Heute hat das niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Lüneburg ein im Trend des Zeitgeistes liegendes Urteil in einem Streit zwischen der Niedersächsischen Landesdatenschutzbeauftragten und dem Bus- und Bahnverkehrbetreiber Hannovers, der ÜSTRA AG, gefällt. Es geht um die Frage der Rechtmäßigkeit umfassender Videoüberwachung (VÜ) im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Wir waren bei Verhandlung und Urteilsverkündung dabei.
Das bundesweit im Fokus von Verkehrsunternehmen und Überwachungsbefürwortern und -skeptikern im Fokus befindliche Verfahren endete in einem grund- und menschenrechtlichen Fiasko.
Der Tenor der Entscheidung in aller Kürze: Flächendeckende Videoüberwachung im öffentlichen Personennahverkehr sei rechtens, wenn (in welchem Umfang auch immer!) die Chance zur Verhinderung oder (!) Verfolgung von Straftaten möglich sein könnte.
Wissenschaftliche Belege, dass Videoüberwachung keinen oder nur bei leichteren Straftaten bedingt messbare Erfolg bei der Verhinderung von Kriminalität hat zogen beim Gericht ebensowenig wie die Frage nach Verhältnismäßigkeit oder die grundsätzliche Frage, ob Privatunternehmen nun (anders als bisher in deutscher Rechtstradition) als verlängerter Arm der polizeilichen Strafverfolgung dienen können.
Doch es kam noch schlimmer:
Der vorsitzende Richter des 11. Senats, der zugleich Berichterstatter des Verfahrens gewesen ist, betonte in der am heutigen Nachmittag zunächst mündlich vorgetragenen Urteilsbegründung ausdrücklich, dass die „Befriedigung des Verlangens nach einem höheren subjektiven (!) Sicherheitsempfinden“ als Argument zur Rechtfertigung einer flächendeckenden Videoüberwachung diene.
Dieses Aussage ist ein Fanal, ein Aufgeben der Haltung, wonach Einschnitte in die Grundrechte von Menschen nur aufgrund abwägender Überlegungen zur Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriff und dessen Effekt, und zwar auf Fakten basierend, vorgenommen werden dürfen und sich nicht nach Stimmungen oder Meinungsumfragen richten dürfen.
Man könnte darüber hinaus auch behaupten: Dieses Urteil und die damit verbundenen Folgen für die drohende massive Ausweitung der staatlichen und privaten Videoüberwachung des öffentlichen Raums ist die erste Folge der von Herrn de Maziere im April 2017 in Kraft getretenen, euphemistisch als „Videoüberwachungsverbesserungsgesetz“ bezeichneten Erweiterung des § 6b BDSG. Dieser Paragraph normiert die Zulässigkeit von Videoüberwachungsanlagen. Mittels einer heftigst umstrittenen textlichen Ergänzung um einen Satz legitimiert die Gesetzesänderung eine große Zahl von Überwachungsmaßnahmen, die bislang so nicht zulässig gewesen wären:
Heute fiel das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das Recht sich unerkannt im öffentlichen Raum bewegen zu dürfen diesem neuen, dem Populismus und diesem der Sicherheitsesoterik geschuldeten Gesetz zum Opfer.
Nachfolgend unser ausführlicher Bericht von der heutigen Verhandlung mit dem dazugehörigen Kontext:
Die Vorgeschichte:
In Hannover werden die Stadtbahnen und Busse durch die in Teilen in der öffentlichen Hand befindliche ÜSTRA AG betrieben. Dafür hat sie einen langjährigen vertraglich vereinbarten Auftrag von Stadt und Region Hannover erhalten.
Ca. 2005 hat die ÜSTRA damit begonnen, die Fahrgasträume von Bussen und Bahnen mit Videoüberwachungsanlagen auszurüsten. Mittlerweile wird ein Großteil dieser Fahrzeuge flächendeckend von Überwachungskameras erfasst. Die Anlagen arbeiten nach dem so genannten Black-Box-Verfahren: Die Kameras zeichnen die Bilder auf und speichern diese jeweils zentral auf in den Fahrzeugen fest verbauten Datenspeichern auf. Diese überschreiben – so die Angaben der ÜSTRA – die Bildaufzeichnungen automatisch nach 24 Stunden, sofern zuvor nicht durch Ausbau des Datenspeichers eine Sicherung vorgenommen worden ist.
