Burkhard Hirsch ist gestorben. Viele haben ihn als eine der wenigen in politischen Parteien wirkenden und mit eigener, freier Persönlichkeit ausgestatteten Menschen gesehen, die sich gegen den schleichenden, aber stetigen Abbau individueller Freiheiten in diesem Land authentisch eingesetzt haben.
Viel über Herrn Hirsch zu schreiben steht uns nicht zu. Wikipedia hält einige Grundinformationen über sein Wirken und seine Arbeit bereit. Lesenswert auch, was das Bundesverfassungsgericht 2006 aufgrund (und Dank!) einer Verfassungsbeschwerde (u.a.) von Herrn Hirsch zum „Luftsicherheitsgesetz“ des doppelten Ottos zu sagen hatte.
Wir möchten hier zur Anregung aus einer Rede von Burkhard Hirsch aus 2001 zitieren. Diese hielt er als Laudatio für Arno Gruen, der für sein Buch „Der Fremde in uns“ den Geschwister-Scholl-Preises in jenem Jahr erhielt. Das ist über 18 Jahre her und scheint doch (leider) hochaktuell. Die Hervorhebungen im folgenden Manuskriptausschnitt stammen von uns.
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Ich habe eine sehr genaue Erinnerung an die Jahre vor und nach 1945. Zuvor an die tönenden Reden und grandiosen Masseninszenierungen, an den augenblitzenden Jubel, die achselzuckende Gleichgültigkeit und Zustimmung, mit der man das Schicksal der Menschen mit dem gelben Stern verfolgte und sich ihr Hab und Gut gierig aneignete, wenn sie schließlich verschwunden waren, egal wohin auch immer. Es gab offenbar keine Bedenkenträger, sondern nur Bedenkenlose.
Ich erinnere mich auch sehr genau an die Ängstlichkeit, selbst innerhalb der Familie darüber miteinander zu reden, an die Hohe Schule der Menschendressur bis hin zum kollektiven Jubel im Sportpalast über den totalen Krieg, an die kollektive Gehirnwäsche. Georg Jellinek hatte sie einst in seiner glänzenden Allgemeinen Staatslehre die „normative Kraft des Faktischen“ genannt, daß die Menschen nämlich ihre eigenen Maßstäbe allmählich dem herrschenden Wertesystem anpassen, dem sie nicht entkommen können, eine Formulierung, die heute so leichthin zitiert wird und mit der Jellinek die Möglichkeit der staatlichen, kollektiven Gehirnwäsche vorausgesagt und beschrieben hatte.
Manches habe ich erst später verstanden, als ich die Schrift des akademischen Schurken Carl Schmitt „Der Führer schafft Recht“ las, mit der Schmitt, glänzender und klassisch gebildeter Jurist, die Morde anläßlich des sog. Röhm-Putsches pauschal und in der Hoffnung rechtfertigte, einst dafür belohnt und Reichsjustizminister zu werden, wobei er sich täuschte.
Nach 1945 erinnere ich mich an die atemlose Geschwindigkeit, mit der die Menschen von einem Tag auf den anderen bedenkenlos verleugneten, was sie zuvor blindlings bejubelt und getan hatten, wie sie sich wiederum anpaßten, sozusagen sich selbst verdrängten und sich nur sehr widerwillig der Wahrheit stellten, daß die Verbrechen und der Völkermord keineswegs „im deutschen Namen“, sondern überwiegend von Deutschen begangen worden waren, Verbrechen, die garnicht so geheim waren, wie man später behauptete. Viele wußten durchaus und noch mehr hätten wissen können, was geschah, wenn sie es nur wissen wollten.
Mich beschäftigt seitdem die Frage, wie man diese kollektive Verdrängung fertig bringt, und ob das, was so schnell verdrängt wurde, auch ebenso schnell wieder auftauchen könnte.
