Offener Brief an den Parteivorstand der SPD zur Vorratsdatenspeicherung

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Gestern wurde bekannt, dass CDU/CSU und SPD beabsichtigen, die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland wieder einzuführen.

Soweit nicht besonders überraschend.

Aber ebenfalls gestern meldete sich der SPD-Parteivorstand in einer E-Mail nach fast zwei Jahren Wartezeit auf einen Brief, der an diejenigen Politiker gerichtet worden war, die Anfang Dezember 2011 beim SPD-Bundesparteitag in Berlin mit zum Teil unrichtigen Argumenten in unaufrichtigen Debattenbeiträgen die Weichen für dieses Desaster gestellt hatten.

(Zum Inhalt des Briefes siehe die dazugehörige freiheitsfoo-Wikiseite.)

Trotz dieser langen Zeit geht der SPD-Parteivorstand mit auch nicht einem einzigen Wort auf die konkreten Vorwürfe ein.

Wir von freiheitsfoo haben den „Sozialdemokraten“ heute einen offenen Brief geschrieben:

 

Sehr geehrte Damen und Herren vom SPD-Parteivorstand,

 

am 6. Dezember 2011 haben einige „Spitzenpolitiker“ aus Ihren Reihen des Vorstands auf dem damaligen SPD-Bundesparteitag in Berlin dafür gesorgt, dass sich die SPD entgegen vieler warnenden Stimmen aus expertisen Kreisen und aus der Basis grundsätzlich für eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen haben.

Die dieses befürwortenden Debattenbeiträge, die die Vertreter dieser Linie damals in Ihren Wortbeiträgen angeführt haben (es handelt sich im Detail um Herrn Gabriel, Frau Lambrecht, Herrn Oppermann, Herrn Jäger, Herrn Reichenbach und Herrn Scholz), waren gespickt mit Halb- und Unwahrheiten. Darauf wurden alle diese Redner*innen in offenen Briefen vom 21. Dezember 2011 einzeln und im Detail belegt hingewiesen.

Wir von der Initiative freiheitsfoo finden es erstaunlich, dass Sie immerhin fast zwei Jahre benötigt haben, um auf diese Vorwürfe überhaupt zu reagieren. Von einem Eingehen auf die Sachargumente bzw. Vorwürfe kann allerdings keine Rede sein. Doch immerhin: Ihre Rückmeldung – um mehr handelt es sich substantiell nicht – sowie die aktuelle Entwicklung im Rahmen der Koalitionsverhandlungen in Berlin geben uns die Gelegenheit, auf ein paar Ihrer neuesten Äußerungen einzugehen.

Das möchten wir hiermit öffentlich tun.

 

So schreiben Sie unter anderem:

„Die Diskussion über die sogenannte (und begrifflich in die Irre führende) Vorratsdatenspeicherung wird sehr intensiv und auch sehr emotional geführt.“

Der Begriff der „sogenannten Vorratsdatenspeicherung“ führt in die Irre? Möchten Sie sich an der Neusprech-Initiative zur „Mindestspeicherfrist“ beteiligen oder können Sie uns erklären, was sie mit diesem Einschub ansonsten im Detail ausdrücken wollen?

Tatsächlich wird die Diskussion nicht ausschließlich emotional geführt. Und wenn dieses doch der Fall ist, dann könnte das unter anderem daran liegen, dass Sie – wie in diesem Zusammenhang eindrucksvoll bewiesen – offenbar nicht willens sind, eine Debatte anhand von Sachargumenten führen zu wollen. Wie anders lässt es sich erklären, dass es Ihnen als Parteivorstand auch nach 23 Monaten nicht möglich ist, inhaltlich auf die vorgebrachten sachlichen und gehaltvollen Vorwürfe einzugehen? Dass dieses Verhalten und jede Menge ähnliche Erfahrungen bei inzwischen sehr vielen Menschen die Geduld an sachlicher und konstruktiver Diskussionbereitschaft zu Neige gehen lässt und Politik- oder Systemverdrossenheit entsteht, müssen Sie sich mit anrechnen lassen. Diese Entwicklungen können zu dem führen, was sie doch eigentlich behaupten bekämpfen zu wollen: Frustration und Unzufriedenheit – und alles, was daraus erwachsen kann.