(Zur Häufigkeit der Zugriffe auf diese Daten und die im ÖPNV Hannover festgestellten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten siehe hier).
Für den Betrieb der Überwachungskameras gibt es keinerlei Datenschutzkonzept. Dieses hat die niedersächsische Datenschutzbeauftragte (LfD) seit 2013 moniert, man stritt sich, fand mangels Kooperationsfähigkeit seitens der ÜSTRA keinen Kompromiss und so erteilte die LfD der ÜSTRA im August 2014 einen Beschluss, wonach die Überwachungskameras abzuschalten seien, bis eine konkrete Gefahrenbeurteilung vorgenommen und daran differenziert die Videoüberwachung angepasst worden sei.
Gegen diesen Beschluss wehrte sich die ÜSTRA mit einer Klage und erhielt zunächst Vollstreckungsaufschub.
Bei der Verhandlung der Klage vor dem Verwaltungsgericht Hannover am 10.2.2016 machte sich dieses einen schlanken Fuß und urteilte, ohne auf den Gehalt des Streites eingehen zu müssen, dass auf die ÜSTRA-VÜ anders als vom LfD angenommen, das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) gar nicht anwendbar sei, weil die ÜSTRA „hoheitliche Aufgaben“ der Stadt Hannover übernehme und insofern aufgrund eines im BDSG definierten Ausnahmetatbestandes nicht in Regress zu nehmen sei. Diese Meinung vertrat das Verwaltungsgericht, obwohl – so heute die Äußerungen von Kläger und Beklagten uns gegenüber – sich beide Streitparteien einig darin waren, dass das BDSG durchaus anzuwenden sei.
So befand das dann auch das OVG Lüneburg, das heute aufgrund der vom LfD eingelegten Berufungsklage zur Sache verhandelte.
Nebenbemerkung: Noch am 10.8.2017 widersprach der Vorstandsvorsitzende der ÜSTRA AG der Ansicht, dass das BDSG für die Streitfrage anwendbar sei. Siehe Protokoll von der ÜSTRA-AG-Hauptversammlung von diesem Tag.
Zur heutigen Verhandlung:
Vorweg sei angemerkt, dass sich das Gericht offenbar bereits vor der Verhandlung eine Meinung zum Ausgang des Vefahrens gemacht hatte, an dem auch die Vorträge des Vertreters der LfD nicht mehr rütteln konnten.
Die mündliche und öffentliche Verhandlung begann mit Verspätung um 11:45 Uhr. Nach ausführlicher Einführung in den Sachverhalt und der Klärung des Greifens des BDSG gab der Richter beiden Streitparteien ab 12:15 Uhr Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge vorzutragen. Dafür war dann insgesamt knapp 40 Minuten Zeit, bevor sich die Richter zur Urteilsbesprechung zurückzogen. Eine knappe Stunde später (inklusive Mittagessen?) verkündten der Vorsitzende dann das Urteil durch das Verlesen eines ausformulierten Textes.
Es ist nicht vorstellbar, dass dieser Text innerhalb der einen Stunde entwickelt und in Abstimmung zwischen allen fünf Richtern konsensual vereinbart worden ist.
Ein Nachteil des Verschiebens der inhaltlichen Diskussion vom Verwaltungsgerichtsverfahren zum OVG-Berufungsverfahren ist, dass die inhaltliche Diskussion zu kurz gekommen ist. So wurden eine Reihe von Gesichtspunkten und Argumenten heute in Lüneburg gar nicht mehr mündlich behandelt und besprochen, weil diese ja bereits vor eineinhalb Jahren bereits vorgebracht worden seien und (wenn auch nur in Teilen) in den Akten einsehbar seien. Der Gerichtsöffentlichkeit hat das zweifelsfrei geschadet, auch erschien es uns so, als sind so eine Reihe von berechtigten Kritikpunkten gar nicht in die Urteilsfindung eingeflossen. Zumindest waren sie in der heutigen mündlichen Verhandlung gar kein Thema.
