Das Pilotprojekt von Bundesinnenministerium (BMI) und Deutsche Bahn AG zur so genannten „intelligenten Videoüberwachung“ ist seit Beginn des biometrischen Feldversuches in die öffentliche Diskussion geraten. Das Überwachungsexperiment gliedert sich in zwei Teilprojekte: Eines zur automatisierten Identifizierung von Personen (vom BMI geführt), ein zweites zur automatisierten Erfassung auffälliger Situationen oder Verhaltensweisen (von der Deutschen Bahn geführt).
Wir hatten schon im April und im Juni dieses Jahres dazu (durchaus beharrlich) recherchiert und sind auf einige Merk- und Fragwürdigkeiten gestoßen:
- So existiert für das von der der Deutschen Bahn AG geführte Teilprojekt (automatisierte Erkennung „abweichenden oder auffälligen Verhaltens“) noch gar kein Datenschutzkonzept (Stand 19.7.2017).
- Die damals an BMI und Deutsche Bahn gerichteten Anfragen zum Thema RFID-Scanner blieben hinsichtlich der RFID-Benennung unwidersprochen.
- Dass die vom BMI-Pilotprojekt überwachten Flächen und Bereiche „barrierefrei“ umgangen werden könnten ist nur theoretisch der Fall: Zwar ist ein im Südkreuz-Bahnhof vorhandener (einzelner!) Fahrstuhl angeblich nicht von der Überwachung betroffen, es ist allerdings lebensfremd anzunehmen, dass alle Menschen des Bahnhofs, die ansonsten die (videoüberwachte) Rolltreppe benutzen würden, sich in der dann langen Schlange zur Benutzung des Aufzugs einreihen und geduldig warten würden, bis sie an der Reihe sind. Und diese Annahme dürfte nicht nur für die Stoßzeiten auf dem Bahnhof gelten.
- Hieß es anfangs noch, dass ausschließlich Bundespolizisten und -polizistinnen als Testpersonen eingesetzt werden sollten, wollte das BMI von dieser Aussage einige Wochen später nichts mehr wissen. Das habe der Journalist der Berliner Zeitung wohl „falsch vernommen“, heißt es aus dem Ministerium. Nachfragen an den Journalisten lassen keine belegbare Aussage zu, was nun damals behauptet worden ist oder nicht, doch ist der Mitarbeiter der Berliner Zeitung sich sicher, sehr sorgfältig zu arbeiten und nicht ohne Grund solche Behauptungen einzufügen.
Viele weitere Umstände zur automatisierten auf Videoüberwachungstechnik basierenden Gesichtserkennung bzw. Identifizierung von Menschen des umstrittenen BMI-Teilprojekts sind jedoch nach wie vor unklar:
Entsprechende Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) zum Datenschutzkonzept für das BMI-Pilotprojekt sind entweder zeitlich verschleppt oder gar nicht beantwortet worden. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass im Bundestagswahlkampf unangenehme Tatsachen (z.B. dass gar kein fundiertes Datenschutzkonzept existiert) gern verschwiegen werden, da es bei dem Projekt anscheinend vordergründig um Symbolpolitik als Wahlkampfhilfe für den Bundesinnenminister geht.
Immerhin förderten die ausdauernden und sich über mehrere Monate (!) hinziehende Nachfragen an die Deutsche Bahn AG zutage, dass es zumindest für dessen Teilprojekt zur automatisierten Erkennung so genannten „abweichenden Verhaltens“ noch überhaupt kein Datenschutzkonzept existiert (Stand 19.7.2017).
Es stellen sich aber noch viele weitere Fragen, auch über den aktuellen Streit um die Zulässigkeit und Modalitäten des Pilotprojektes hinaus. Einige davon möchten wir hier aufzeigen und nachfolgend einen kurzen Verweis auf den im politischen Diskurs derzeit häufig angebrachten Vergleich der identifizierfähigen Videoüberwachung mit dem KFZ-Kennzeichen-Scanning anfügen:
Mit welchen Fahndungsdaten sollen die von der Videoüberwachung erfassten Personen abgeglichen werden?
Mit Blick auf die skandalösen Praktiken der so genannten „Sicherheitsbehörden“, substanzlose Verdächtigungen und Auszüge aus den mannigfaltigen Datensammlungen des Inlandgeheimdienstes als Grund für Inhaftierungen und anderen Grundrechtsenziehungen vorzuschieben, ist die Sorge groß, dass keinesfalls „nur“ tatsächliche Terroristen automatisiert erfasst und identifiziert werden. Das aber wird von den Überwachungsbefürwortern immer wieder verharmlosend genau so vorgetragen.
Im Zuge des G20-De-Akkreditierungsskandals ist erstmals einer etwas breiteren Öffentlichkeit deutlich geworden, wie schnell unschuldige Menschen aufgrund vielfacher Ursachen wie bspw. Namensverwechselungen oder „dank“ unhaltbarer, unbewiesener Vorwürfe seitens der Geheimdienste oder der Kriminalämter als „Gefährder“ oder „Extremisten“ gebrandmarkt und in entsprechenden Dateien eingetragen und von dort in andere Datenbanken weitergetragen werden. Und das alles, ohne dass die Betroffenen darüber aufgeklärt worden wären – also ohne Chance, sich dagegen wehren zu können.
