konzerne geräusch- und substanzlos. Debatten und Sachstreite fanden nicht mehr statt. Die Geschäftslenker konnten ihre Anliegen durch das Ausmanövrieren kritischer Aktionär*innen in allen Punkten durchsetzen und formell korrekt abnicken lassen.
Das hatten sich die AGs bzw. deren Führungspersonen schon länger gewünscht.
Unbemerkte Fortschreibung des Desasters für 2021
Schon im März 2020 hielt man sich eine (angeblich einmalige, einjährige) Verlängerung der Neuregelungen vor, falls die Pandemie bis Ende 2020 nicht besiegt worden sei. So ist es nun auch geschehen:
Unbemerkt von der Öffentlichkeit und auf dem Internet-Portal des Bundestags unauffindbar verborgen wurde mit einer Verordnung aus dem Oktober 2020 und ergänzt durch eine Gesetzesänderung vom Ende Dezember 2020 (sic!) die Fortführung der unseligen Freibrief-Regelung für die AG-Lenker*innen bis Ende 2021 beschlossen und besiegelt.
Das dazugehörige Gesetz, in dem sich diese Fortschreibung mit vielen anderen Gesetzesänderungen unübersichtlich versammelt lautet so knapp wie verständlich:
Alles klar? Alles klar und ein Gruß an die Schöpfer derartiger Wortungetümemonster!
Zwar gab es eine formelle Anhörung bzw. Einholung von Stellungnahmen von Betroffenen (vor allem aber: von AG-Interessenvertretern!), diese brachte aber im Ergebnis keine wesentliche Verbesserung bzw. Heilung der Rechte der Aktionär*innen, auch wenn das Bundesjustizministerium (BMJ) dazu eine ganz andere Meinung vertritt. Das BMJ schreibt uns nämlich recht selbstbewusst:
„Hinsichtlich der aktienrechtlichen Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung kommt es zu einer Stärkung der Aktionärsrechte: Die Fragemöglichkeit wird zu einem Fragerecht ausgebaut; Fragen können bis einen Tag vor der Versammlung eingereicht werden. Zudem wird das Antragsrecht der Aktionäre gestärkt.“
Klingt gut, ist es aber nicht. Weil:
- Dass die Frist zur Einreichung von Fragen von zwei auf einen Tag vor HV verkürzt wurde ist – sachlich betrachtet – quasi belanglos. Zu fordern wäre eher das Recht, bis zu Beginn und auch während der laufenden HV Fragen noch einreichen zu können. Das ging bislang auch und die Backoffices der AGs sind für gut gerüstet und gewohnt, Fragen ad hoc kompetent zu beantworten. Warum das bei einer „virtuellen HV“ in den Zeiten des Corona anders sein soll, erschließt sich nicht.
- Der juristisch-formelle Umbau von „Fragemöglichkeit“ zu „Fragerecht“ klingt gut, kommt aber viel zu kurz. Denn nach wie vor können die AG-Verantwortlichen nach eigenem Ermessen Fragen unbeantwortet lassen, ohne dafür belangt werden zu können. [Ergänzung zur Erläuterung: Es gibt faktisch keinen Rechtsschutz gegen floskelreiche, aber inhaltsleere Antworten von Vorständen und Aufsichtsräten. Das Höchste der Gefühle ist die Einlegung eines formellen Widerspruchs, der im notariell verfassten Wortprotokoll benannt werden muss, ansonsten aber keine weiteren Konsequenzen nach sich zieht.] Damit geriert das „Fragerecht“ zur Farce.
- Was das BMJ mit der „Stärkung des Antragsrechts der Aktionäre“ meint bleibt schlicht unergründlich.
- Es fehlt nach wie vor das Recht, online und während der HV erst auftauchende Fragen bzw. Nachfragen stellen zu können. Eine echte verbale Intervention, eine tatsächliche Debatte oder die Chance, auf ausweichende und faktisch nicht beantwortende „Antworten“ zu reagieren und
tatsächlicheechte, inhaltlich substantielle Antworten erfolgreich einzufordern, besteht nach wie vor nicht. - Auch der gute Vorschlag von „urgewald“ und dem „Dachverband Kritischer Aktionärinnen und Aktionäre“, wenigstens den Fragestellern eine physische Präsenz zu ermöglichen und so eine AG-Debatte zu führen, wurde nicht umgesetzt.
Das alles, obwohl fundierte Kritik schon bald nach dem übereilten und parlamentarisch nicht wirklich behandelten Gesetz aus dem März 2020 geäußert worden ist (siehe z.B. hier) und sogar der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags regt in einer Betrachtung zur Sache vom 6. Mai 2020 vorsichtig Änderungen in der Gesetzgebung an, wenngleich er auch „keine offensichtliche Verfassungswidrigkeit der zeitlich befristeten Regelungen“ meint feststellen zu können. Diese Einschätzung begründet er allerdings ausdrücklich auf einer Rechtssprechung des BVerfG, in dem es inhaltlich um die Problematik ging, dass eine HV in einem gewissen, erträglichen zeitlichen Rahmen abzuhalten sei und mit Blick darauf die Beschneidung des praktizierten Umfangs des Fragerecht zulässig sein kann. Nicht behandelt hat das BVerfG damals die nun gesetzlich verankerte, bemerkenswert starke Einschränkung, ja Beschneidung des Fragerechts an sich, so dass diese Fragen höchstrichterlich erst noch behandelt gehörten.
Eine eher belanglose Randnotiz ist bei alledem nur, dass der Bundestagsabgeordnete der Bündnis90/Grünen, Sven-Christian Kindler auf ein Anschreiben vom Ende November 2020 zu diesem Thema bis dato nicht reagieren wollte oder konnte – und das trotz mehrfacher Nachfragen und Bitten um eine Rückmeldung.
Fazit
Die Bundesregierung unter „C“DU, „C“SU und „S“PD hat außer ein paar wenig wesentlichen Schönheitsänderungen nichts an dem erkrankten Zustand des Aktiengesetzes geheilt. Die Aktiengesellschaften dürfen nun ein weiteres Jahr mehr oder weniger frei und kritisch unhinterfragt walten und schalten, weil die Kontrolle der Aktieninhaber*innen in grundsätzlichen Teilen faktisch ausgesetzt worden ist – eben „dank“ der Bundesregierung und der AG-Lobby.
Der Blick muss nach vorne gerichtet und eine weitere Fortschreibung oder Wesensveränderung des Aktiengesetzes über 2021 hinaus verhindert werden.