Weitestgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt hat die Bundesregierung im Juni dieses Jahres eine Änderung des § 163 Absatz 3 der Strafprozessordnung durchgeführt. Die möglichen praktischen Folgen der auf den ersten Blick unwesentlich erscheinenden semantischen Ergänzung sind aber wesentlich:
Wer nun von der Polizei zu einer Zeugenaussage eingeladen wird, kann bzw. darf sich dieser Vorladung nicht mehr entziehen. Wer nicht von selber zur Polizei geht, kann (z.B. vom Arbeitsplatz weg) zwangsweise abgeholt und vorgeführt werden. Das Erscheinen auf der Polizeiwache war bislang freiwillig, eine Verpflichtung bislang nur dann gegeben, wenn die Staatsanwalt zu einem Verhör vorgeladen hatte. (Nebenbei: Worum es in der Befragung geht, zu der die Polizei einlädt, gibt diese im Ladungsschreiben häufig gar nicht an – eine weiteres Mittel der Einschüchterung und Verunsicherung von Menschen, mit dem die Polizei ganz bewusst und absichtlich arbeitet.)
Wie die neue Regelung in der Praxis tatsächlich angewendet wird, ist noch nicht klar. Zu befürchten und erfahrungsgemäß leider auch zu erwarten ist aber schon jetzt, dass die Polizei diese ihr neu eingeräumte Befugnis zur Repression, also zur Einschüchterung von unschuldigen Menschen einsetzen wird. Das Gesetz ist dermaßen unscharf formuliert, dass den Polizeien seitens der Staatsanwaltschaften große Freiheiten zugestanden werden können:
Ob und wen die Polizei zum notfalls mittels Zwang durchgesetzten Erscheinen auffordern bleibt ihr ebenso überlassen wie die Frage, innerhalb welcher Frist der oder die Vorgeladene auf der Polizeiwache oder bei der Kriminalpolizei erscheinen muss. Auch definiert das Gesetz nicht, ob diese „Einladung“ unbedingt schriftlich erfolgen muss oder ob vielleicht sogar eine telefonische Vorladung der Gesetzesgrundlage genüge tut.
Wir haben bei der Polizei konkret nachgefragt, wie man dort mit dem neuen § 163 StPO umgehen wird. Zu den drei gesetzlich ungeklärt gebliebenen und zur Unterdrucksetzung von Menschen einsetzbaren Punkten (Pauschale Befugniserteilung für polizeiliche Vorladungen durch die Staatsanwaltschaft, kurze Fristen der Vorladung, etwaige Zulässigkeit einer lediglich telefonisch oder mündlich ausgesprochenen Vorladung) nimmt die Polizeidirektion Hannover wie folgt Stellung:
- Pauschale Befugniserteilungen der Staatsanwaltschaften sind möglich.
- Vorladungen sollen „so zeitnah wie möglich“ erfolgen.
- Vorladungen sollen ausschließlich in schriftlicher Form erfolgen.
Falls die polizeiliche Vorladungspraxis wie beauskunftet erfolgen wird, würden bei der hannoverschen Polizei also immerhin zwei der zuvor theoretisch beschriebenen drei Befürchtungen Wirklichkeit werden (können).
Was ist nun mit dem Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht?
Zwar bleibt formell das Recht zur Aussageverweigerung nach wie vor bestehen, doch vor der Pflicht, persönlich bei der Polizei vorstellig zu werden, entbindet das nicht. Die auf viele Menschen einschüchternde Wirkung in Verbindung mit in Verhör- und Ausfragetechniken geschulten Polizeibeamten und -beamtinnen führt außerdem dazu, dass man eine*r der Vorgeladenen in irgendeinerweise Informationen über sich und andere preisgibt, die er oder sie lieber für sich behalten hätte.
Die in solchen Fällen erfahrene Rote Hilfe bewertet dagegen die Erfolgschancen, sich erfolgreich auf sein Aussageverweigerungsrecht zu berufen, noch viel skeptischer und zitiert dazu die Meinung zweier Rechtsanwälte:
„(…) Nun gibt es für Polizeibeamte die Möglichkeit, jede Person erst mal als Zeugen vorzuladen – auch wenn im Hintergrund vielleicht schon ein gewisser Tatverdacht schwebt. Die Erscheinenspflicht führt zumindest zu erhöhten Möglichkeiten, den „Zeugen“ auf die Dienststelle zu bekommen und ihn dort entsprechend zu bearbeiten. Gerade bei Menschen, die sich ihrer Rechte nicht sicher sind, führt dies zu der Gefahr, dass diese als vermeintlich erscheinens- und aussagepflichtiger Zeuge erst mal Angaben zur Sache machen, die sie ohne Pflicht zum Erscheinen nie gemacht hätten.
