Ermahnung aus 1957: Über die Grenzen des Überwachungs-Wahnsinns

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Das Mikrozensus-Urteil aus 1969 verweist in seiner Erklärung zum individuellen „Recht auf Einsamkeit“ u.a. auf den am 18.12.1956 von Josef Wintrich gehaltenen Vortrag „Zur Problematik der Grundrechte“. Der aus heutiger Sicht nicht unumstrittene Wintrich war zu dieser Zeit Präsident des Bundesverfassungsgerichts und der Vortrag stand im Schatten eines bevorstehenden, schließlich am 16.1.1957 verkündeten Urteils (1 BVR 253/56), in dem das Gericht ausführlich zum Wesen des Artikels 2 Absatz 1 im Grundgesetz Stellung bezogen hat.

Im Vortrag Wintrichs finden sich einige betonenswerte Aussagen, die auch – vielleicht sogar besonders – aus heutiger sicht, also gut 58 Jahre später, sehr rück-erinnerungswert sind.

Wir möchten insbesondere auf fünf Auszüge aus dem Vortrag hinweisen, die wir unter den folgenden Überschriften bzw. Kurzbeschreibungen zusammengefasst haben:

A. Über die Würde des Menschen, seinen innersten Raum und die Bedeutung der Kommunikation mit anderen Menschen

B. Wie aus unrichtigem Recht ein für den Menschen unverbindliches Nichtrecht werden kann

C. Über die (ehemalige und heute nur noch theoretische?) Kernidee der Demokratie

D. Über Intimsphäre, ihre Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und über das Recht auf unbefangene und unverbindliche Aussprache, nicht auf jedes Wort festgelegt zu werden sowie nicht in seinem Privatleben ausgehorcht oder ausspioniert zu werden

E. Absage an den Utilitarismus: Von den engen Grenzen der Zulässigkeit der Ausforschung von Menschen im Dienste der Aufklärung (betrifft auch die Geheimdienste): „Der Zweck, die Menschenwürde des Verletzten zu schützen, kann nicht das Mittel der Verletzung der Menschenwürde des Täters rechtfertigen.“

F. Zur Unvereinbarkeit des derzeitigen Hartz-IV-„Sozial“systems mit dem Würdebegriff des Grundgesetzes

Im Einzelnen:

 

A. Über die Würde des Menschen, seinen innersten Raum und die Bedeutung der Kommunikation mit anderen Menschen

Würde kommt den Menschen um deswillen zu, weil er seiner seinsmäßigen Anlage nach „Person“ ist. Zwar ist auch der Mensch in den Zusammenhang der Natur‚ in das Naturganze eingebaut, aber er ragt zugleich in einzigartiger Weise durch seine Fähigkeit zu Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung darüber hinaus. Nur der Mensch kann im Ichbewußtsein sich seiner selbst bewußt werden und auf Grund dieses Sichselbstbegreifens und Sichselbstbesitzens über sich selbst verfügen, weil sein geistiges Wollen nicht unausweichlicher Notwendigkeit unterworfen ist. Er bestimmt frei darüber, ob er dem von ihm erkannten inneren Gesetz, das in seiner Natur angelegt ist, dem Gesetz des moralischen Sollens, folgen will oder nicht. Weil sich der Mensch auf Grund seiner Sach- und Normerkenntnis in freiem Ratschluß für oder gegen den Anruf der Werte entscheidet, ist er ein freies sittliches Wesen, das den Anruf des eigenen inneren Sollens und der außerpersönlichen Autoritäten (Fremdbestimmung) zur Eigenbestimmung macht, damit über sich selbst verfügt, über seinen Wert oder Unwert selbst entscheidet und so ein konkretes Wesen und Geschick eigenverantwortlich gestaltet. Der tiefste Grund des menschlichen Seins offenbart sich in dem innersten Raum, in den kein anderer eindringen kann, in dem der Mensch nur mit sich selbst ist, im Gewissen. Um dieses Fürsichseins, dieser Innerlichkeit willen, kommt die Würde des Menschen jedem einzelnen konkreten Menschen zu. Deshalb ist jeder einzelne schon um seiner Anlage willen in seiner einmaligen Existenz unauswechselbar, unvertretbar, unwiederholbar, unersetzbar.

In der Seinsstruktur des Menschen ist außer seinem Insichselberstehen‚ noch ein weiteres, nicht minder wichtiges Moment enthalten. „Unser Sein ist Wesentlich Mitsein. Menschliches Sein ist gleich Mitmensch sein.“ Der Mensch ist kein isoliertes, sich selbst genügendes, souveränes Einzelwesen:

Der einzelne Mensch kann seine Anlagen nur in Kommunikation mit seinen Mitmenschen und in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt entfalten. Er bedarf seinsnotwendig der Hilfe und Ergänzung durch andere. Der Mensch kann auch als Person nur in Gemeinschaft mit anderen Personen existieren. Er ist gemeinschaftsverflochten und gemeinschaftsgebunden. Seine Freiheit kann daher nicht „prinzipiell unbegrenzt“ sein.

