Zeitzeichen, 15

victor-klemperer-cc-by-sa-bundesarchiv_bild_183-s90733-mod-freiheitsfooIn unserer Kategorie „Zeitzeichen“ rezitieren wir in unregelmäßigen Abständen und in ebenso unregelmäßigem Umfang Nachrichtenschnipsel oder Zitate, die wir als möglicherweise stellvertretende Beispiele für größere Entwicklungen und gesellschaftliche Symptome empfinden: als Zeitzeichen.

Wir behalten uns vor, dieses oder jenes kurz zu kommentieren oder zu bewerten, oder auch nicht. :)

 

Zur Halbwertzeit ethischer Entscheidung bzw. vom Fehlen eines moralischen Rückgrats. Aus einer DLF-Kurznachricht vom 12.6.2019: Deutschland und die Vereinigten Arabischen Emirate haben einen Ausbau ihrer Partnerschaft beschlossen. Bundeskanzlerin Merkel sagte nach Gesprächen in Berlin, dies schließe die Kooperation etwa bei Öl- und Erdgas ein ebenso wie bei Erneuerbare Energien. In einer gemeinsamen Erklärung wird zudem die enge Sicherheitszusammenarbeit hervorgehoben. Die Bundesregierung hatte seit dem Ausbruch des Jemen-Kriegs einen Stopp für Rüstungslieferungen an alle direkt beteiligten Länder verhängt – unter ihnen sind neben Saudi-Arabien die Vereinigten Arabischen Emirate.“

Für die Akten – aus einer DLF-Kurznachricht vom 13.6.2019: Die Europäische Union hat das gewaltsame Vorgehen der Polizei in Hongkong gegen Demonstranten kritisiert. Die Versammlungs- und Meinungsfreiheit müssten respektiert werden, erklärte eine Sprecherin in Brüssel. (…) Die Polizei hatte gestern versucht, Proteste und Blockaden öffentlicher Gebäude mit Gewalt aufzulösen und dabei Gummigeschosse, Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt. (…) Nach Behördenangaben mussten mindestens 79 Menschen in Krankenhäusern behandelt werden.“ Hallo EU – wir werden bei nächster passender Gelegenheit daran erinnern!

Der – vorsichtig formuliert – sehr selbstbewusste und in der Vergangenheit nicht unbedingt neutral auftretene Ex-Chef des Bundes-Inland-Geheimdienstes Maaßen in einem Interview mit dem DLF vom 15.6.2019: „Der Ansatz der Werte-Union ist: Wir stehen für bestimmte Positionen, und wir versuchen, die Wähler davon zu überzeugen, die Partei deshalb zu wählen. (…) Ich bin der festen Überzeugung, dass Franz Josef Strauß recht hatte mit der Überzeugung, rechts von der CDU und CSU darf es keine weitere Partei geben. Es war ein großer Fehler aus meiner Sicht, dass man rechts der CDU eine Partei hat aufkommen lassen, dass man Raum gegeben hat in diesem Bereich für das Neu-Entstehen einer Partei.“ Na, das ist ja mal eine besonders bestimmte Position …

NIVADIS down – aus einer heise-Nachricht vom 20.6.2019: „Das Computerprogramm „Nivadis“, mit dem Niedersachsens Polizei die Erfassung von Vorgängen wie Anzeigen dokumentiert, ist nach einem Update nur eingeschränkt funktionstüchtig. Das System ist am vergangenen Dienstag um 15:45 Uhr in einen Nur-Lese-Modus versetzt worden, erklärte ein Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums gegenüber heise online. Polizisten könnten bestehende Vorgänge noch einsehen, nicht aber bearbeiten oder neue Vorgänge anlegen. Die effektive Handlungsfähigkeit der Polizei sei durch den Ausfall nicht eingeschränkt.“ Prima! Dann belasst es doch bitte beim Read-Only-Betrieb!