Nachfolgend in loser und ungeordneter Reihenfolge und ohne Anspruch auf Vollständigkeit die Argumentationspunkte der beiden Streitparteien.
Argumente der LfD gegen die jetzige Form der pauschalen und flächendeckenden Videoüberwachung in Bussen und Bahnen:
- Datenschutzkonzept und Gefahrenanalyse fehlen.
- Videoüberwachung darf nicht pauschal und flächendeckend sein, muss differenziert nach Zeit und Ort an konkrete Gefährdungslage angepasst werden.
- §6b BDSG zieht nicht: VÜ weder zulässig im Zuge der Wahrnehmung des Hausrechts noch für andere, konkret festgelegte Zwecke.
- VÜ hat keinen präventiven Nutzen/Effekt.
- Konkrete Verweise und empirische Belege über den Nutzen der VÜ fehlen.
- Erhöhung des subjektiven Sicherheitsgefühls von Fahrgästen darf/kann kein Argument für Grundrechtsbeschneidungen sein.
- Permanente und lückenlose VÜ ist Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
- Vorgelegte Daten der ÜSTRA mit Auflistung von Straftaten und VÜ-Auswertungen belegen Zweckerreichung der VÜ nicht.
- Behauptete Vergleichbarkeit des ÖPNV von Hannover mit dem von Hamburg ist nicht so. Beide Städte und Verkehrs- und Überwachungssysteme können nicht sachgerecht miteinander verglichen werden.
- Es muß eine objektive Gefährdungslage bestehen, damit VÜ gerechtfertigt ist.
- Die von ÜSTRA vorgelegten Vorfall-Listen belegen Unverhältnismäßigkeit, wenn man die Zahlen der Vorfälle in Relation zur Zahl der beförderten Menschen setzt. [Anmerkung: Die konkret genannten Zahlen konnten aufgrund der Eile leider nicht mitnotiert werden.]
- Fraglich, ob Kriminalitätsprävention mittels VÜ erfolgreich/möglich ist.
- VÜ ohne Echtzeit-Bildübertragung und -beobachtung mag evtl. präventiv wirken, eine reine Aufzeichnung der Bilder wie hier im Black-Box-Verfahren wirkt aber nicht präventiv.
- Flächendeckender Grundrechtseingriff widerspricht den Prinzipien/Gesetz zu Datensparsamkeit und -vermeidung.
- Einzelfallabwägung fehlt.
- Verstoß gegen Übermaßverbot.
- „Uns geht es nicht um eine vollständige VÜ-Unterbindung.“
- ÜSTRA verweigert sich beharrlich einer Überprüfung der Wirksamkeit der VÜ-Anlagen.
- Unbewiesene ÜSTRA-Prämisse sei: „Je mehr VÜ, umso mehr Prävention.“ Das ist kriminologisch jedoch nicht nachgewiesen.
- Zitiert Stellungnahme von Prof. Dr. Thomas Feltes und Dr. Andreas Ruch von der Ruhr-Universität Bochum zur Bundestag-Innenausschuss-Anhörung zum „Videoüberwachungsverbesserungsgesetz“ am 6.3.2017:
„Der Gesetzentwurf stellt explizit auf den Schutz von Leib und Leben der Bevölkerung ab. In diesem Bereich muss nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung aber von einer weitgehenden Wirkungslosigkeit der Videoüberwachung ausgegangen werden. Videoüberwachung ist demnach nicht – wie in der Begründung zum Gesetzentwurf (BT-Drs. 18/10941, S.4 und 8) suggeriert – geeignet, Vorfälle wie in Ansbach und München zu verhindern. Im Gegenteil belegen vergangene Anschläge wie in Nizza (Juli 2016) Boston (April 2013) und Berlin (Dezember 2016) auf fast schon tragische Weise die nicht vorhandene Wirksamkeit staatlicher Videoüberwachung. An den Tatorten fand zumindest punktuell Videoüberwachung statt, die den Anschlag filmen, aber gerade nicht zu seiner Verhinderung beigetragen konnte.“
- Es gibt keine sichere Beantwortung der Frage, ob VÜ etwas zur Kriminalitätsbekämpfung taugt. Verdängungseffekte scheinen allen wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge relevant zu sein.