 

B. Wie aus unrichtigem Recht ein für den Menschen unverbindliches Nichtrecht werden kann

Soll die Gemeinschaftsordnung den Forderungen gerecht werden, die sich aus dem Grundwert der Person, seiner gleichmäßigen Geltung für alle und dem Eigenwert der Gemeinschaft in ihren mannigfachen Erscheinungsformen ergeben, so hat das Recht als verbindliche Norm des äußeren menschlichen Verhaltens eine Sphäre der Freiheit zu sichern, in der der Mensch als geistig und sittlich selbständiges und verantwortliches Wesen existieren und wirken kann, zugleich aber auch eine Abgrenzung dieser Freiheitssphäre zu setzen, wie sie für die Gewährleistung der gleichen Freiheit für alle und die Notwendigkeiten der Gemeinschaft erforderlich ist. (…)

Innerhalb des Spannungsverhältnisses kann sich das Gewicht weitgehend zwischen den genannten Polen verlagern. [Anmerkung: Gemeint ist das Spannungsmoment der in der von Wintrich beschriebenen Rechtsidee enthaltenen Momente normativer Art (Ordnung und Rechtsidee als zusammenfassender Ausdruck für den ethischen Gehalt der Rechtsordnung und tatsächlicher Art (Macht, die politischen Gestaltungstriebe und die vitalen Notwendigkeiten, insbesondere die wirtschaftlichen Bedürfnisse), formaler Art (Ordnung und Macht) und inhaltlicher Art (Rechtsidee, die politischen Gestaltungstriebe und vitalen Notwendigkeiten).] So kann etwa ungerechtes, unrichtiges Recht noch Rechtscharakter haben, solange es mit dem Gedanken der Gerechtigkeit verträglich ist, daß ihm um der Rechtssicherheit willen Verbindlichkeit zukommt. Ähnliches gilt für das Verhältnis des sittlichen Moments zum wirtschaftlich-politischen und Machtmoment. Nur in einem äußersten Grenzfall, wenn die Menschenwürde oder sonstige überzeitliche Prinzipien des Rechts verletzt oder sonst die für das Gemeinschaftsleben unentbehrlichen Werte verleugnet oder pervertiert oder in einem unerträglichen Maß mißachtet werden, wird das Spannungsverhältnis zerrissen und damit unrichtiges Recht zum unverbindlichen Nichtrecht.

 

C. Über die (ehemalige und heute nur noch theoretische?) Kernidee der Demokratie

Auch die politischen Grundrechte, die politische Freiheit des Bürgers, stehen mit der Personwürde in einem inneren Zusammenhang. Auch für unsere freiheitliche Grundordnung gilt, was Kägi für die schweizerische Demokratie festgestellt hat: „Erst dadurch wird die Personwürde eines Rechtsgenossen voll anerkannt, dass er zur Ausübung seiner Souveränitätsrechte berufen ist; erst dadurch wird die Autonomie, die Selbstbestimmung, die Freiheit des Bürgers, respektiert, daß er an der Setzung des Rechtes, dem er untersteht, als Mitbestimmender (zumindest potentiell) teilhat. Darin besteht das Große und Unverlierbare an der Demokratie.“

 

D. Über Intimsphäre, ihre Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und über das Recht auf unbefangene und unverbindliche Aussprache, nicht auf jedes Wort festgelegt zu werden sowie nicht in seinem Privatleben ausgehorcht oder ausspioniert zu werden

Es gehört zum Wesen des Menschen, daß er sich selbst besitzt, daß er sich in einen Innenraum zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, daß er also über die eigene Intimssphäre ungestört verfügen kann. Die Intimssphäre in diesem Sinn hat von Natur aus Geheimnis Charakter. Über diesen innersten Bezirk hinaus muß der Mensch aber auch die rechtlich geschützte Möglichkeit haben, ein Gespräch vertraulich zu führen, eine Mitteilung vertraulich zu machen, also ausdrücklich oder stillschweigend ihr Geheimnischarakter zu geben. Schließlich ist es eine unerläßliche Bedingung der Persönlichkeitsentwicklung, daß der Mensch die Möglichkeit hat, sich unbefangen und unverbindlich auszusprechen, ohne auf jedes Wort festgelegt zu werden, und in seinem Privatleben nicht ausgehorcht und ausspioniert zu werden. Die Neigung zur Indiskretion in der Publizistik, die der Befriedigung der Sensationsgier dient, und die neuartigen technischen Mittel des Mikrophons und Tonbands bilden eine besondere Gefahr für die Intimssphäre.

Der Schutz der Intimssphäre ist im wesentlichen dem Privatrecht anvertraut, das auf seinem Gebiet durch die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die erforderliche Grundlage für die Abwehr von Eingriffen in die Intimssphäre geschaffen hat.

Das Grundgesetz schirmt die Geheimsphäre des Menschen ausdrücklich nur im Art. 10 des Grundgesetzes ab (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis), der wegen seines Menschenwürdegehalts aus Art. 1 Abs. 1 sich ebenso wie dieser auf das gesamte Rechtsgebiet, also auch auf die Privatrechtsordnung, erstreckt. Für den öffentlichen Bereich, für die öffentlichen Stellen, ist aus Art. 10 GG auch das Verbot heimlichen Abhörens und heimlicher Tonbandaufnahmen von Ferngesprächen abzuleiten.

