Am gestrigen Montagmorgen, dem 23.1.2017 kam es in Hannover im derzeit „angesagtesten Stadtviertel“ Linden-Nord aus Anlaß der geplanten Zwangsräumung einer Mietwohnung zu Protesten.
Zu dem Anlaß für den Protest ist die Lektüre des Aufrufs vom hannoverschen „netzwerks WOHNRAUM FÜR ALLE!“ lesenswert. Über den Verlauf der Proteste und dem Nicht-Stattfinden der Zwangsräumung unter massivem Polizeiaufgebot berichtet ebenfalls das Netzwerk wie auch die konservative „Hannoversche Allgemeine Zeitung“.
Kurz zusammengefasst: Die Polizei hat bereits zwei Stunden vor dem angekündigten Protest mit einem Aufgebot von rund 80 Polizisten oder Polizistinnen oder mehr (genaue Angaben will die Polizei dazu nicht machen) den kompletten Straßenzug vor der Wohnung abgeriegelt und mit vielen Einsatzkräften das Stadtviertel aufwendig patroulliert. Der angekündigte Protest fand statt und erweiterte sich durch eine Spontanversammlung im klassischen Sinne des Brokdorf-Beschlusses, wurde seitens der Polizei jedoch in Teilen fragwürdig bis rechtswidrig reglementiert. Die Zwangsräumung konnte aus formalen Gründen nicht stattfinden, der Mieter wurde also nicht auf die (an diesem Tage sehr kalte) Straße gesetzt.
Wir haben die Proteste begleitet und mit vielen Bildern dokumentiert. In diesem Blogbeitrag nehmen wir eine versammlungsrechtliche Betrachtung und Bewertung der Proteste und des polizeilichen Handelns in diesem Zusammenhang vor:
Die Ankündigung zu einem „Protest-Frühstück“ fand mittels Plakatierung im öffentlichen Raum statt, zudem veröffentlichte das Netzwerk auf seinen Internetseiten das Angebot, sich ab 10 Uhr zu einem gemeinsamen Frühstück versammeln, um gegen die für 10:30 Uhr vorgesehene Zwangsräumung zu protestieren.
Bereits gegen 8 Uhr trafen rund 15 Polizeifahrzeuge mit schätzungsweise 80 Polizeibeamten und -beamtinnen in der Straße der zu räumenden Wohnung ein und sperrten den Straßenteil weiträumig ab. Durchgelassen wurden nur „Anwohner und sonstige Berechtigte“ (O-Ton Polizeisprecher vor Ort). Weitere Polizeifahrzeuge fuhren im gesamten Stadtviertel intensiv Streife.
Gegen ca. 9:15 Uhr trafen die ersten Protestierenden ein und sammelten sich an einer Straßenecke nahe der Polizeiabsperrung.
Unter fadenscheinigen Begründungen sprach die Polizei ein Versammlungsverbot für diese Stelle aus und positionierte dort zahlreiche Polizeibeamte. Nach einiger Zeit und einigen Aufforderungen der Polizei, beugten sich die meisten der inzwischen ca. 30 anwesenden Protestierenden dem Verbot und zogen sich auf die gegenüberliegende Straßenseite zurück. Einer Diskussion über die Rechtsgrundlage dieser Anweisung entzogen sich die Polizeibeamten aller Ränge gänzlich. In wenigen Einzelfällen kam es zu leichten Handgreiflichkeiten seitens der Polizei.
Die Polizei begründete das Versammlungsortverbot zweierlei:
1.) Es verbliebe zu wenig Platz für Passanten. Die Nähe zu den Straßenbahnschienen wäre zu gefährlich für unbeteiligte Fußgänger und Radfahrer.
2.) Der Platz vor dem Lokal „Notre Dame“ sei von diesem angemietet worden und der Inhaber der Gastronomie wolle nicht, dass vor den Schaufenstern demonstriert werde.
Während die Begründung zu 2 rechtlich eindeutig unhaltbar ist, zeigte die Polizei bei der Begründung zu 1 keinerlei Kooperationsbereitschaft. So wäre es praktisch kein Problem gewesen, wenn sich die Protestierenden anders formiert und somit genügend Platz für Passanten bereitgestellt hätten. Dieses war der anwesenden Polizei aber offenbar unlieb und die Verlegung des Protestes auf die andere Straßenseite, von wo die Versammlung weniger effektiv auf die Öffentlichkeit auf ihre Meinung aufmerksam machen konnte, wo sie von der Polizei aber besser „unter Kontrolle“ gehalten werden konnte, war die behördenfreundlichere „Lösung“ des Problems der Demonstration.
Erstaunlich und unverständlich war die Aussage des leitenden Polizeibeamten Herrn R., wonach es sich bei dem Protest um eine Spontanversammlung handeln würde. Mag man den Protestierenden Zuneigung entgegenbringen oder auch nicht, eine Spontanversammlung im Sinne des Brokdorf-Beschlusses war dieses nicht. Es wäre erfreulich, wenn die Polizei Hannover dagegen bei einer anderen Gelegenheit im April 2016 zu ebendieser Einsicht gelangt wäre und damals nicht zu Unrecht die Versammlungsfreiheit eingeschränkt hätte.