Der Zeitpunkt, in dem ein Zeuge dann zum Beschuldigten wird und entsprechend zu belehren ist, lässt sich somit kreativ weit nach hinten verlagern.“ (Quelle: Udo Vetter in https://www.lawblog.de/index.php/archives/2017/06/23/schoene-neue-zeugenwelt/)Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Kai Hertweck aus Braunschweig (http://strafverteidiger-braunschweig.blogspot.de/2 017/06/25.html) schreibt dazu:
„Der Gesetzentwurf wird damit begründet, dass es allein vom Verhalten des Zeugen abhänge, ob die Staatsanwaltschaft tätig werden müsse, ohne dass es einen sachlichen Grund dafür gebe, dass die Vernehmung von der Staatsanwaltschaft durchgeführt werde. Die Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft binde unnötig Ressourcen und verursache eine Verfahrensverzögerung. Die Staatsanwaltschaft solle daher von sachlich nicht zwingenden Zeugenvernehmungen entlastet werden, behalte aber die Sachleitungsbefugnis im Ermittlungsverfahren, weil die Erscheinens- und Aussagepflicht des Zeugen vor der Polizei von einer vorherigen Entscheidung der Staatsanwaltschaft abhänge.
§ 163 Abs. 4 StPO n. F. sieht vor, dass über das Vorliegen der Zeugeneigenschaft oder das Vorliegen von Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechten die Staatsanwaltschaft entscheide, sofern insoweit Zweifel bestehen oder im Laufe der Vernehmung aufkommen.
Es ist aber fraglich, ob in der Praxis tatsächlich eine polizeiliche Zeugenvernehmung unterbrochen werden wird, um Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft zu halten, ob ein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen besteht oder nicht.
In § 52 StPO ist das Zeugnisverweigerungsrecht naher Angehöriger geregelt. Wer Angehöriger ist kann wohl noch recht einfach festgestellt werden.
Wesentlich schwieriger wird es sein die Frage zu klären, ob ein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO besteht. Nach § 55 StPO darf der Zeuge die Auskunft auf solche Fragen verweigern, bei deren wahrheitsgemäße Beantwortung er sich selbst oder einen nahen Angehörigen in Gefahr bringen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.
Gerade bei umfangreichen und/oder schwierigen Sachverhalten ist vor allem zu Beginn von Ermittlungen nicht sicher fest, ob eine Person, die als Zeuge geladen ist, nicht tatsächlich doch auch als Beschuldigter der Tat in Betracht kommt. Hier besteht die Gefahr, dass sich der Zeuge selbst belastet, wenn er wahrheitsgemäße Angaben zur Sache macht und sich damit selbst der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzt.
Zur Klärung der Frage, ob ein Auskunftsverweigerungsrecht im Sinne des § 55 StPO besteht, sind zum Teil komplexe juristische Fragen zu klären. Es erscheint zweifelhaft ob Polizeibeamte immer ausreichend qualifiziert sind, um diese juristischen Fragestellungen zur beantworten. Es besteht daher die Gefahr, dass die vernehmenden Polizeibeamten in der konkreten Vernehmungssituation das Bestehen eines Auskunftsverweigerungsrechtes verneinen und eben gerade nicht – wie vom Gesetz gefordert – eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft herbeiführen.
Auch wenn in einer späteren Gerichtsverhandlung festgestellt würde, dass die Aussage nicht zum Nachteil des „Zeugen“ verwertet werden darf, so wären die mit einem Strafverfahren verbundenen Belastungen nicht mehr zu vermeiden.
Auch erscheint es fraglich, ob Polizeibeamte in der konkreten Vernehmungssituation immer bereit sein werden, tatsächlich Rückfrage bei der Staatsanwaltschaft zu halten. Unklar ist auch wie sich die Beamten verhalten werden, wenn der zuständige Staatsanwalt nicht erreicht werden kann.
Wird der Polizeibeamte die Vernehmung abbrechen, die Staatsanwaltschaft später informieren und einen neuen Vernehmungstermin ansetzen?
Wahrscheinlicher ist aber, dass der Vernehmungsbeamte versuchen wird, den Zeugen dazu zu bewegen, trotzdem eine Aussage zu machen (auch wenn er sich ggf. selbst belastet)!“
Auch im weiteren ist der Reader der Roten Hilfe Hannover, aus dem diese Textfragmente entnommen worden sind, informativ und lesenswert.