Führt die Polizei in Niedersachsen Gesichtserkennung durch? Darf sie das überhaupt?
Die Debatte um diese Fragen hat im Frühjahr 2024 begonnen, als eine mutmasslichen RAF-Terroristin festgenommen wurde. Dieses geschah unter Federführung niedersächsischer Polizeifahnder, wobei die Festnahme in Berlin erfolgte. Es folgte eine Diskussion über die Kompetenz der niedersächsischen Polizei, woraufhin sich der Chef des niedersächsischen LKA zu einer medialen Verteidigung genötigt sah und in diesem Zuge in den politischen Frontalangriff zur erneuten Ausweitung polizeilicher Kompetenzen überging.
Das ist das erste der drei Kapitel der Historie zu diesem Blogbeitrag.
Kapitel 1: Niedersachsens LKA-Chef verlangt Gesichtserkennungs-Systeme für die Polizei in Niedersachsen und tut so, als sei deren Einsatz bislang nicht erlaubt und würde deswegen bislang nicht erfolgen (April 2024)
Niedersachsens LKA-Chef Friedo de Vries in einem Interview der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) vom 10.4.2024:
„Nach der Festnahme der mutmaßlichen Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette hat Niedersachsens LKA-Chef Friedo de Vries dazu aufgerufen, den Einsatz von Gesichtserkennungs-Software bei der Polizei zu überdenken. De Vries sagte unserer Redaktion: „Es ist schwer zu vermitteln, dass Softwareanwendungen quasi von jedermann zu Hause auf dem Sofa genutzt werden dürfen, die Polizei diese bei der Fahndung nach schwersten Gewalttätern jedoch nicht zum Einsatz bringen darf.”
Bei der Suche nach Klette war es Journalisten zuvor gelungen, die Tarnidentität der mutmaßlichen Räuberin mithilfe einer entsprechenden Software auffliegen zu lassen. De Vries betonte, Ermittlungsbehörden dürften das Programm nicht nutzen, das zeige aber auch: „Wir brauchen eine politische Diskussion darüber, was die Polizei an Instrumenten im Rahmen der digitalen Entwicklung einsetzen darf.” (…)
Deshalb müsse auch über die Weiterentwicklung der Gesichtserkennung gesprochen werden, über Möglichkeiten, die sich daraus für die Polizei, aber auch für die Sicherheit der Bevölkerung ergäben. Zu der Tatsache, dass die Software seinen RAF-Fahndern nicht zur Verfügung gestanden hat, sagte de Vries: „Mich ärgert das nicht, es schmälert nicht den Ermittlungserfolg der Kolleginnen und Kollegen des LKA.““
Die Hervorhebungen in diesem Ausschnitt sind von uns.
Kapitel 2: Niedersachsens LKA nutzt seit 2023 heimlich Gesichtserkennungs- und KFZ-Kennzeichen-Identifizierungs-Systeme aus Sachsen (Juni 2024)
Noch während wir mit Blick auf diese politischen Forderungen versuchten, beim Innenministerium Niedersachsens und bei der Staatsanwaltschaft in Hannover Antworten auf unsere Presseanfrage zu erhalten wurde am 10.6.2024 mittels eines Beitrags von Matthias Monroy in der Zeitung „nd“ bekannt, dass sich die niedersächsischen Behörden heimlich längst der verfassungsrechtlich umstrittenen Gesichtserkennungstechnik aus Sachsen bedient haben:
„Auch Ermittler in Niedersachsen nutzten ein verdecktes Gesichtserkennungssystem aus Sachsen zur Observation, wie die Polizeidirektion Hannover dem »nd« auf Anfrage bestätigte. Der Einsatz in einem Fall von »bandenmäßiger Eigentumskriminalität« habe hilfreiche Hinweise auf dabei genutzte Fahrzeuge geliefert und unterstützte konventionelle Observationsmaßnahmen. (…)
Die in Niedersachsen aufgenommenen Fotos wurden den Angaben zufolge mit einer Datei verglichen, die Bilder aus erkennungsdienstlichen Maßnahmen enthält. Als rechtliche Grundlage für den Einsatz nennt die Polizei den Paragraf 98c der Strafprozessordnung (StPO), der den maschinellen Abgleich von Daten zur Aufklärung von Straftaten regelt.