- Zitiert aus Interwiev in einem HAZ-Artikel vom 9.12.2016 den Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen:
„Es gibt keinen Abschreckungseffekt von Videoüberwachung außer bei Parkplätzen.“
- Bürger empfinden ein Mehr von Videoüberwachung nicht als mehr Sicherheit.
- ÜSTRA-VÜ hat keine präventive Wirkung => Interessenabwägung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit muss gegeben sein.
- Artikel 8 EU-Grundrechte-Charta beachten!
- Datenschutzkonferenz (DSK) hat 2016 Entschluß zum Thema gefasst: Gegen flächendeckende VÜ im ÖPNV. Und gegen §6b-BDSG-Novelle. Verfassungsrechtliche Bedenken.
- §6b-BDSG-Novelle stellt einen Bruch mit der bisherigen Rechtstradition dar, soweit es um die Frage geht, wer im Land für die Gefahrenabwehr zuständig ist. Das sollen nun auch private Unternehmen und Privatpersonen anstelle der Polizei sein (können).
- DSK wird die Geeignetheit der VÜ infrage stellen. Der tatsächliche Schutz von Personen ist nur dann gegeben und möglich, wenn VÜ-Geeignetheit vorhanden/nachgewiesen ist. Die VÜ-BlackBox-Lösung ist dazu nicht geeignet.
- Es bleibt unklar und schwammig: Entweder wird Prävention oder Repression als Ziel verfolgt.
- Die erste von der ÜSTRA vorgelegte Liste (im Zuge des Verfahrens vor dem VG Hannover) sprach noch ausdrücklich davon, dass es ausschließlich um die Verfolgung repressiver Ziele ging. Erst zum Ende des Verfahrens hieß es dann auf einmal, dass es auch um Prävention ginge. Das fiel wie vom Himmel.
- Der überwiegende Teil der von der ÜSTRA dann aufgelisteten 348 Fälle von VÜ-Datenmaterial-Abgriffen erfolgte auf Anforderung der Polizei und nicht zu ÜSTRA-eigenen Zwecken. Das nur in etwa der Hälfte der Fälle.
- Wenn man dann weiter untersucht, stellt man weiter fest, dass nur 52 von 348 Fälle aus Anlaß zur Wahrnehmung eigener Interessen (der ÜSTRA) gewesen sind.
- Viele Vorfälle der genannten Liste betreffen Vorfälle, die nicht innerhalb von Bus oder Bahn stattfanden, sondern außerhalb der Fahrzeuge vonstatten gingen.
- §6b-BDSG-Erweiterung ist innenpolitische Entscheidung gewesen, als Folge der vorherigen Innenministerkonferenz (IMK), die politischen Druck ausgeübt hat.
Argumente der ÜSTRA (bzw. der sechs (!) sie vertretenden Rechtsanwälte) für die Videoüberwachung:
- VÜ verfolgte berechtigte Interessen der ÜSTRA.
- Potentielle Störer und unerwünschte Personen werden vom Betreten der Fahrzeuge und von der Verübung von Straftaten abgehalten.
- Straftaten erfolgen unabhängig von Zeit und Ort, latente Gefahr von Straftaten.
- VÜ-Technik, die individuell nach Zeit und Ort regelbar/ein-aus-schaltbare Kameras ermöglicht, existiert nicht.
- Solche dynamische VÜ-Ein-Ausschaltung ist zudem nicht praxisgerecht, weil Fahrzeuge zum Teil sehr dynamisch (bei Störungen oder Ersatzverkehren) eingesetzt werden.
- Keine hohe Eingriffsintensität in die Grundrechte von Fahrgästen, weil Black-Box-Verfahren und weil kein Echtzeit-Monitoring der Bilder erfolgt.
- VÜ ist folgenlos für Fahrgäste, die sich rechtskonform verhalten.
- VÜ hat repressive Wirkung.
- Es wäre sachwidrig, VÜ auf bestimmte Linien oder Zeiten zu beschränken, es gibt ein latentes Risiko.
