Am 28. Januar 1972 erließen die Ministerpräsidenten West-Deutschlands unter dem vielfach gefeierten Willy Brandt den so genannten „Extremistenbeschluss“, auch als „Radikalenerlass“ bekannt. In dessen Folge durchwühlte der Inlandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland („Verfassungsschutz“) die Lebensläufe und die politische Aktivitäten von ca. 3,5 Millionen Menschen, führte also massenhaft „Gesinnungsprüfungen“ durch. Das Ziel: So genannte „Extremisten“ oder „Verfassungsfeinde“ (im Sinne des „Verfassungsschutzes“) sollten herausgefiltert, erfasst und deren weitere berufliche Laufbahn dann gestört werden, wenn diese im öffentlichen Dienst verlaufen sollte.
Tausende Menschen durften infolge den von ihnen gewählte und per Ausbildung oder Studium erlernte Beruf nicht ausüben, das Recht auf Ausübung der Arbeit und der Zugang zum Beamtentum wurde ihnen verweigert.
Wenig verwunderlich und nicht wirklich neu: Betroffen davon waren fast ausnahmslos nur Menschen mit einem „linken“ Weltbild. Rechtsextremisten ließ der bekanntermaßen oft rechtslastig agierende Inlandsgeheimdienst dagegen gewähren.
Der Extremistenbeschluss wirkte über den Kreis der konkret von Entlassungen und Befragungen betroffenen Menschen hinaus und hatte einen weit wirkenden repressiv wirkenden Effekt auf die damalige Gesellschaft West-Deutschlands. Und das war wohl auch seitens der geistigen Väter genau so gewollt und gewünscht.
Erst viele Jahre später wurde der Radikalenerlass aus 1972 geändert und in dieser rigiden und breit invasiv wirkenden Form abgeschafft – zwischen 1985 und 1991 änderten alle (West-)Bundesländer ihre Regelungen entsprechend um.
Doch der bis dahin angerichtete Schaden an Menschenschicksalen und der Gesellschaft insgesamt ist immens. Wenig verwundertlich, dass die Betroffenen bereits seit längerem Rehabilitierung und Entschädigung verlangen.
Das Bundesland Niedersachsen reagierte als erstes und richtete im Jahr 2016 eine Kommission „zur Aufarbeitung der Schicksale der von niedersächsischen Berufsverboten betroffenen Personen und der Möglichkeiten ihrer politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung“ ein.
Trotz dieses erfreulichen Schritts der Aufarbeitung der Geschichte tut sich die derzeitige SPD-CDU-Groko des Landes nun aber schwer, den gut gemeinten Worten wirkliche Taten folgen zu lassen:
Auf die konkrete und beharrliche Anfrage eines Betroffenen antwortete die niedersächsische Staatskanzlei zunächst über ein Jahr lang gar nicht, um dann – und das auch erst aufgrund der Nachfragen des Betroffenen – dessen Anliegen mit Verweis auf Corona und komplexer Materie das Ganze abzulehnen:
„Die für eine Entschädigung notwendige Schaffung notwendiger Gesetzesgrundlagen ist nach hiesiger Einschätzung politisch jedenfalls in dieser Legislaturperiode keinesfalls mehr realisierbar.“
Diesen Satz muss man seinem bürokratisch-diplomatisch Duktus entreissen und decodieren, um dessen Aussage und ihre Tragweite zu erfassen: Es ist nicht gewollt, die per Extremismuserlass um einen guten Teil ihrer Lebensverwirlichung betrogenen Menschen zu rehabiliteren – ganz egal, was die 2016 eingerichtete Kommission dazu bislang eruiert und bewertet hat.
Eine demokratische Bankrotterklärung von SPD und CDU in Niedersachsen. ###
Wir veröffentlichen hiermit den Aufruf „1972 – 2022: 50 Jahre Berufsverbote – Demokratische -Grundrechte verteidigen“ der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung demokratischer Rechte sowie den vollständigen Briefwechsel zwischen einem vom Radialenerlass Betroffenen mit der Staatskanzlei Niedersachsens.
Wer den Aufruf zur überfälligen Aufhebung des Radikalenerlasses und für die Rehabilitierung der dadurch Gebrandmarkten unterschreiben und damit unterstützen möchte kann das online wie offline tun.
Ein Engagement gegen Berufsverbot hat über den demokratiegeschichtlichen Kontext hinaus zudem einen leider sehr aktuellen Bezug:
So hat der Innenminister Brandenburgs, Michael Stübgen von der CDU im vergangenen (Corona-)Jahr die Einführung einer dem Radikalenerlasses ähnelnden Praxis angekündigt. Dem gingen entsprechende Gedankenspiele der – aus unserer Sicht in undemokratischer weil intransparenter Weise agierenden – Innenministerkonferenz voraus (siehe bspw. Beschlüsse zu TOP 2 der IMK vom Dezember 2019, dort Seite 4). Daraus kann man ableiten, dass der brandenburgische Vorstoß dem Beginn einer neuen Welle repressiver Radikalenerlasse im gesamten Bundesgebiet gleichkommt. Einige Bundesländer liebäugeln bereits öffentlich mit dem Gedanken ähnlicher Vorgaben. Auch Nordrhein-Westfalen hat bereits 2018 eine (Achtung, Neusprech:) „Regelabfrage beim Verfassungsschutz“ eingeführt – mit dem bekanntermaßen geringen Erfolg bezüglich der Aufdeckung rechtsextremer Gruppierungen innerhalb der Polizei.