Erst jüngst wurde sogar ein Fall bekannt, in dem aufgrund „substanzloser“ Beschuldigungen seitens des Inlandsgeheimdienstes („Bundesamt für Verfassungsschutz“) zwei Menschen ins Gefängnis gesteckt werden sollten. Zum Glück hat das zuständige Landgericht Rostock in diesem Fall klare Worte für das rechtswidrige Vorgehen gefunden.
Was bewirkt eine ständig und allgemein drohende Beobachtung und biometrische Erfassung von Menschen im öffentlichen Raum bei diesen? Welche nicht bewusst feststellbaren Verhaltensänderungen und damit verbundenen effektiven Freiheitseinschränkungen gehen mit solch einer neuen Videoüberwachungstechnik einher?
Diese Fragen werden im aktuellen Diskurs nicht behandelt und den Überwachungsbefürwortern, Polizeien und Geheimdiensten scheinen diese auch nicht wirklich zu interessieren. Oder gibt es etwa ein entsprechendes sozialwissenschaftliches und vor allem politisch unabhängiges Evaluationsvorhaben neben den derzeit laufenden Pilotprojekten für z.B. Gesichtserkennung und BodyCam-Einsätze?
Klar ist, dass Menschen, die sich konkret oder diffus überwacht fühlen – ob nun zurecht oder nicht, ist dabei ganz egal – ihr Verhalten ändern, in aller Regel konformistischer und dafür weniger freiheitlich handeln und leben. Überwachung als Gift für eine Gesellschaft, die für eine gute und menschliche Fortentwicklung ihrer selbst auf menschliche Individualität und frei entwickelte Persönlichkeiten dringend angewiesen ist!
Zum Schluß noch ein Wort zu dem seitens der Überwachungsbefürworter häufig gebrachten Vergleich des Pilotprojekts mit dem KFZ-Kennzeichen-Scanning.
Exemplarisch ein Auszug aus einem Interview des stellvertretenden Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Herrn Sebastian Fiedler mit dem Deutschlandfunk vom 25.8.2017:
„[H]ier geht es nur darum, dass diejenigen, die vorher als hoch gefährlich nach einem rechtsstaatlichen Verfahren in eine entsprechende Datenbank gebracht worden sind, dass die erkannt werden, wenn sie durch eine entsprechende Kamera laufen. Das ist ein vergleichsweises Hilfsmittel wie das der automatischen Kennzeichen-Lesesysteme, bei dem entsprechende Kennzeichen, die wir vorher in ein System gegeben haben, automatisch erkannt werden können. Das ist die tatsächliche Debatte. Es geht hier weder um eine massenhafte Überwachung Unbeteiligter, die tauchen überhaupt gar nicht auf bei einem solchen System, oder um einen Generalverdacht oder Ähnliches, sondern um spezifische Personen, die wir erkennen wollen, die wir wieder fassen wollen.“
Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einem ausführlichen Urteil vom 11. März 2008 bereits mit dem KFZ-Kennzeichen-Scanning befasst (1 BvR 2074/05 – 1 BvR 1254/07). Herrn Fiedler und allen anderen Überwachungsbefürwortern ist die Lektüre dieses Urteils anzuraten, selbst wenn dieses damals längst nicht in allen Punkten so ausgefallen ist, wie es sich Überwachungskritiker und -skeptiker gerne gewünscht hätten.
Hier ein paar Auszüge aus dem Urteil (Randnummern 63, 65-67, 77-79, 89, 92):
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trägt Gefährdungen und Verletzungen der Persönlichkeit Rechnung, die sich für den Einzelnen, insbesondere unter den Bedingungen moderner Datenverarbeitung, aus informationsbezogenen Maßnahmen ergeben. Dieses Recht flankiert und erweitert den grundrechtlichen Schutz von Verhaltensfreiheit und Privatheit; es lässt ihn schon auf der Stufe der Persönlichkeitsgefährdung beginnen.
(…)
Auch dann, wenn die Erfassung eines größeren Datenbestandes letztlich nur Mittel zum Zweck für eine weitere Verkleinerung der Treffermenge ist, kann bereits in der Informationserhebung ein Eingriff liegen, soweit sie die Informationen für die Behörden verfügbar macht und die Basis für einen nachfolgenden Abgleich mit Suchkriterien bildet. Maßgeblich ist, ob sich bei einer Gesamtbetrachtung mit Blick auf den durch den Überwachungs- und Verwendungszweck bestimmten Zusammenhang das behördliche Interesse an den betroffenen Daten bereits derart verdichtet hat, dass ein Betroffensein in einer einen Grundrechtseingriff auslösenden Qualität zu bejahen ist.