- „Kollateral-Überwachte“ sind unvermeidlich. [o_O]
- Der Zusammenhang von Repression und Prävention ist bewiesen. Das hat der Deutsche Bundestag in seiner Gesetzesbegründung auch so betont.
- Ein Monitoring von Kamerabildern ließe kein sachlich-unabhängiges Testergebnis zu, weil bereits das Monitoring, also die Anwesenheit zusätzlicher Leute, eine Wirkung auf die Fahrgäste und auf potentielle Straftäter hätte.
- BlackBox-Verfahren erzeugt Repression.
- Die Sicherheit der Fahrgäste kann als „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ verstanden werden. Es gibt den Anspruch der Fahrgäste, gefühlt sicher Bahn fahren zu können.
- Die HAZ-Presse hat in ihren Umfragen herausgefunden, dass „ganz ganz überwiegende Anzahl der Fahrgäste VÜ wollen.“ Das ist eine besondere Situation!
- Die Eingriffe ins Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sind minimal.
- Es gibt außerdem keine zentrale Speicherung, keine Vorratsdatenspeicherung (VDS), der VDS-Vorwurf zieht hier nicht, es gibt keine Anhäufung von Daten.
- OVG Lüneburg hat schon 2014 über ein BlackBox-VÜ-System in einem Hochhaus (Bürohaus?) entschieden. Gleicher Tenor auch hier.
- „Wir haben uns das absolut nicht leicht gemacht, dieses VÜ-System so aufzusetzen, wie es ist.“
- Die jüngste BDSG-Änderung („Videoüberwachungsverbesserungsgesetz“) bestärkt uns in unserer Haltung.“
- BlackBox-VÜ ist nur ein einzelner Baustein im ÜSTRA-Sicherheitskonzept.
- ÜSTRA-Forderung nach ständigem Monitoring der Kamerabilder ist nicht umsetzbar und würde zudem zu erweiterten Grundrechtseingriffen führen.
- „Dieses System funktioniert – es wäre ja auch eine Schande, wenn das nicht so wäre.“
- „Wir wünschten uns, dass es dank der VÜ sogar eine Liste mit null Einträgen gäbe. Nur dank der VÜ ist die Anzahl der Vorfälle nicht höher.“
Argumente des Gerichtes/vorsitzenden Richters:
- § 38 (5) BDSG zieht, weil die Erbringung der ÖPNV-Dienste durch die ÜSTRA keine „hoheitliche Aufgabe ist“. Die hoheitliche Verantwortung verbleibt bei Stadt und Region Hannover trotz Auftragsübertragung.
- ÜSTRA hat in einem Zeitraum von … bis Juni 2014 (ein Jahr lang?) 1.740 „sicherheitsrelevante“ Vorfälle verzeichnet. Besonders häufig am Wochenende und nachts. Im gesamten Streckennetz.
- ÜSTRA hat weitere Liste eines Zeitraums vom Oktober 2014 bis November 2015 vorgelegt, die 348 „Sachverhalte“ auflistet, die zur Auswertung von Videoüberwachung geführt haben. Darunter auch Vorwürfe/Straftaten wie z.B. Raub, Überfall, Randale, Angriff auf einen Fahrer.
- §6b BDSG-Erweiterung durch Bundesregierung (April 2017 inkraft getreten) soll nach Willen des Gesetzgebers „normative Gewichtungsvorgabe für zu treffende Entscheidungen“ darstellen! Besonders hervorgehoben wird die Zulässigkeit der VÜ „zum Schutz von Leben, Gesundheit und Freiheit von Menschen als besonderes Interesse“.
- Deutscher Bundestag hat §6b-BDSG-Erweiterung trotz des Gutachtens aus Bochum entschieden. Vermutlich nicht ohne Grund.
- Neuer §6b-BDSG gilt auch schon für dieses Verfahren, auch wenn zu Verfahrensbeginn noch nicht absehbar/inkraft gewesen ist.
Fehlende, in der mündlichen Verhandlung zumindest nicht behandelte Aspekte, Argumente und Fragen:
- Wie definiert die ÜSTRA „sicherheitsrelevante“ Merkmale und inwiefern ist diese Definition kompatibel mit den Ansprüchen des §6b BDSG?