Zwar wird dieser Akt nun mit dem Kampf gegen Rechtsextremismus z.B. bei „Bundeswehr“ und Polizei begründet. Doch dass nun ausgerechnet der Inlandsgeheimdienst („Verfassungsschutz“) diesen längst überfälligen Kampf gegen Rechts anführen soll, das lässt befürchten, dass auch unter den heutigen Bedingungen eher linke und antifaschistisch orientierte Menschen unter den neuen Beschlüssen leiden werden.
Die Kommentierung auf den Seiten der Berufsverbot-Betroffenen beschreibt den aktuellen Vorgang treffend (Hervorhebungen durch uns):
„Aber wir wissen aus eigener Erfahrung: Die Einschränkung von Grundrechten und die Etablierung von Gesinnungsschnüffelei dienen nicht der Demokratie, sie fügen ihr schweren Schaden zu. Solche Maßnahmen des Staates richten sich damals wie heute in erster Linie gegen eine kritische linke Opposition. Der Kampf gegen Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und rechte Hetze war damals und ist heute eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie ausgerechnet an den sogenannten „Verfassungsschutz“ zu delegieren, kommt einem Suizid der Demokratie gleich. Dieser Geheimdienst brachte das erste NPD-Verbotsverfahren zum Scheitern, weil der neonazistischen Partei aufgrund ihrer Durchsetzung mit „V-Leuten“ „mangelnde Staatsferne“ attestiert werden musste. Auch die jetzt angekündigte „Überwachung“ der AfD durch den „Verfassungsschutz“ wird absehbar nur zu einer noch stärkeren personellen und finanziellen Beteiligung des Staates an dieser Partei führen.
Das Grundgesetz und die einschlägigen Rechtsvorschriften bieten ausreichend Möglichkeiten, Mitglieder der rechten Szene aus sensiblen Bereichen des Öffentlichen Dienstes (Polizei, Militär, Justiz, Schulen) fernzuhalten – wenn das politisch gewollt ist. Doch obwohl in den letzten Jahren immer wieder rechtsextreme Netzwerke insbesondere in Polizei und Bundeswehr öffentlich wurden, ist gerade dort von diesen Möglichkeiten kaum Gebrauch gemacht worden.
Auch juristisch bewegten sich solche Gedankenspiele auf dünnem Eis. Heute gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, mit dem verbindliche Antidiskriminierungsrichtlinien der EU umgesetzt wurden. Es würde ein in jeder Hinsicht höchst bedenklicher Präzedenzfall geschaffen.“
Nachfolgend nun der Aufruf zur Rehabilitation der bislang von dem Radikalenerlass Geschädigten und Verletzten:
1972 – 2022: 50 Jahre Berufsverbote – Demokratische Grundrechte verteidigen!
Im Jahr 1969 versprach Bundeskanzler Willy Brandt:
„Mehr Demokratie wagen“.
Im Widerspruch dazu verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Willy Brandt am 28. Januar 1972 den „Extremistenbeschluss“ oder sogenannten Radikalenerlass.
In den folgenden Jahren wurden ca. 3,5 Millionen Bewerber*innen für Berufe im öffentlichen Dienst überprüft. Der Verfassungsschutz erhielt den Auftrag zu entscheiden, wer als „Radikaler“, als „Extremist“ oder als „Verfassungsfeind“ zu gelten hatte. Personen, die „nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“, wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder gar nicht erst eingestellt.
Die Überprüfungen führten bundesweit zu etwa 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Betroffen waren Kommunist*innen, andere Linke bis hin zu SPD-nahen Studierendenverbänden, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA und Gewerkschafter*innen. In Bayern traf es auch Sozialdemokrat*innen und in der Friedensbewegung engagierte Menschen.
Das schüchterte viele ein.
Mitglieder und Sympathisant*innen rechter Parteien und Gruppierungen wurden dagegen im öffentlichen Dienst geduldet und bei Bewerbungen fast nie abgelehnt.
Um gegen nazistische Tendenzen vorzugehen, braucht es keinen neuen „Radikalenerlass“ oder „Extremistenbeschluss“, sondern die konsequente Umsetzung des Art. 139 GG und der §§ 86 und 130 StGB. Hiernach sind neonazistische Organisationen und die Verbreitung von Nazi-Gedankengut verboten.
Die Berufsverbote stehen im Widerspruch zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und den Kernnormen des internationalen Arbeitsrechts, wie die ILO seit 1987 feststellt. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte 1995 die Praxis der Berufsverbote.
Im Jahr 2022 jährt sich der „Radikalenerlass“ zum 50. Mal
Die nationale und internationale Solidaritätsbewegung, alle Menschen, die sich an diesem Kampf beteiligt haben, die Gewerkschaften und alle Initiativen gegen Berufsverbote haben sich um die Demokratie verdient gemacht. Ihre politische und materielle Unterstützung werden wir weiterhin brauchen.
Es ist an der Zeit,
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den „Radikalenerlass“ generell und bundesweit offiziell aufzuheben,
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alle Betroffenen voll umfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen,
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die Folgen der Berufsverbote und ihre Auswirkungen auf die demokratische Kultur wissenschaftlich aufzuarbeiten.