Damit ist das aktuelle Problem aufgeworfen, wie heimliche Tonbandaufnahmen zu beurteilen sind. Für den Bereich der öffentlichen Gewalt lassen sich aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und 10 GG etwa folgende Leitsätze entwickeln, wie sie zum Teil kürzlich auf der Tagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten in Weinheim (16./17. Nov. 1956) aufgestellt worden sind.

Im polizeilichen, staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Ermittlungsverfahren sind Tonbandaufnahmen nur mit Wissen des zu Vernehmenden zulässig. Die Verwendung solcher Aufnahmen in der Hauptverhandlung bedarf der Zustimmung des Vernommenen. Die Tonbandaufnahme einer Vernehmung ist in entsprechender Anwendung des § 188 StPO als Anlage dem Protokoll beizufügen. Die Verwertung von Tonbandaufnahmen ist in allen Verfahren davon abhängig, daß sie rechtmäßig zustande gekommen und erlangt sind. Aus dem Grundgedanken des Art. 10 wird weiter die Forderung abzuleiten sein, daß Tonbandaufnahmen ohne Wissen des Sprechenden, jedenfalls im Bereich der öffentlichen Gewalt, nur dann erlaubt sind, wenn hierzu eine ausdrückliche formell gesetzliche Ermächtigung (im Sinne des Art. 19 Abs. 1 GG) gegeben ist. Jede Änderung oder Verkürzung eines Originalbandes bedarf ebenso wie ihre Verwendung der Zustimmung des Sprechenden.

 

E. Absage an den Utilitarismus: Von den engen Grenzen der Zulässigkeit der Ausforschung von Menschen im Dienste der Aufklärung (betrifft auch die Geheimdienste): „Der Zweck, die Menschenwürde des Verletzten zu schützen, kann nicht das Mittel der Verletzung der Menschenwürde des Täters rechtfertigen.“

Der Satz, „Der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben“, gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete, insbesondere für das Verfahrensrecht. Alle Maßnahmen, die den Menschen zum reinen Objekt machen, die ihn also entpersönlichen, verletzen die Menschenwürde. Im Strafprozeß hat der Beschuldigte und Angeklagte die Stellung eines Prozeßsubjekts. Das bedeutet prozeßrechtlich, daß seine Prozeßhandlungen auf freier Willensentschließung beruhen müssen, verfassungsrechtlich, daß er als freie selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt ist. Gerade darin besteht seine unverlierbare Wünde als Person. Der Beschuldigte darf, weil er Person ist, nie zum bloßen Objekt und bloßen Mittel der Sachverhaltsaufklärung (Wahrheitsermittlung) im Prozeß gemacht werden. Jede Maßnahme, gleichviel, ob mit oder ohne Einwilligung des Beschuldigten, die seine freie Entschließung darüber, ob und wie er aussagen Will, beeinträchtigt, verstößt daher gegen Art. 1 Abs. 1 GG. Deshalb ist die Verwendung aller Mittel, die den Beschuldigten in einen Zustand versetzen, der seine freie Willensentschließung ausschließt oder beeinträchtigt, verfassungswidrig, gleichviel, ob sie die Aufklärung des Sachverhalts oder die Feststellung des Geisteszustandes des Beschuldigten bezwecken. Diesem verfassungsrechtlichen Gebot trägt § 136a der Strafprozeßordnung nunmehr in vorbildlicher Weise Rechnung. Es kann nicht anerkannt wenden, daß aus der Schutzpflicht des Staates zur Wahrung der Menschenwürde des Verletzten eine Methode der Wahrheitserforschung gerechtfertigt werden könnte, die die Menschenwürde des Täters verletzt. Ist Menschenwürde unantastbar, kann sie auch nicht um der Menschenwürde eines anderen willen angetastet werden. Der Zweck, die Menschenwürde des Verletzten zu schützen, kann nicht das Mittel der Verletzung der Menschenwürde des Täters rechtfertigen.

 

F. Zur Unvereinbarkeit des derzeitigen Hartz-IV-„Sozial“systems mit dem Würdebegriff des Grundgesetzes

Auch zwischen dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 und der Achtung und dem Schutz der Menschenwürde besteht eine enge Verknüpfung. Sie folgt aus der Eigenart der Beziehung, in der Person und Gemeinschaft zueinander stehen. Soll der Personcharakter in der Gemeinschaft gewahrt bleiben, müssen die existentiellen Voraussetzungen erfüllt sein, die für die Entwicklung der geistig-leiblichen und sozialen Seinsstruktur des Menschen unentbehrlich sind; daher ist aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die Verpflichtung des Staates herzuleiten, jenes Existenzminimum zu gewähren und jenen Güterstand zu belassen, die dem Menschen ermöglichen, sich aus der „unpersönlichen Umwelt zu erheben“, also ein menschenwürdiges Dasein zu führen.

Bild: Peter Brueghel: Sieben Tugenden – Die Gerechtigkeit (public domain)

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