Polizeigewalt auf französisch – aus einem „ZEIT-online“-Bericht vom 27.6.2019: „Seit die Gelbwesten protestieren, haben laut David Dufrenes von der Investigativredaktion Mediapart 24 Menschen ein Auge verloren und fünf Menschen eine Hand. Der Journalist hat seit Beginn der Proteste tage- und nächtelang jedes Zeugnis von Polizeigewalt gesammelt und überprüft.“

Dinosaurier an der Macht. Aus einer DLF-Kurznachricht vom 28.6.2019: Mehr Klimaschutz darf nach Ansicht von Bundeswirtschaftsminister Altmaier nicht zu größeren Belastungen für die Unternehmen führen. Durch hohe Strompreise hätten die Unternehmen bereits einen Wettbewerbsnachteil, sagte Altmaier bei einer Tagung der Stiftung Familienunternehmen in Berlin. Die Energiekosten dürften nicht weiter steigen.

Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) in einem HAZ-Beitrag vom 7.7.2019: „Ich kann es nur für Niedersachsen sagen: Unsere Sicherheitsbehörden sind außerordentlich aufmerksam, was die Entwicklung des Rechtsextremismus angeht. In der Gesellschaft allerdings haben wir uns wahrscheinlich nach dem Entsetzen über die Morde des NSU zu schnell wieder anderen Themen gewidmet.“ Ein reichlich schlanker Schuh, von „wir“ und „der Gesellschaft“ zu sprechen und dorthin die Ignoranz der rechten Tendenzen bei den staatlichen Stellen von Geheimdienste über Polizei und bis Bundeswehr auszublenden. Ein wenig mehr Selbstkritik wäre da wohl eher angebracht.

Dieser Mann hat nicht verstanden, worum es geht: „Der Präsident der Kultusministerkonferenz, Lorz, hat Sanktionen bei anhaltenden Schulstreiks der „Fridays for Future-Bewegung“ in Aussicht gestellt. Die Schülerinnen und Schüler hätten ihr Ziel erreicht, sagte Lorz im Gespräch mit der Wochenzeitung „Die Zeit“.“ Aus einer DLF-Kurznachricht vom 10.7.2019.

Aus einer DLF-Kurznachricht vom 30.7.2019: „Bundesinnenminister Seehofer hat sich als Konsequenz aus dem Tod eines achtjährigen Jungen am Hauptbahnhof in Frankfurt am Main für mehr Polizeipräsenz in deutschen Bahnhöfen ausgesprochen. Auch die Videoüberwachung müsse erweitert werden.“ Was ist denn das für ein Schwachsinn? Die richtigen Wort dazu findet die tagesschau.de-Kommentatorin Sabine Henkel vom WDR: „[Seehofer] betreibt (…) Aktionismus, will mehr Polizisten in Bahnhöfen einsetzen. Das mag vielleicht abschrecken, Sicherheit garantiert das aber nicht. Seehofer will außerdem mehr Videoüberwachung. Als würde man Männern die Tötungsabsichten an der Nasenspitze ansehen. Seehofer wirft also Nebelkerzen. Weiter noch: Er betreibt eindimensionale Politik. Er konzentriert sich auf die Gewalt, die von Zuwanderern ausgeht. Natürlich ist das zu verurteilen. Aber das ist die Gewalt von deutschen Extremisten auch. (…) Viel mehr nährt Seehofer diesen Hass auch noch. Er spricht von „intelligenten Grenzkontrollen“ und ergänzt, dass „erfahrene Grenzbeamte schon wissen, wen sie kontrollieren müssen“. Das ist nichts anderes als Racial Profiling. Diskriminierend.

