Eine Geschichte über die unerwartete Rückkehr von Zonen und Zonenrandgebieten in Niedersachsen. Und über verfassungsrechtliche Ignoranz des Gesetzgebers.
Überraschung in Helmstedt
Damit hatte Hauke H. (62, Name v. d. Red. geändert) nicht gerechnet. Der sympathische Helmstedter Frührentner verdient sich abends etwas bei der lokalen Tanke an der Bundesstraße hinzu. Wer genauer nachfragt, erfährt, dass Herr H. von diesem „Zuverdienst“ die Lebensmittel einkauft, für die sonst die Rente nicht reicht. Sein Rücken ging beim Dachdecken kaputt, aber seinen Optimismus hat er behalten. Herr H. ist gelernter Dachdecker.
Wir treffen ihn beim Einräumen von Autoatlanten. „Kauft kein Mensch mehr“ teilt er im bräsigen niedersächsischen Idiom mit, „Haben ja jetzt alle Navi“. Kopfschüttelnd fügt er hinzu: „Ich brauch sowas ja nicht. Hier ändert sich eh nichts.“
Wir fragen ihn, ob er noch nichts davon gehört habe: „Aber ihre Tankstelle hier in Helmstedt ist doch bald wieder Grenzgebiet.“ Herr H. blickt verwirrt. „Grenzgebiet? Kommt etwa die Mauer zurück?“ Er braucht einen Moment, doch dann lacht er erleichtert auf: „Ihr wollt mich auf den Arm nehmen. So sieht das aus!“ und droht uns verschmitzt mit dem Zeigefinger.
Verfassungspfusch in Hannover
Aber die Sache ist ernst. Im Mai 2019 verabschiedeten SPD und CDU im niedersächsischen Landtag ein neues Polizeigesetz. Dieses sah für die Polizei u.a. die Erlaubnis landesweiter „verdachts- und ereignisunabhängiger“ (d.h. unbegründeter) Kontrollen und Durchsuchungen von Menschen vor.
Solche Kontrollen sind verfassungsrechtlich heikel, weil gesetzestreue Menschen vom Staat grundsätzlich erwarten dürfen, in Ruhe gelassen zu werden, wenn sie keine bösen Dinge tun. Das befand auch das Bundesverfassungsgericht und stoppte ähnlich kontrollneurotische Regelungen in Baden-Württemberg und Bayern.
Eine Entscheidung, die bereits im Mai abzusehen war – und das wusste auch die Landesregierung, wie sie in der Plenardebatte kundtat. Aber anstatt die eigene Regelung gar nicht erst zu verabschieden, beliebte es der Koalition in Niedersachsen, einfach mal zu machen.
Sehenden Auges in den Verfassungsbruch – das muss man wohl Verfassungspfusch nennen.
300 km bis zur nächsten Grenze
Wer schon beim ursprünglichen Gesetzentwurf so pfuscht, dem muss man bei „Korrekturen“ leider besonders genau auf die Finger schauen. Und tatsächlich erwies sich auch hier: die vorgeblichen Reparaturen sind Flickschusterei.
Ein Hebel, den man sich dabei zunutze machte, war die Zugabe des Verfassungsgerichtes, Schleierfahndungen in Gebieten „mit Grenzbezug“ zu erlauben – sofern sie Grenzkontrollen nicht ersetzen und einen realen Grenzbezug aufweisen.
Statt also ganz Niedersachsen sind jetzt „nur“ noch die folgenden Zonen als begründungsfreie Identitätskontrollzonen ausgewiesen:
- die 30-km-Zone ab der niederländischen Grenze
- sämtliche Autobahnen
- sämtliche Bundestraßen
- alle Auf- und Abfahrten zu Autobahnen und Bundesstraßen
- alle Gebiete, die „unmittelbar“ an Auf- und Abfahrten von Bundesstaßen oder Autobahnen anschließen
- alle „Einrichtungen“ des internationalen Verkehrs wie inbesondere – Raststätten – Autohöfe – Häfen – Flughäfen – Bahnhöfe – Bahnstrecken
- alle Gebiete, die an solche „Einrichtungen“ grenzen.