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Es geht bei unseren Fragen nach den ursächlichen Mechanismen nicht nur um ein individuelles Interesse an innerer Freiheit und Selbständigkeit. Es geht um die Freiheitlichkeit unserer Gesellschaft. Das eine geht nicht ohne das andere. Veränderungen, an denen man selbst teilnimmt, bemerkt man manchmal so wenig, wie die Bewegung des Stundenzeigers einer Uhr. Aber er bewegt sich doch. Heute kommen die wohlmeinenden Entmündiger nicht mehr mit den pflasterknallenden Stiefeln der Macht, sondern auf den leisen Sohlen der Beruhigung. Man habe doch, meinte etwa der Bundesinnenminister, den Lauschangriff keineswegs flächendeckend, sondern nur in wenigen Fällen eingesetzt. Waren die Auseinandersetzungen also müßig ? Freilich hätte er hinzufügen müssen, ob er die Beeinträchtigung von Grundrechten eigentlich für eine Frage der Statistik hält.
Es ist von beklemmender Aktualität, daß wir uns in Deutschland wieder mit Haßprojektionen auseinandersetzen müssen, die wir für endgültig überwunden hielten. Ich denke an die Schändungen jüdischer Friedhöfe, deren Täter kaum jemals ermittelt werden, an fremdenfeindliche oder rassistische Menschenjagden von Hoyerswerda bis Solingen, schließlich auch an Überfälle auf hilflose und als asozial erscheinende Menschen. Dabei handeln die Täter häufig nicht aus einer sozialen Notlage. Sie versuchen, ihre eigenen Probleme an den ihnen fremden Opfern auszutragen, deren menschliche Situation ihnen völlig gleichgültig ist. Die gehören zu irgendeiner verhaßten Kategorie, das reicht. Es geht um den eigenen sozialen Status. „Was Menschen krank zu machen scheint“, sagt Gruen, „ist das Gefühl, ihr Leben nicht im Griff zu haben. Sie fühlen sich hilflos und machtlos. Das bedeutet erhöhten Streß. Menschen wie die Nazis versuchten, die Sicherheit auf halluzinatorische Weise wieder herzustellen. Das tun auch diejenigen, die heute Fremde hassen, foltern, gewalttätig, sind.“ Dabei beobachten wir nicht nur das billigende Wegsehen vieler Zuschauer, sondern auch das ängstliche Verharmlosen dieser Vorgänge bis hin zu ihrer schlichten Verleugnung durch die eigentlich zum Handeln verpflichteten kommunalen Würdenträger oder sonstigen Erwachsenen, ein kardinaler Fehler gegenüber der Gewalt, der nicht mit Verständnis, sondern mit Konsequenz entgegengetreten werden muß.
Gruen diagnostiziert zutreffend, daß jede Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen in Zeiten der Erneuerung als Bedrohung empfunden wird. „Wenn dieser äußere Rahmen zu zerbrechen droht, weil autoritäre Strukturen, die Beziehungen, Bräuche und Sitten regeln, nicht mehr halten, dann suchen die sich selbst entfremdeten Menschen dort Zuflucht und Sicherheit, wo sie Autorität zu finden glauben oder wo sie ihnen versprochen wird.“
Mir erscheinen die Aktionen, die Bund und Länder bisher zur Bekämpfung rechtsradikaler oder fremdenfeindlichen Straftaten insbesondere in den neuen Bundesländern ergriffen haben, als halbherzig und unbefriedigend. Sie befassen sich viel zu wenig mit den eigentlichen Ursachen, die man nicht mit der Polizei beheben kann. Darum bleibt es bisher bei der völlig unzureichenden Jugendarbeit in zahllosen Kommunen Ostdeutschlands, die weder finanziell noch personell in der Lage sind, das aufzufangen, was die Eltern der Täter nicht leisten können, was sie versäumt oder bewirkt haben. Die waren selbst zum Haß gegen das kapitalistische System des Westens erzogen worden, dessen Wirklichkeit sie gleichzeitig täglich im Fernsehen bewundern konnten, und sie hatten selbst keine Chance gehabt, die Konfliktbewältigung in einer demokratischen Gesellschaft zu erlernen. Was also sollten sie ihren Kindern weitergeben ? Worüber wundern wir uns also?