 

Weiter teilen Sie uns mit:

„Dabei sind sich grundsätzlich alle einig: Niemand will einen gläsernen Menschen, niemand will ernsthaft einen Präventionsstaat, der auf der Suche nach Gefahrenquellen auch Unbeteiligte überwacht und kontrolliert.“

Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass diese hehren Worte nichts anderes als Geschwätz sind, wenn Sie die Wiedereinführung irgendeiner anlasslosen und totalen Erfassung der Telekommunikations-Verbindungsdaten der ganzen Bevölkerung unseres Landes betreiben. Sie hebeln mit der Vorratsdatenspeicherung die demokratische Rechtsgrundlage der Unschuldsvermutung aus, Sie sorgen für die Akkumulation hochsensibler personenbezogener Daten, die in der heutigen Welt niemals ausreichend sicher vor Kopie oder Manipulation zu schützen sein werden, sie bescheren uns eine systemnormierte Überwachungsinfrastruktur und behaupten, sie wollten einem Präventionsstaat keinen Vorschub leisten?

 

Es heißt dann in Ihrem Schreiben:

„Wir alle erinnern uns an die Anschläge in den USA, auf die Nahverkehrszüge in Madrid, auf die U-Bahnen und Busse in London.“

Die von Ihnen genau an dieser Stelle eingebrachte „Wir“-Form ist äußerst aufschlußreich, weil Sie Ihren an dieser Stelle rhetorisch-manipulativen Betroffenheitsstil entlarvt. Alles andere erklärt sich unter Beachtung dieses Vorzeichens beim Weiterlesen von alleine.

 

Weiter in Ihrem Brief geht es mit:

„Wichtig ist aber, dass das Gericht in seiner Entscheidung die Erforderlichkeit des Ermittlungsinstruments, das mit der Umsetzung der Richtlinie errichtet werden soll, nicht in Frage stellt.“

Wichtig ist aber auch, dass das Gericht in seiner Randnummer 218 des Beschlusses vom 2. März 2010 gesagt hat:

„Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer vorsorglich anlasslosen Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten setzt vielmehr voraus, dass diese eine Ausnahme bleibt. Sie darf auch nicht im Zusammenspiel mit anderen vorhandenen Dateien zur Rekonstruierbarkeit praktisch aller Aktivitäten der Bürger führen. Maßgeblich für die Rechtfertigungsfähigkeit einer solchen Speicherung ist deshalb insbesondere, dass sie nicht direkt durch staatliche Stellen erfolgt, dass sie nicht auch die Kommunikationsinhalte erfasst und dass auch die Speicherung der von ihren Kunden aufgerufenen Internetseiten durch kommerzielle Diensteanbieter grundsätzlich untersagt ist. Die Einführung der Telekommunikationsverkehrsdatenspeicherung kann damit nicht als Vorbild für die Schaffung weiterer vorsorglich anlassloser Datensammlungen dienen, sondern zwingt den Gesetzgeber bei der Erwägung neuer Speicherungspflichten oder -berechtigungen in Blick auf die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen zu größerer Zurückhaltung. Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland (vgl. zum grundgesetzlichen Identitätsvorbehalt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u.a. -, juris, Rn. 240), für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss. Durch eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer.“

Diese Aussage ist nun mehr als dreieinhalb Jahre alt. Seitdem haben nicht nur SWIFT, PNR und die Installation zahlreicher staatlicher Verbunddatenbanken, E-Government-Systeme und „Abwehrzentralen“ Einzug gehalten, alleine die dank Herrn Snowdens erst wirklich gewordene Aufdeckung der umfänglichen Überwachungsmaßnahmen zahlreicher Geheimdienste hat zu einem gänzlich neuen allgemeinen Überwachungsdruck geführt, der diese Anmerkung des BVerfG in neuem Licht erscheinen lässt und alleine schon die Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung verbietet.