Die nun auf die andere Straßenseite verlegte Versammlung wurde zuallermeist in unzulässigem Maß von der Polizei behindert. So stellten sich zeitweise mehrere Polizeibeamte vor ein Transparent mit der Aufschrift „Zwangsräumung verhindern! Soziale Verdrängung stoppen!“, behinderten die Meinungskundgebung damit erheblich und entfernten sich auf kritische Nachfrage nur kurz, um weniger später dann wiederzukommen und sich erneut vor das Transparent zu stellen.
Kurze Zeit später glich dann die gesamte Versammlung mehr einem Polizeikessel denn einer Versammlung – ebenfalls eindeutig unzulässig. Die Begründung, wonach dieses „zum eigenen Schutz der Versammlungsteilnehmer“ geschehe, „damit diese nicht vor die Straßenbahn fallen und sich verletzen“ (O-Ton Polizei-Pressesprecher vor Ort) ist lächerlich und unhaltbar. Bei den vielen vorherigen Vorbeifahrten der Stadtbahnlinie 10 hatte sich kein Anhaltspunkt für die Befürchtung ergeben, dass Demonstrationsteilnehmer der Stadtbahn gefährlich nahe gekommen sind, dass die Stadtbahn behindert worden wäre oder dass sich Demonstranten in suizidaler Absicht vor die Bahn hätten werfen wollen. Die Situation war zumindest nicht anders oder gefährlicher, als es jeden Tag auf der Limmerstraße üblich ist.
Nach Beendigung des Zwangsräumungsversuches applaudierten die ca. 40-60 Versammlungsteilnehmer. Spontan entschlossen sich wenige Einzelne der Protestierenden um ca. 11 Uhr, mit einem der Transparente die Fußgängerzone der Limmerstraße entlang zu gehen. Die Stimmung war entspannt und vermutlich wären nicht besonders viele weitere Leute, den Transparentträgern gefolgt, zumindest wäre es mutmasslicherweise nur zu einem kurzen Gang bis zum Ende der Fußgängerzone gekommen, hätte die Polizei in diesem Moment so unsouverän reagiert und zahlreiche Einsatzkräfte den Protestierenden im Laufschritt hinterhergeschickt und die Limmerstraße an späterer Stelle blockiert. So aber eskalierte die Situation und die Polizei konnte gar nicht mehr anders, als die Spontanversammlung auf einer Gehwegseite massiv einzukesseln.
Ein Polizeibeamter forderte – zunächst selber von der neuen Situation ein wenig überrascht – die Eingekesselten dazu auf, „einen Versammlungsleiter oder einen Ansprechpartner für die Polizei“ zu benennen, um mit der Polizei Kooperationsgespräche für den weiteren Verlauf der Spontanversammlung führen zu können. Er drohte der Versammlung: „Wenn sie keinen Ansprechpartner benennen, werden sich weitere Maßnahmen anschließen.“ Ein anderer Polizeibeamter wenig später ebenfalls via Lautsprecherwagen: „Sollten sie keinen Ansprechpartner benennen, so werde ich per beschränkender Verfügung ihnen den weiteren Weg vorgeben, den sie dann auch einhalten müssen.“
Auf Nachfrage unsererseits, ob man die Spontanversammlung nicht selber entscheiden lassen wolle, auf welche Art sie demonstrieren wolle, teilte uns dieser Polizei-Einsatzleiter im Gespräch vor Ort mit: „Nein, ich möchte das abgesprochen haben: Was haben sie vor? Wo möchten sie lang gehen? Wie lange soll das ganze gehen? Wenn das nicht geklärt wird, dann gibt die Polizei das vor: Dann sagen wir Versammlung ja, in der Zeit von … bis …, entweder stationär, wenn fortbewegend, in welchem Bereich. Und wer dagegen verstößt, wird eine Ordnungswidrigkeit begehen und das ganze wird zur Anzeige gebracht.“
Das bewerten wir wie folgt:
- Es ist unzulässig und unzumutbar, einer Sponantversammlung die Benennung eines Versammlungsleiters abzuverlangen. Dieses räumte der Polizeisprecher dann auf Nachfrage ein und machte durch seine weiteren Erläuterungen deutlich, dass er – anders als zum Teil sonst in Hannover üblich – versammlungsrechtlich gut geschult ist und die Bedingungen und Umstände von/bei Spontanversammlungen zu benennen wusste. Insofern sollte auch sein Hinweis auf „oder einen Ansprechpartner“ zu verstehen gewesen sein, wobei jedoch auch noch fragwürdig ist, wie diese Begrifflichkeit seitens der Demoteilnehmer aufgefasst worden ist. Die berechtigte oder unberechtigte Sorge vor der Übernahme von versammlungsrechtlichen Pflichten und Zwängen dürften bei den Versammlungsteilnehmern überwogen haben und wurden seitens der Polizei nicht ausgeräumt, vielleicht auch gar nicht erkannt.