Ich sehe mit großem Unbehagen, wie leicht es anscheinend im ganzen Bundesgebiet geworden ist, Ausländer in die Nähe polizeirechtlicher Kategorien, also der generellen Gefahrenabwehr zu rücken, sie zu verdaten, ihre biometrischen Merkmale in die polizeilichen Dateien einzustellen, sie auszuweisen und abzuschieben, auch ohne daß eine von ihnen ausgehende Gefährdung gerichtlich festgestellt worden ist. Schon fordert ein demokratischer Abgeordneter, innenpolitischer Sprecher der zweitgrößten Bundestagsfraktion, extremistische Ausländer ohne richterliche Entscheidung in Gefängnissen und leerstehenden Kasernen unterzubringen, so lange wie nötig. Kein Mitglied dieser Fraktion weist ihn in die Schranken schlichter Vernunft. Machen wir uns eigentlich noch Gedanken darüber, was die Ausweisung für jemanden bedeutet, der hier geboren und aufgewachsen ist oder der hier seine Lebensarbeitskraft investiert hat, mit unserem Wissen und Wollen ?
Immer wieder haben Fremde und Ausländer in nationalen Wahlkämpfen als Gefahr und Bedrohung herhalten müssen, bis hin zur Wortwahl, als man, das muß ich leider aussprechen, für politische Flüchtlingen aus außereuropäischen Ländern bewußt die Bezeichnung „Asylant“ einführte. Ich fürchte, daß auch die Debatten um ein Zuwanderungsgesetz unter die Räder des kommenden Wahlkampfes geraten werden. Möglicherweise bleibt uns das Äußerste wenigstens durch die Tatsache erspart, daß die Zuwanderung in unserem eigenen ökonomischen Interesse an der zu erwerbenden Arbeitskraft und Intelligenz liegt und die Wirtschaft das laut und unüberhörbar vorträgt.
Theodor Heuß hat einmal gesagt: „Die äußere Freiheit der Vielen lebt von der inneren Freiheit des Einzelnen.“ Das heißt umgekehrt, daß gesellschaftliche Freiheit nicht denkbar ist ohne individuelle Freiheit und ohne den Willen und die Fähigkeit des Einzelnen, als freier Mensch zu leben, und nicht ohne seinen Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Man darf sein Verhalten nicht danach einrichten, ob man persönlich betroffen wird oder nicht. Wer mehr Sicherheit durch neue Kontrollmechanismen erwerben will, von denen er glaubt, nicht selbst betroffen zu werden, der begeht politische Zechprellerei.
Natürlich leben wir heute nicht mehr in einer Diktatur. Aber wir wissen, wohin und wie schnell die Reise gehen kann, wenn die liberalen Elemente einer Verfassung ausgehöhlt werden. Wir sind gewarnt. Aber machen wir etwas aus diesem Wissen ? Treten wir entschlossen genug ein für persönliche Freiheit und Selbstbestimmung, für die Freiheitlichkeit unseres Staates für Humanität und gegen jede totalitäre Anmaßung ?
Was können wir tun ? Gruen fordert – und das ist von seinem Ansatz her konsequent – in der Familie zu beginnen, den Kindern mehr Freiräume zu schaffen, sich selbst zu entwickeln, ihre Phantasie, ihre Kreativität zu fördern, sie nicht zu unterwerfen, sondern sie anzuregen. Das sind die Stellen seines Buches, die man insbesondere den vielbeschäftigten Vätern auf den Tisch legen sollte, die als Politiker, Unternehmer, als was auch immer dem Erfolg nachjagen, der Macht, die sozusagen die Welt retten wollen und darüber die Welt der eigenen Kinder vergessen oder sie mit ihren Maßstäben erdrücken.
Eine freie Gesellschaft braucht innerlich freie Menschen. Wenn wir dem Vermächtnis der Geschwister Scholl gerecht werden wollen, dann müssen wir uns den Maßstäben stellen, die sie auch für uns verbindlich gemacht haben. „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit“, heißt es in ihrem fünften Flugblatt, „den ihr um eure Herzen gelegt habt !“
Arno Gruen gibt uns mit seinem Buch neue Anstöße zu erkennen, was war und was getan werden kann. Das ist sein Verdienst und dafür gratulieren wir ihm zu dem Preis, den er heute erhalten wird.
Burkhard Hirsch, München 12.11.2001