[Ein Gastbeitrag eines Menschen aus der Polizei.]
Es war mal wieder so weit: Der Winter zeigte sich von der eher extremeren Seite, es wurde („bitter“) kalt und zwar gleich so sehr, dass die Wasserflächen von Seen und Tümpeln gefroren. Schon sind sie da, die Schlagzeilen und Warnungen vor dem Betreten der Eisflächen. Selbstverständlich verbunden mit den allerschönsten Schreckensszenarien, die dem Einbrechen ins Eis folgen können. Schon Wilhelm Busch hat sich in seiner Geschichte „Der Eispeter“ der damit offenbar verbundenen Urängste in Wort und Bild eindrucksvoll angenommen. Alle Warnungen schlägt er aus, der Eispeter. Mit bloßer Unvernunft schnallt er sich die Schlittschuhe unter, um Spaß auf dem Eis zu haben. Prompt und wie im Grunde gar nicht anders zu erwarten, bricht er ein und kann von den unerschrockenen, sich selbst den enormen Gefahren der Natur aussetzenden Helfern nur noch als Eiszapfen geborgen werden. Schreckliches Leid bringt er mit seinem Hedonismus über die Familie, denn nach dem Auftauen am heimischen Ofen bleibt nichts übrig vom Eispeter als ein dampfender Brei, der mit der Suppenkelle aufgenommen, in einen Topf gefüllt gut eingemacht zur Mahnung und Warnung nur noch im Vorratsschrank beim Käse und bei Gurken zu verwahren ist. Praktisch in direkter Linie vom Eispeter setzt dann auch die hannoversche Neue Presse an und titelt am Montag danach für die Region Hannover im Brustton der Entrüstung „Trotz Verbot: Alle heiß auf Eis“. Im Text ist von der lieben (und in diesem Fall vergeblichen) Mühe der Polizei zu lesen, „die Menschen vom Eis zu holen“.
Wie steht es eigentlich heutzutage um unseren medial inszenierten Gefahrenfokus im Verhältnis zur Realität am Ende des Tages, könnte man doch nun ex post einmal fragen. Und dann könnte man natürlich exemplarisch auch fragen, woher die Polizei die Auffassung nimmt, auf der Grundlage medialer Panikmache eine Art Selbstermächtigung zur selektiven Gefahrenabwehr zu haben – denn mögliche Gefahren von Freizeitbetätigungen sind nun nicht nur auf dem Eis bekannt, sondern ganz im Gegenteil auch ohne die Einmischung und ein Zutun der Polizei ebenso gegeben wie vorstellbar. Klar: Die Behörden warnten einmal mehr, die Eisflächen seien nicht tragfähig und „mit dreizehn Zentimetern zeigte sich das Eis auf dem Maschsee noch weit entfernt von einer behördlichen Freigabe“. Das kann einer Behörde Grund genug für Gefahrenhinweise sein, um möglicherweise massenhaft auftretender Unvernunft und in deren Folge ebenso massenhaft auftretenden Einbrüchen ins Eis mit einer dann zu besorgenden Überforderung der Rettungsdienste – ja am Ende am Beispiel vom Eispeter der massenhaften Verflüssigung von Eingefrorenen zu Brei von vornherein wirksam entgegenzutreten. Aber ein generelles „Verbot“ (den Maschsee mal ausgenommen) eine öffentliche Wasserfläche zu betreten, so sie denn zugefroren ist, gibt es gar nicht. Kann ein abstraktes Gefahrenkonstrukt also Grund genug dafür sein, dass die Polizei ihren Machtapparat aufrödelt, mit Lautsprecherdurchsagen um Gewässer dödelt und Weisungen erteilt, die Eisflächen unverzüglich zu verlassen? Am Ende gibt es offenbar nur deswegen keine durchgreifend problemlösenden Platzverweise (also konkrete weitreichende Eingriffe der Polizei in Grundrechte), weil angesichts der Menge an Menschen in frischer Luft und auf dem Eis deren Durchsetzung wohl nicht gelingen konnte.
Im allgegenwärtigen Gefahrenrausch werden die Grenzen zwischen abstrakter Gefahrenabwehr auf der einen Seite und unmittelbaren Eingriffen der Polizei in Grund- und Freiheitsrechte zur Abwehr vermeintlich konkreter Gefahren auf der anderen zunehmend außer Kraft gesetzt. Insoweit durften wir im Winterwunderland dieses Wochenendes einmal mehr erleben, wie Gefahrenprognosen im Einklang mit medial aufgeblasenen Horrorszenarien mit den gegebenen Realitäten am Ende des Tages gar nichts zu tun haben. An sich nicht so problematisch, würde die Polizei nicht zunehmend diese Schieflage in ihrem Sinne für vermeintlich unabweisbaren Handlungsbedarf reklamieren und die Politik dem entsprechend immer mehr und weitergehende Befugnisse, zusätzliches Personal, Aufrüstung und Bewaffnung der Polizei fordern und durchsetzen. Insoweit war das Winterwunderland dieses Wochenendes exemplarisch für den Stand der Dinge. Die Mechanismen der Detektion von Gefahren haben sich in nur wenigen Jahren grundlegend gewandelt. Der Bedeutungszuwachs des Sicherheitsgedankens ist enorm. Die „Gefahr“ selbst ist praktisch viral gegangen und aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Und doch trotzten am vergangenen Wochenende Tausende der vermeintlichen Lebensgefahr und gingen überall in der Region aufs Eis. Tatsächlich wird von massenhaften Einbrüchen ins Eis in der Region Hanover am vergangenen Wochenende nichts berichtet. Nicht ein einziger Eispeter ist offenbar konkret zu beklagen. Die Prognose möglicher Gefahren und die Realität fallen also zum wiederholten male diametral auseinander. Wo Menschen erste vorsichtige Schritte aufs Eis wagen und tatsächlich erleben, dass es trägt, verhallen offenbar die Warnungen trotz aller möglichen und gleichwohl denkbaren Gefahren schnell. Jedenfalls ist hier erneut bei der Betrachtung ex post gar kein Schaden im prognostizierten Rahmen eingetreten. Eigentlich Grund genug nicht nur zur formalen Rückschau, sondern vor allem ein Grund, die gegebene Realität in künftige Bewertungen der Gefahr maßgeblich einzubeziehen. Offensichtlich ist auch im Sinne wirksamer Gefahrenabwehr der Bedarf für ein allzeit polizeilich betreutes Leben nicht in dem Ausmaß gegeben und erforderlich, wie sich das die Polizei gern in ihre Bücher schreibt. Eigentlich ein schönes Lehrstück in Sachen doppelter Buchführung und eine Steilvorlage für mehr Mißtrauen gegenüber dem unablässigen Gefahrenrausch in den wir ebenso unablässig politisch/polizeilich/medial versetzt werden. Die Wirkung im betreffenden Rauschzustand stellt sich nämlich tatsächlich nicht in immer mehr Geretteten, sondern in immer weniger Freiheiten ein.