Dies bedeutet, dass die SPD-CDU-Groko auch an Orten, die hunderte Kilometer von der nächsten Grenze entfernt sind, einen „Grenzbezug“ erkennen will — einfach, um so viel Fläche wie möglich zusammenzubekommen?
Im Prinzip wird so doch wieder ganz Niedersachsen erfasst, wie ein Blick auf diese interaktive Karte zeigt. Eine Tankstelle in Helmstedt, ein Bahnhof in Uelzen? Alles Grenze.
Auch Änderungen verfassungsrechtlich nicht wasserdicht
Hauke H. ist nicht erfreut. „Heißt das ich wohne wieder im Zonenrandgebiet? Mit einer Zone, die allen Ernstes in den Niederlanden beginnt?“ Er blickt entgeistert.
Aber so sieht es aus. Dabei war die Groko durchaus gewarnt worden, dass auch die Änderungen verfassungsrechtlich nicht wasserdicht sind:
Bezüglich der Ausdehnung der im Gesetz definierten Zonen, in denen die Polizei Schleierfahndung (also anlaßlose Personenkontrollen) durchführen stellte das Landesamt für Datenschutz Niedersachsen (LfD) klar, dass den Gesetzesänderungen zufolge auch Bundesfernstraßen und Bundeswasserstraßen zu dieser Zone dazu gezählt werden und dass dies nicht den Bestimmtheitsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts entspricht, also verfassungswidrig ist. Die Bundeswasserstraßen, eine besondere niedersächsische Grille, wurden inzwischen aus dem Änderungsentwurf gestrichen, die Bundesstraßen (als Teil der Bundesfernstraßen) haben es aber in den endgültigen Entwurf geschafft.
Datenschutz: aussitzen; Verfassungsrecht: ignorieren
Das im Mai verabschiedete Polizeigesetz enthält nach wie vor viele auch verfassungsrechtlich wenigstens fragwürdige Regelungen. Besonders Datenschutz-Aspekte sind hier unter die Räder gekommen. Einen dieser Aspekte hob der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst des Niedersächsischen Landtags (GBD) in den Beratungen zu den jetzt verabschiedeten Änderungen hervor: das „Pre-Recording“ polizeilicher Bodycams hielt der GBD nämlich für verfassungsrechtlich höchst bedenklich. (Siehe z.B. Seite 18 des Innenausschuss-Protokolls vom 2.5.2019). Es wäre aus Sicht des GBD eine weitere klare Folge der jüngsten Urteile des Bundesverfasssungsgerichts gewesen, hier auch die niedersächsischen Regelungen zu Bodycams wieder zurück auf den Weg der Verfassungstreue zu bringen. Doch diese Warnung wurde seitens der SPD-CDU-Groko in Niedersachsen ignoriert und findet in der hier diskutierten Gesetzesänderung gar keinen Eingang.
Kontrollen First, Bedenken Second…
… scheint das Motto der SPD-CDU Groko in Polizeifragen zu sein. So weitet sie aus und verschärft, wo es eben geht und verfassungsrechtlich gerade noch tragbar ist. Und manchmal auch darüber hinaus. Nach Sinnhaftigkeit fragt man da vergebens, wie ein nebensächliches Detail der Gesetzesnovelle illustriert.
Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die die Novelle in Niedersachsen in gewisser Weise lostraten, bezogen sich eigentlich auf das automatische und massenweise Scannen von Kfz-Kennzeichen. Darf der Staat sowas? Darf die Polizei sowas? Schließlich gilt auch für autofahrende Menschen: wer sich nichts hat zuschulden kommen lassen, den soll der Staat in Ruhe lassen – und nicht fotografieren. Der Staat, so sprachen die Verfassungsrichter, braucht daher auch dafür einen wirklich guten Grund. Leben, die in Gefahr sind, diffundierende Terroristen, irgendetwas richtig Krasses eben.
In Niedersachsen haben wir jetzt so einen wichtigen und erheblichen Grund gefunden: in § 32 a des Polizeigesetzes heißt es nunmehr:
„Die Polizei kann automatisierte Kennzeichenlesesysteme einsetzen … zur Verhinderung des weiteren Gebrauchs von Kraftfahrzeugen ohne ausreichenden Pflichtversicherungsschutz.“
„Mein Gott“ stammelt Hauke H. und blickt uns an. „Wie konnte das nur passieren?“