- Entwicklung der verzeichneten Straftaten in den letzten Jahren. (Siehe Protokolle der ÜSTRA-AG-Hauptversammlungen.)
- ÜSTRA kann nichts dazu sagen, ob und in welchem Umfang die Aushändigung von VÜ-Material an die Polizei zur Aufklärung oder Verfolgung von Straftaten dienlich gewesen ist. Kein Feedback von der Polizei Hannover dazu!
- Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme. Beispiel: „Im hannoverschen S-Bahn-Netz sind der Polizei im vergangenen Jahr 170 Vorfälle wie etwa Schlägereien, Bedrohung, Vandalismus oder Pöbeleien gemeldet worden. Die Zahlen stießen bei den Politikern angesicht von rund 30 Millionen Reisenden, die die S-Bahn 2016 benutzten, auf Erstaunen.“ (Quelle: HAZ-Beitrag vom 15.8.2017).
- Fehlende Seriösität der HAZ-Umfragen und -Meinungsmache. Unklare Randbedingungen einer ÜSTRA-Umfrage zum Thema.
- Davon unabhängig: Meinungsumfragen dürfen nicht gesetzesbegründend sein!
- Abwägung der Interessen von VÜ-Befürwortern und -Gegnern unter den Fahrgästen.
- Belege für Verhältnismäßigkeit wurden nicht betrachtet/diskutiert.
- Zuständigkeitsfrage für Strafverfolgung (siehe oben) und der jüngste Rechtsparadigmenwechsel wurde überhaupt nicht diskutiert/infragegestellt.
- ÖPNV ist für viele Menschen ein Muß, ein unumgehbarer Zwang, z.B. auf dem Weg zur Arbeit oder im Rahmen der sozialen Teilhabe. Es wurde überhaupt nicht diskutiert, dass die Nutzung des ÖPNV oft alternativlos ist und insofern keine Ausweichmöglichkeit für viele Menschen existiert. Alleine deshalb dürfte keine flächendeckende VÜ zulässig sein.
- Andere mildere Mittel zum Schutz der Fahrgäste (z.B. mehr Fahrbegleiter, bessere Beleuchtung, Notruftasten, auf Bedarf zuschaltbare Überwachungskamerabilde an den Bahnfahrer etc.) wurden nicht behandelt.
Aus der mündlichen Urteilsbegründung des Richters:
- Berufung wird zurückgewiesen.
- Es wird keine Revision zugelassen.
- Verwaltungsgericht-Hannover-Urteil im Ergebnis richtig. [o_O – Ziemlich fadenscheinig und unklar formuliert …]
- Es liegen keine materiellen Voraussetzungen zur Durchsetzung des LfD-Bescheids vor.
- ÜSTRA-VÜ ist nach BDSG erlaubt.
- Begründung der VÜ aufgrund Hausrechtswahrnehmung wurde nicht behandelt.
- Aber es gibt berechtigte Interessen und Zweck der VÜ ist Verfolgung von Straftaten und Sicherung von Beweismaterial.
- Es gibt Tag und Nacht und überall auf allen Bus- und Bahnlinien Straftaten.
- Das mildere Mittel der Beschränkung der VÜ scheidet damit aus.
- Zusätzlich ist der Zweck der Gefahrenabwehr relevant, denn die Bildaufzeichnung kann abscreckende Wirkung entfalten.
- Außerdem wird das Bedürfnis zur Erhöhung des subjektiven Sicherheitsgefühls befriedigt.
- Die Erweiterung des § 6b BDSG unterstützt diese Gerichtsentscheidung.
Offizielle schriftliche Stellungnahmen oder Pressemitteilungen seitens OVG, LfD oder ÜSTRA lagen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags am Donnerstag abend noch nicht vor.
UPDATES
- 7.9.2017 – Berichterstattung durch den NDR
- 8.9.2017 – Pressemitteilung der LfD Niedersachsen
- 8.9.2017 – Pressemitteilung des OVG Lüneburg
- 9.9.2017 – Berichterstattung durch die HAZ
- 9.9.2017 – Berichterstattung durch heise.de