Die evangelische „chrismon“ lässt in ihrer Ausgabe 8/2019 einen (vom Bundesverteidigungsministerium bezahlten!) „evangelischen Militärbischof“ propagandieren: „Kürzlich hat die Berliner SPD eine interessante politische Entscheidung getroffen: Jugendoffiziere der Bundeswehr sollen künftig nicht mehr in Schulen mit Jugendlichen über sicherheitspolitische Fragen, über die Bundeswehr und ihre Stellung in der demokratischen Gesellschaft sprechen. (…) Diese Entscheidung markiert einen traurigen Höhepunkt des sicherheitspolitischen Desinteresses.“ Was hat das denn mit „sicherheitspolitischem Desinteresse“ zu tun? Auch weiter blendet der Militärbischof Herr Rink wohl einen nicht unerheblichen Teil der Realität der Militärbesuche an Schulen aus: Was wollten die Vertreter der Streitkräfte in den Schulen? Nicht Rekruten werben, sondern zur politischen Bildung der Jugendlichen beitragen. Bezahlt der Bund dann gleichermaßen gut auch zivilgesellschaftliche Vertreter der Friedensbewegung, um in den Schulen zu referieren? Hmmm … Weiter einseitig und realitätsfern schreibt Herr Rink: Wer könnte besser von den ernormen Herausforderungen der Weltgemeinschaft berichten als Soldatinnen und Soldaten, die derzeit in 13 Auslandseinsätzen unterwegs sind! Sie könnten einen unmittelbaren Eindruck aus den Krisenregionen Afghanistan, Irak, Sudan und Mali vermitteln, zu denen zivile Zeitgenossen so gut wie keinen Zugang haben. Doch diese Chance wurde vertan.“ Vielleicht sollten man lieber „zivile Zeitgenossen“ der Grünhelme oder der SeaWatch, der Flüchtlingsräte oder am besten selber die Flüchtlinge in die Schulen einladen. Die können sicherlich einen viel „unmittelbareren Eindruck“ vermitteln als die gut in bunkerartig kasernierten und von der Lebensrealität der Menschen vor Ort abgeschotteten Bundeswehrsoldaten in aller Welt …

Hessische Polizisten missbrauchen ihren Zugang zu Polizeidatenbanken massiv – ein Golem-Bericht vom 2.8.2019: In Hessen nutzen Polizisten ihren dienstlichen Zugriff auf die Landespolizeidatenbank Polas (Polizei-Auskunfts-System) immer wieder privat. (…) Vor dem hessischen Innenausschuss berichtete der Landespolizeipräsident Udo Münch von einem Helene-Fischer-Konzert in Frankfurt. „Da ist Helene Fischer 83-mal in der Nacht abgefragt worden – es ist wohl relativ unwahrscheinlich, dass Frau Fischer dort 83-mal kontrolliert worden ist“, erklärt der Polizeipräsident. Doch das ist nur einer von vielen missbräuchlichen Abfragen des Polas, in dem zum Teil sensible Daten über Personen gespeichert werden: von der Meldeadresse bis hin zu personengebundenen Hinweisen (PHW) wie Drogenkonsum und psychischen Problemen. (…) Kontrolliert wird [] nur stichprobenartig. Bei jeder 200. Abfrage des Auskunftssystems müssen die Beamten den Grund für die Abfrage angeben – bei den anderen 199 nicht. (…) Trotz des . „Da ist Helene Fischer 83-mal in der Nacht abgefragt wordenStichprobencharakters der Maßnahme wurden laut Innenministerium allein seit Februar 9.000 Fälle an den Datenschutzbeauftragten übergeben. (…) Nimmt man für eine grobe Schätzung des missbräuchlichen Verhaltens der Polizisten an, dass bei den 199 weiteren Fällen eine ähnliche Missbrauchsquote herrscht, und rechnet man diese zudem auf ein Jahr hoch, ergibt sich daraus die Zahl von 3,6 Millionen möglichen Fällen von missbräuchlich abgefragten Daten allein durch die hessische Polizei. Die Zahl ist sicher mit Vorsicht zu genießen, da sie von der genauen Fallzahl abweichen kann – aber sie gibt einen Eindruck, wie Angehörige der Polizei mit anderer Leute Daten umgehen. Die hessische Polizei hat rund 18.000 Angestellte.“

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