Was noch dazu kommt: Es besteht der Verdacht, dass auch in Deutschland tätige Provider mit Geheimdiensten zusammenarbeiten und/oder Systeme (Hard- oder Software) einsetzen, bei denen wir nicht sicher sein können, ob sie nicht eventuell den Anwendern unbekannte Hintertüren enthalten – ein noch weiterer Grund gegen die Vorratsdatenspeicherung.

 

Sie schreiben:

„Insbesondere die von der Richtlinie vorgeschriebene Mindestspeicherdauer von 6 Monaten greift unverhältnismäßig stark in das Grundrecht ein.“

Nein. Jede, auch nur so kurze oder nur in Teilen praktizierte Vorratsdatenspeicherung (wie auch die FDP-Forderung nach einer „nur“ IP-Vorratsdatenspeicherung) stellt einen die Gesellschaft zerbröselnden Paradigmenwechsel dar, der ohne irgendein vernünftiges Maß demokratiebildende und -bewahrende Grundrechte beschneidet.

 

Weiter heißt es in Ihrem Brief:

„Wir setzen uns auf europäischer Ebene für eine Revision der EU-Richtlinie ein.“

Davon, so unsere Erfahrungen, haben wir in Brüssel bislang nicht viel mitbekommen. Einige von uns von freiheitsfoo haben die Entwicklung in Brüssel seit Jahren mitverfolgt und sind in Kontakt mit Vertretern der Europäischen Kommission und mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments. Können Sie uns bitte an konkreten Vorgängen belegen, wo sich Vertreter Ihrer Partei in Brüssel explizit für eine ehrliche und unabhängige Evaluierung der Richtlinie eingesetzt haben wollen? Welche*r der SPD-EP-Abgeordneten hat sich nachweisbar ernsthaft für die Abschaffung der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie eingesetzt?

 

Und dann geht es in Ihrem Schreiben wie folgt weiter:

„Zudem müssen die Telekommunikationsunternehmen gesetzlich verpflichtet werden, mindestens den vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 02.03.2010 festgelegten Datenschutz-Standard zu gewährleisten und aktuellen Entwicklungen anzupassen.“

Wie schon oben angerissen: Sind Sie tatsächlich der Meinung, dass diese derart heiklen Daten in diesem Umfang und in dieser Konstellation der Datenerhebung und -verwahrung bei profitorientierten Providern wirklich sicher sein können? Wie hoch schätzen Sie das Restrisiko für unbemerkten oder unveröffentlichten Diebstahl, Missbrauch oder Veränderung dieser Daten ehrlicherweise ein und ein wie hohes Restrisiko dieser Art sind Sie bereit zu tragen?

 

Schließlich schreiben Sie noch:

„Um die Garantie der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten, ist ein qualifizierter Richtervorbehalt vorzusehen.“

Wir möchten Sie inständig darum bitten, sich in den Expertenkreisen innerhalb Ihrer Partei (zum Beispiel bei der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen, ASJ) danach zu erkundigen, wie es sich in der heutigen Justizpraxis mit so einem „qualifizierten Richtervorbehalt“ tatsächlich verhält. Das dürfte allerdings nur einer von mehreren Gründen gewesen sein, warum die bei der SPD in dieser AG versammelten Richter, Staatsanwälte und Rechtsexperten die Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung nachdrücklich ablehnen. Aber damit erzählen wir Ihnen sicher nichts neues. Etwas neues wäre es allerdings, wenn Sie diesen sachverständigen Stimmen in Ihrer Partei endlich Gehör und Gewicht schenken würden.

 

Wenn Sie uns auf die in unserem Brief aufgeworfenen Fragen antworten möchten, würden wir uns sehr darüber freuen. Noch mehr würden wir uns freuen, wenn Sie endlich auf die vor fast zwei Jahren aufgezählten Vorwürfe sachlich eingehen würden.

Auf jeden Fall versprechen wir Ihnen eine ungekürzte Veröffentlichung Ihrer Stellungnahme, genau so wie wir diesen Brief an Sie als offenen Brief verstehen und der daran interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.

 

Viele gute Grüße von den Menschen von freiheitsfoo.

www.freiheitsfoo.de

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