- Es ist weiterhin einer Spontanversammlung rechtlich unzulässig, dass sie sich innerlich so ordnet, um in dieser spontanen Bewegung einen gemeinsamen Ansprechpartner auszuwählen. Dieses Prozedere unterbricht die Spontaneität der kollektiven Meinungsäußérung in unzumutbaren Maße.
- Schließlich ist es ebenfalls genau so unzulässig, dass von einer Spontanversammlung die Verabredung eines Plans oder Versammlungsablaufs zu erwarten sei, solange von der Versammlung selber keine Gefährdung für andere Menschen ausgeht – und das war hier offensichtlich nicht der Fall.
Ein Wort noch zur Verwendung des Begriffs „Polizeikessel“ in diesem Bericht:
Auf Nachfrage durch uns (außerhalb des Kessels) teilten uns die Polizisten mit, dass die darin Eingeschlossenen „selbstverständlich“ aus der Umzingelung heraustreten könnten. Tatsache ist, dass dieses nicht an die Betroffenen kommuniziert wurde und der Eindruck, den die Polizeibeamten erzeugten, nicht mit dieser Haltung zusammenpassen. Ein Polizist meinte lakonisch dazu: „Es ist halt noch niemand von drinnen an uns mit dem Wunsch herangetreten, aus dem Kessel herausgehen zu wollen.“ o_O
Zurück zum chronologischen Ablauf:
Nachdem sich ein anwesender Rechtsanwalt zur Vermittlung zwischen Demonstranten und Polizei eingesetzt hatte, ging der Demozug „polizeilich gut bewacht“ weiter in Richtung Küchengarten, um dann aber nur wenig später an anderer Stelle wieder in einer Einkesselung der Demonstranten durch die Polizisten zu münden, weil die Demonstrierenden ihr eigenes Geh- oder auch Lauftempo wünschten und sich darin nicht von der Polizei bevormunden lassen wollten. Bei diesem zweiten Polizeikessel führten außenstehende Polizisten zum Teil lose begleitende Demonstranten oder Passanten mit und ohne Gewaltanwendung dem Kessel zu. Einige Polizisten schubsten oder rempelten die Versammlungsteilnehmer unnötigerweise und ließen die angeheizte Stimmung hektischer werden.
In einer Art Wanderkessel ging es dann irgendwann weiter in Richtung Küchengartenplatz, der bei den vorherigenigen Verhandlungen des ersten Kessels als Wendepunkt der Demoroute vereinbart worden war.
Nachdem die verbliebenden Demonstrationsteilnehmer diesen erreicht und sofort wieder kehrtgemacht hatten kam es noch zu einigen Schubsereien der Polizei, weil die Versammlung darauf aus war, auch den wartenden Autos ihre Transparente und Meinung kundzutun, die Polizisten allerdings der Ansicht waren, dass eine Versammlung eine Fußgängerampelquerung in ähnlich gleich schnellem Tempo zu überqueren habe wie ein normaler Fußgänger. Auch an dieser Stelle des Ablaufs wurde dem Selbstbestimmungsrecht der Demonstrierenden keine Achtung geschenkt.
Der Rückweg der sich im Umfang immer weiter dezimierenden Versammlung (was kaum verwunderlich ist) verlief dann ebenfalls in einer versammlungsrecht-unwürdigen und sicherlich unzulässigen Form eines Polizei-Wanderkessels relativ reibungslos.
Fazit:
Man kann zusammenfassen, dass die Polizei in diesem einen konkreten Fall unprofessionell bis versammlungsrechtswidrig mit einer echten Spontanversammlung umgegangen ist.
Die Begründung, die die Polizeibeamten vor Ort anführten, um per Gewaltmonopol Zwang auf eine friedliche und völlig harmlose Meinungskundgebung auszuüben, nämlich die Sorge um die Gesundheit der Versammlungsteilnehmer (!) und die freie Fahrt für die Stadtbahnen und Busse, diese Begründung ist nicht nur unsinning und rechtlich unhaltbar, die Polizei hat sie selber ad absurdum geführt, weil „dank“ der Polizeiaktion mit den vielen Polizeifahrzeugen auf der Limmerstraße der öffentliche Personennahverkehr viel stärker beeinträchtigt und gestört worden ist, als das ohne den Polizeieinsatz sicherlich der Fall gewesen wäre.
Man konnte zuweilen den bizarren Eindruck gewinnen, als meinte die an diesem Tag dünnhäutig agierende Polizei in einer freien, spontanen Meinungskundgebung von rund 20 bis 30 Menschen die Keimzelle einer gewaltsamen Revolution entdecken zu können.