Der Schutzumfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beschränkt sich nicht auf Informationen, die bereits ihrer Art nach sensibel sind und schon deshalb grundrechtlich geschützt werden. Auch der Umgang mit personenbezogenen Daten, die für sich genommen nur geringen Informationsgehalt haben, kann, je nach seinem Ziel und den bestehenden Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten, grundrechtserhebliche Auswirkungen auf die Privatheit und Verhaltensfreiheit des Betroffenen haben. Insofern gibt es unter den Bedingungen der elektronischen Datenverarbeitung kein schlechthin, also ungeachtet des Verwendungskontextes, belangloses personenbezogenes Datum mehr.
Auch entfällt der grundrechtliche Schutz nicht schon deshalb, weil die betroffene Information öffentlich zugänglich ist – wie es für Kraftfahrzeugkennzeichen, die der Identifizierung dienen, sogar vorgeschrieben ist. Auch wenn der Einzelne sich in die Öffentlichkeit begibt, schützt das Recht der informationellen Selbstbestimmung dessen Interesse, dass die damit verbundenen personenbezogenen Informationen nicht im Zuge automatisierter Informationserhebung zur Speicherung mit der Möglichkeit der Weiterverwertung erfasst werden.
(…)
Von maßgebender Bedeutung für das Gewicht des Grundrechtseingriffs ist zum einen, welche Persönlichkeitsrelevanz die Informationen aufweisen, die von der informationsbezogenen Maßnahme erfasst werden. Mit in den Blick zu nehmen ist auch die Persönlichkeitsrelevanz der Informationen, die durch eine weitergehende Verarbeitung und Verknüpfung der erfassten Informationen gewonnen werden sollen.
Ferner ist bedeutsam, ob der Betroffene einen ihm zurechenbaren Anlass, etwa durch eine Rechtsverletzung, für die Erhebung geschaffen hat oder ob sie anlasslos erfolgt und damit praktisch jeden treffen kann. Informationserhebungen gegenüber Personen, die den Eingriff durch ihr Verhalten nicht veranlasst haben, sind grundsätzlich von höherer Eingriffsintensität als anlassbezogene. Werden Personen, die keinen Erhebungsanlass gegeben haben, in großer Zahl in den Wirkungsbereich einer Maßnahme einbezogen, können von ihr auch allgemeine Einschüchterungseffekte ausgehen, die zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung von Grundrechten führen können. Die Unbefangenheit des Verhaltens wird insbesondere gefährdet, wenn die Streubreite von Ermittlungsmaßnahmen dazu beiträgt, dass Risiken des Missbrauchs und ein Gefühl des Überwachtwerdens entstehen. Das aber ist gerade bei der seriellen Erfassung von Informationen in großer Zahl der Fall.
Die Heimlichkeit einer in Grundrechte eingreifenden staatlichen Ermittlungsmaßnahme führt zur Erhöhung des Gewichts der gesetzgeberischen Freiheitsbeeinträchtigung. Dem Betroffenen wird durch die Heimlichkeit des Eingriffs vorheriger Rechtsschutz faktisch verwehrt und nachträglicher Rechtsschutz kann zumindest erschwert werden. Er kann also nicht selbst darauf hinwirken, die Eingriffsintensität durch erfolgreichen Rechtsschutz zu verringern, etwa für die Zukunft zu beseitigen. Die Heimlichkeit staatlicher Informationseingriffe betrifft darüber hinaus die Gesellschaft insgesamt.
(…)
Die Intensität der individuellen Grundrechtsbeschränkung kann ferner durch die Möglichkeit einer heimlichen Vornahme der Maßnahme erhöht sein. Zwar wird die für die Erfassung eingesetzte Kamera in vielen Fällen für den Vorbeifahrenden wahrnehmbar sein, es sei denn, die Geräte würden verdeckt aufgestellt oder das Fahrzeug würde aus der Rückansicht erfasst. Ob aber ein Trefferfall registriert wird und die Daten gespeichert sowie für weitere Zwecke genutzt werden, ist für den Betroffenen selbst dann nicht erkennbar, wenn er die Kamera gesehen hat. Mangels Kenntnis hat er keinen Anlass, Rechtsschutz zu suchen. Anders liegt es, wenn er über die Erhebung durch Anschlussmaßnahmen erfährt, etwa weil das Fahrzeug umgehend durch die Polizei angehalten wird.
(…)
Insbesondere durch längerfristige oder weiträumig vorgenommene Kennzeichenerfassungen, die nicht notwendig im Sinne von § 184 Abs. 5 LVwG „flächendeckend“ sein müssen, sind Eingriffe von erheblichem Gewicht möglich, wenn etwa gezielt aus dem Aufenthaltsort auf das weitere Verhalten des Betroffenen geschlossen werden soll oder wenn mehrere Treffermeldungen heimlich gesammelt und zu einem Bewegungsprofil zusammengestellt werden. Werden detaillierte Informationen über das Bewegungsverhalten einer Person gewonnen und mit weiteren Informationen verknüpft, aus denen sich etwa erschließen lässt, zu welchem Zweck eine Person sich über einen längeren Zeitraum zu den jeweiligen Orten begibt, mit wem sie sich getroffen und was sie dort unternommen hat, so kann sich die Intensität des Eingriffs sogar derjenigen der Erstellung eines Persönlichkeitsbilds annähern.