Dass seit bald einem Jahrzehnt vor Gericht um die polizeiliche Videoüberwachung des öffentlichen Lebensraums der Stadt Hannover gestritten wird mag – wenn auch nicht vorrangig – daran liegen, dass die Polizei Hannover diesbezüglich bundesweit eine Vorreiterstellung eingenommen hat. Im Dezember 1976 begann sie – in einem bis dahin nicht dagewesenen Umfang und mit für jene Zeiten hochmoderner Technik – mit der flächenmäßig umfangreichen Videoüberwachung der Stadt.
Zur Erinnerung daran rezitieren wir aus einem Bericht des „Spiegel“ vom Januar 1977:
Fernsehmäßig im Griff
Die hannoversche Polizei bedient sich der Technik des Kabelfernsehens – zur Verkehrsregelung, womöglich aber auch, um Leute zu überwachen.
Beitrag des „Spiegel“ vom 3.1.1977
Die Besatzung eines „Hanno“-Funkstreifenwagens überprüfte am hannoverschen Emmichplatz zwei Kraftfahrer wegen einer Bagatelle mit Blechschaden. Da quäkte aus dem Funkgerät die Stimme ihres Herrn: Sie möchten doch unverzüglich das eigene Auto vorschriftsmäßig parken, sonst gäbe es gleich einen größeren Unfall. Der vorgesetzte Kommissär hatte alles mit angesehen.
In einem anderen Teil der Stadt, am „Schwarzen Bären“ im Arbeiterviertel Linden, versammelte sich derweil ein Dutzend Bürger aus Protest gegen neue Verkehrstarife, Sie standen auf den Schienen und versuchten, den Straßenbahnverkehr zu blockieren. „Wir haben uns das gelassen angeguckt“, sagt Hauptkommissar Paul Risse, „daraus konnte sich nichts entwickeln.“
Risse saß trocken im Polizeipräsidium, als er beide Szenen betrachtete — auf 61er Fernsehschirmen. Denn seit Mitte Dezember [1976] hat Hannovers Polizei für 700 000 Mark Deutschlands modernste TV-Anlage zur Überwachung der Innenstadt. Mit deren Hilfe ist es möglich, so der Polizei-Chef Heinrich Boge, „frei von der Hektik des unmittelbaren Geschehens, sich einen umfassenden Lageüberblick zu verschaffen“. Aber nicht nur das. Life, auf 19 „Bosch“-Geräten gleichzeitig, ist rund um die Uhr volles Programm, wird das Leben der City wiedergegeben. Kameras an allen wichtigen Punkten der Innenstadt lassen sich um 359 Grad schwenken, haben Gummilinsen, die sich vom Panorama-Weitwinkel bis zum 144-Millimeter-Tele ausfahren lassen, was .schon einem guten Fernglas entspricht. Dies alles ist auf Hebel- und Knopfdruck regulierbar aus dem Polizeipräsidium.
Was mit Richtfunk nicht möglich gewesen wäre, weil es die Post nur noch ausnahmsweise erlaubt, läßt sich per Kabel realisieren – „eine Weltpremiere“, wie Peter Schweizer, Direktor beim Hersteller „Bosch“ verkündete. Im TV-System werden alle Signale elektronisch verstärkt, so daß das Abbild, bei Nacht, mitunter besser ist als das Vorbild. Bis jetzt sind 14 Kilometer verlegt, und die Strecke soll noch vervierfacht. die Zahl der Kameras mehr als verdoppelt werden.
„Überwachung bzw. Einblick in Verkehrsablauf“ (Polizei-Deutsch) und damit das Reagieren auf Stopps und Staus wird bald Routine sein, dies ist auch nur der augenfälligste Vorteil der neuen Technik.,. Der Blick auf die Karte“, so Polizeioberrat Wolf Dieter Lüddecke, „ersetzt nicht den Blick ins Gelände.“ Nun braucht der Polizei-Stratege gar nicht mehr persönlich vor Ort. Selbst wo die installierten Aufnahmegeräte nicht hingucken können, da lassen sich, wenn ein Kabelanschluß in der Nähe ist, sogar mobile Kameras einsetzen.
Schöne Aussichten: Feste Kameras sind im Amüsierviertel installiert, und mit ihnen hofft Lüddecke. an die Straßenkriminalität heranzukommen. Er denkt zum Beispiel an „Zechanschlußtaten oder so“ oder an die Lockvögel vor schrägen Kneipen und will „die Damen vom horizontalen Gewerbe fernsehmäßig ein bißchen in den Griff kriegen“.
Denkbar wäre auch, daß sich das Polizei-TV einmal bewährt, wo es nicht nur um kriminellen Alltag geht, sondern ums große Ding. So lassen sich einige Kameras auf Geldinstitute schwenken, und wer einen Bankraub plant, müßte dies schon in seine Überlegungen mit einbeziehen.
Einstweilen naheliegender und häufiger anwendbar erscheint der hannoverschen Polizei jedoch die „Einleitung von Sofortmaßnahmen“ bei „Spontandemos“. Die — ohnedies kaum wiederholbare — legendäre Rot-Punkt-Bewegung, als erst nur ein paar Bahnen standen und dann tagelang gar keine mehr fuhren, wäre gegen taktischen TV-Einsatz womöglich gar nicht erst zustande gekommen. „Die Spielwiese des Demonstrationsgeschehens“, so Lüddecke, hat die „Befehlsstelle des leitenden Beamten vom Dienst“ nun jedenfalls immer von vornherein Im Auge.
Ungeahntes bietet sich, wenn, was angestrebt werden soll, die Übertragung auch an Videorecorder angeschlossen wird — zur Beweissicherung. Da läßt sich der Weg eines Mannes aus der Ferne verfolgen und aufzeichnen, ohne daß dies irgendeine Instanz kontrollieren könnte.
Sogar was einer sagt, ließe sieh an bestimmten Punkten belauschen es braucht kein weiteres Kabel, wie der Hersteller bereits ausprobiert hat. Nur gute Mikrophone.
Bislang können die Profis, die gern unerkannt viel sehen und hören, davon nur träumen. Doch zumindest theoretisch könnten sich — Vision vom Großen Bruder — auch Verfassungsschutz und politisches Kommissariat der neuen Technik bedienen. Auf dem Wege der Amtshilfe.
Quelle: SPIEGEL-Online-Print-Archiv, SPIEGEL 1/1977, Bericht vom 3.1.1977