Nun gibt es neue Details zu der Technik: Es handelt sich laut der Polizei Hannover um eine mobile Variante des »Personen-Identifikations-Systems« (PerIS), das die Polizeidirektion Görlitz »in enger Zusammenarbeit« mit der Firma OptoPrecision aus Bremen für stationäre Kamerasäulen an der Grenze zu Polen entwickelt hat. Dieses »PerIS-Mobil« ist in einem weißen und einem orangenen Lieferwagen verbaut und kann täglich rund sechs Terabyte Daten von Gesichtern und Kennzeichen verarbeiten.
Nach dieser Auswertung nicht mehr benötigte Daten würden nach 96 Stunden automatisch gelöscht, heißt es aus Hannover. Dort wird die Plattform aus Görlitz laut der Polizeidirektion nicht in Echtzeit genutzt, sondern nur als rückwirkende Dokumentation. Eine »automatisierte Detektion« von Gesichtern und Kennzeichen in einem »Live-Modus« sei aber möglich, sofern die rechtlichen Grundlagen vorhanden sind. Dann kann die Software auch eine sofortige Mitteilung an die Ermittler ausgeben.“
Während sich die Staatsanwaltschaft Hannover nach wie vor weigert, unsere Presseanfrage zu beantworten hat danach immerhin die Polizeidirektion Hannover ein wenig Auskunft erteilt.
Und noch bevor wir reagieren konnten hat dankenswerter Stefan Krempl den niedersächsischen Landesdatenschutzbeauftragten dazu gebracht, diesen zweifelhaften Vorgang datenschutzrechtlich zu untersuchen – siehe dazu seinen lesenswerten Bericht auf heise.de vom 15.6.2024.
Und auch die Polizeidirektion Hannover gibt sich dazu inzwischen etwas kleinlauter und zurückhaltender:
„In Hinblick auf die weitere Nutzung des Systems und den vom Landesamt für Datenschutz Sachsen angebrachten Bedenken, stehen wir selbstverständlich im engen Austausch mit der Polizei Sachsen.“
Was nun noch folgt sind weitere Informationen, die wir im Zuge von Nachfragen zu unserer Presseanfrage vom LKA Niedersachsen erhielten:
Kapitel 3: LKA Niedersachsen setzt seit 2021 selbst entwickelte Gesichtserkennungs-Software ein (Juni/Juli 2024)
Das kam durch unser Nachfragen Ende ab Juni 2024 heraus. Die Informationen lassen sich stichpunktartig wie folgt zusammenfassen:
- Das LKA Niedersachsen hat in Eigenregie eine Gesichtserkennungs-Software entwickelt.
- Diese wird seit 2021 eingesetzt.
- Wie hoch die Entwicklungskosten oder der Arbeitseinsatz für Entwicklung dieser Software waren, wie oft die Software eingesetzt wird oder gar mit welchem Erfolg, darüber meint das LKA keine Angaben machen zu können.
- Rechtsgrundlagen seien § 483 (1) StPO bei Ermittlungsverfahren und § 11 NPOG bei „Gefahrermittlungsvorgängen“.
- Die niedersächsische Landesdatenschutzbehörde wurde bislang nicht zu Entwicklung und Einsatz der Gesichtserkennungssysteme hinzugezogen.
Fazit
Während der LKA-NDS-Chef medial bemitleidenswert und mit Heimisches-Sofa-Populismus gewürzt den Eindruck erweckt, die Polizei in Niedersachsen dürfe gar keine Gesichtserkennung einsetzen tut er, tut das LKA genau das seit einigen Jahren. Und zwar heimlich. Zum einen mit der Anmietung verfassungsrechtlich umstrittener Anlagen aus Sachsen und zum anderen mit dem Einsatz eigenentwickelter Software, deren Nutzung man der niedersächsischen Datenschutzaufsicht bislang gänzlich verschwiegen hat.
Das ist weder ehrlich noch fair.
Bei der Rechtsgrundlage für all das benennt das LKA wahlweise den einen (§ 98c StPO) oder anderen (§ 483 StPO) Paragraphen bzw. meint im Zuge der akuten Gefahrenabwehr pauschal und höchst fragwürdig das niedersächsische Polizeigesetz (§ 11 NPOG – „Allgemeine Befugnisse“ [sic!]) heranziehen zu können.